Dresscode und Männermode in digitalen Zeiten

Männer im Anzug. Bild: unsplash.com. Brett Jordan

200 Jahre lang kleidete Brooks Brothers in New York Banker und Politiker in Nadelstreifen. Corona und die Schliessung von  Geschäften hielt der Herrenausstatter nicht durch und meldete Insolvenz an. Es war aber nur der Auslöser – Standards des Dresscode spielen eine immer geringere Rolle, selbst in Hauptversammlungen wird casual getragen*. Die klassische standardisierte Bürokleidung verschwindet mehr und mehr aus der Öffentlichkeit.

Formelle Kleidung bedeutet nicht gleich Stil und Eleganz – der Anzug von der Stange galt nie als Ausdruck davon. Es geht darum, Regeln einzuhalten, professionelle Distanz hervorzuheben, manchmal auch Respekt einzufordern – der Mann im Anzug wird gesiezt. Lange Zeit und in vielen Branchen verbindlich, setzte sich der Anzug des Angestellten vom Blaumann des Arbeiters ab und verwuchs mit dem Habitus. Sicher spielt der Dresscode weiterhin eine Rolle, im Kundenkontakt der Rechts- und Finanzbranche, in der Politik. Manche Politiker greifen auf bestimmte Stile zurück, um Professionalität und Kompetenz zu inszenieren. In der Breite sind oft abgestufte Formen erkennbar. Der sichtbare Konsens bei Verwaltungen, Banken, Versicherungen unterscheidet sich kaum von dem ihrer Kunden.

Dresscode Normcore – Bild: unsplash.com. Annie Spratt

Die neuen dominierenden Branchen kannten nie den klassischen Dresscode, waren oft von einer Nerdkultur bestimmt. Mal heisst es, that the more time you spend dressing yourself every morning, the less time you spend changing the world, (so Marc Zuckerberg, wird auch Barrack Obama zugesprochen). Mag sein ….  Macht und Status verschwinden nicht mit der Krawatte. Schwarzer Rollpulli und blaue T- Shirts sind Beispiele von Normcore, dem Style der Unauffäligkeit, der Wirtschaftsführer so aussehen lässt, wie Leute aus dem Coworking Space. Bestimmt nicht unabsichtlich gestalten  CEOs  der grössten Tech- bzw. Social Media Unternehmen, wie Tim Cook oder Marc Zuckerberg, so ihren Auftritt.  Normcore ist nicht ironisch inszeniert, wie viele Hipster- Moden. Es soll bodenständig wirken, Zugehörigkeit ausdrücken, anstelle von Distinktion. Von einer bestimmten Präsenz in der Öffentlichkeit an, kann man davon ausgehen, dass Normcore o.ä. Teil der PR ist.

Farben helfen aufzufallen

Mode ist eine Kultur der öffentlichen Darstellung, die Bedeutungen und Narrative, gewollte und ungewollte, mit sich trägt. Im besten Falle bella figura. Der Fundus von Männermode ist viel enger gefasst als der von Frauen. Neben den auf Korrektheit getrimmten klassischen Formaten, beruht er, wenn nicht auf Freizeitkleidung, auf den Stilen der Pop- und Subkulturen der vergangenen Jahrzehnte und v.a. den Anleihen aus der Sportswear: Sneaker, Baseball- Cap, Hoodie etc. stammen von dort. Was vom Standard abweicht, wird oft als persönliches Markenzeichen wahrgenommen – oder gleich als solches inszeniert.
Frauen- und Männermode unterscheiden sich v.a.  in der Aufmerksamkeit, die ihnen entgegen gebracht wird. Kaum eine Frau, die nicht bedenkt, welche Wirkung, welche Reaktionen sie mit ihrer Kleidung hervorruft und wie sie sich selber darin fühlt. Kleiderwahl und ihre Abstimmung ist Teil des Alltagsmanagements. Männermode ist dem weniger ausgesetzt, oft ist Kleidung blosses Angezogensein, das keiner Überlegung folgt. Gerade Deutschland gilt als Land der Funktionskleidung: funktional, bequem, praktisch – eine Haltung, die kulturelle Dimensionen kleinhält, ein oft unbewusster Konformismus.
Fast alles, was einmal Rebellion und Provokation in Sub- und Gegenkulturen ausdrückte, ist heute Teil eines stilistischen Fundus  von Identitätsangeboten. Wohl fast alle verfügbaren kulturellen Codes, seien  es ehemals subkulturelle, seien es ethnische, wurden irgendwann von der Modeindustrie verwertet.  Statusrepräsentation verliert an Bedeutung, die  Darstellung von Identität und gefühlter Zugehörigkeit rückt in den Vordergrund.
Aktuell schränkt Corona und die Massnahmen dagegen Öffentlichkeit ein – mit Auswirkungen auf Handel, Konsum und den Rahmen von Selbstdarstellung. Ein Resilienztest.

Hemden als Bildfläche – der Genome Code

Nachhaltigkeit entspricht den Wertvorstellungen der neuen Mittelschichten. Die Modeindustrie steht ebenso wie Ernährungswirtschaft, oder Tourismus immer wieder in der Kritik.   Faire Mode setzt sich ab von der fastfashion, der Wegwerfmode. Sie steht ungefähr da, wo Bio- Lebensmittel vor 15, 20 Jahren standen: von einem Nischenmarkt zu einem Durchbruch in breitere Käuferschichten. Lange Zeit galt sie als Solidaritätsstil, mehr politisch korrekt als modisch. Mittlerweile sind eine ganze Reihe von Labels herangewachsen, die ebenso für einen bestimmte Stil, für bestimmte, oft innovative Materialien stehen.  Nachhaltig in den Materialien, minimalistisch im Stil.
Die Sueddeutsche feierte kürzlich das schwedische Label Asket als ebenso zeitlos wie nachhaltig. Sehr skandinavisch mit minimalistischen Basics. Hemden, Schals, Jeans, die eben nur nach Hemden, Schals und Jeans aussehen. Sicher ein  gelungenes, wohlüberlegtes Marketing, das für einen Trend – Full Transparency – der Produktions- und Lieferketten steht. Ein Prinzip, das sich auch bei nicht bei zertifizierten Labels findet. Zertifizierungen sind zudem mit Kosten verbunden, die viele kleinere Labels vermeiden.

New Heritage: Barbershop

Eine eigene Szene mit einer eigenen ökonomischen Infrastruktur incl. Zeitschriften und Verkaufsmessen ist etwa New Heritage. Nach eigener Beschreibung eine Bewegung, eine Hommage an Qualität, Handgemachtes und Zeitloses. Nicht nur Bekleidung und die Frisuren dazu, sondern ein ganzes Spektrum von Genusskultur zählt dazu: Design, Getränke wie Gin. Das Erscheinungsbild ist v.a. Vintage, viel Tweed und Cord, klassische Lederjacken, oft  passend zu Oldtimern und klassischen Motorrädern.  Einzelne Elemente dringen immer wieder in den breiteren Markt, insgesamt sind es eher kostspielige Styles – mit einer entsprechenden Klientel, ein Tribe Besserverdienender, die sich Jugendträume erfüllen.
Was sowohl für faire Mode, wie für  New Heritage gilt ist ein vergleichsweise enger Zusammenhalt von Marke, Produktion, Handel und Kundschaft über gemeinsam geteilte Werte und Lebensstile –  singulärer Konsum anstelle von Massenware. Das Thema Mode im Spannungsfeld von Kultur, Ästhetik, Identitäten, Wirtschaft und gesellschaftlichen Infrastrukturen bleibt spannend.

ein paar Empfehlungen: Monsieur Courbet, Köln: alltagstaugliche Männermode in bestens kuratierter Auswahl;  Fairfitters, Köln – faire Mode; Hemden: Blake Mill, Hemden als Bildfläche;  ADDeertz, Berlin, gleich um die Ecke vom St. Oberholz – wunderbare Stoffe –  slim fit; Wolf Blitz (Rotterdam), bunt bedruckt, mehr als Hawaii 

 

 



Soziologie zur Digitalisierung und das was folgt …

Der Zettelkasten – Legende Luhmann

Welche Rolle spielen soziologische Ansätze und Theorien, wie einflussreich sind sie ausserhalb eines wissenschaftlichen Kontextes, welche Deutungsmacht kommt ihnen zu? Spätestens mit Corona haben sich Diskussionen verschoben. Gesellschaftliche Interaktions- und wirtschaftliche Wertschöpfungsketten wurden unterbrochen. Die Zukunft erscheint nicht mehr allein als Fortsetzung der Gegenwart – und steht damit offener zur Debatte als vordem.  Digitalisierung hat neue Infrastrukturen geschaffen, schreitet weiter voran, ist aber nicht mehr allein vorrangiges Thema. Ein kleiner Überblick, der sich aus (meinen) Themen der letzen Jahre ergibt:

Systemtheorie nach Niklas Luhmann ist wohl eines der einflussreichsten und wirkungsmächtigsten Theoriegebäude überhaupt.  Sehr verkürzt: Funktionale Differenzierung der Gesellschaft in einzelne soziale Subsysteme (autopoietische Systeme). Moderne Gesellschaften sind  in operativ geschlossene Funktionssysteme differenziert,  die jeweils nach ganz eigenen Logiken funktionieren (Kühl, 2015).
Luhmann verstand Systemtheorie als Möglichkeit die Struktur sämtlicher Bereiche der Gesellschaft offen zu legen, ohne normativ zu sein: Recht, Liebe, Wissenschaft, Medien, Wirtschaft, Bildung, Religion etc. Es geht darum, wie sich in den komplexen Gesellschaften der Moderne Ordnungen erklären lassen.  Zur Legende wurde Luhmanns Werkzeug, der Zettelkasten, eine Art Zweitgedächtnis, in dem er Notizen so ablegte, dass die aufgezeichneten Gedanken neue Sinnzusammenhänge hervorbrachten.
Systemisches Management, systemische Beratung, systemisches Coaching –  im ausserwissenschaftlichen Umfeld sind Bezüge zur Systemtheorie immer wieder präsent. Soziologische Systemtheorie wird als Leittheorie von Prozessberatern bezeichnet, Begriffe wie Störung, Katastrophe (eines Systems) kamen in diesem Sinne in Umlauf. In einem sehr lesenswerten Text zeigt der Bielefelder Organisationssoziologe Stefan Kühl (2015) die unkontrollierte Ausdehnung, Popularisierung bis Trivialisierung der Systemtheorie – die oft zu einem Instrument der Kompetenzdarstellung gerät. Was  als systemisches Management, Beratung, Coaching angeboten wird, ist nur lose an die Systemtheorie  gekoppelt (Kühl, 2015).

In den Digitalisierungsdebatten der vergangenen Jahre stehen Dirk Baecker und Armin Nassehi mit den Veröffentlichungen 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt und Muster – \\\Theorie/// der digitalen Gesellschaft im Rahmen der Systemtheorie.
Baecker teilt die Geschichte in Epochen, von der tribalen Gesellschaft über die Antike und die Moderne zur nächsten Gesellschaft. Auslöser von Epochenwechseln ist jeweils eine Innovation von Verbreitungsmedien –  so begann die Antike mit der Schrift, die Moderne mit dem Buchdruck, die nächste Gesellschaft mit den digitalen Medien.  Innerhalb der Epochen werden die Spielräume der einzelnen Teilsysteme beschrieben. Merken sollte man sich den Sinnüberschuss, der jeweils mit neuen Medien/Techniken einhergeht. Die Lücke, die der Rechner lässt (im Titel) ist schliesslich das Mass an Gestaltbarkeit, das bleibt.
Armin Nassehi verfolgt einen funktionalistischen Ansatz, setzt weder Problem noch Lösung als gegeben voraus, stellt einige rhetorische Fragen an den Anfang: Für welches Problem ist Digitalisierung die Lösung? Dazu die,  warum Techniken sich nur dann durchsetzen können, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen. Digitalisierung sei die Lösung für ein Problem, das sich in modernen Gesellschaften seit jeher stellt: Wie geht die Gesellschaft, wie gehen Unternehmen, Staaten, Verwaltungen, Strafverfolgungsbehörden, aber auch wir selbst mit unsichtbaren Mustern um? Es finden sich viele erhellende Einzelheiten, ob man das Buch als allgemeingültige Theorie der digitalen Gesellschaft annimmt, muss man selber entscheiden.
Beide Bücher vermitteln, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, das Gefühl, eine unsichtbare Hand, eine Macht der strukturellen Muster ordne die Zeitläufe. Es geht oft mehr um eine gedachte, als um die reale Gesellschaft, in der wir leben.

Kultur der Digitalität (Felix Stalder) meint die von einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur geprägte Lebens- und Arbeitswelt. Digitalität ist das Muster, die Ordnung, die diese Prozesse angenommen haben. Sie ist keine einseitige Folge technischer Innovationen, die neuen Technologien trafen auf bereits laufende gesellschaftliche Transformationsprozesse. 

Mit Digitalisierung hat das Werk von Norbert Elias (1897-1990) überhaupt nichts zu tun – es geht um die langfristige Entwicklung von Gesellschaften, die Ausformung des Habitus, um Wandlungsprozesse – heute spricht man von Transformationen – der Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen: Soziogenese und Psychogenese. Neuerdings stösst man anderswo auch auf Technogenese, gemeint ist eine Co-Evolution von Technik und Gesellschaft. Es ist diese Ausrichtung auf die Evolution des Habitus verbunden mit der Struktur von Gesellschaft, die Elias’ Perspektive dauerhaft interessant macht. Stützte sich Elias u.a. auf Tischsitten und andere aufgezeichnete Verhaltensregeln, um solche Wandlungsprozesse zu beschreiben, sind es heute wohl die Popularkulturen, nicht nur Musik und Mode, genauso das Essen, Reisen, Konsumpräferenzen, Haltungen etc. an denen diese Wandlungsprozesse deutlich gemacht werden können.

Die aktuell wohl umfassendsten Gesellschaftsanalysen zu den letzten Dekaden stammen von Andreas Reckwitz, mit der ausdrücklichen Absicht für politische Überlegungen anschlussfähig zu sein (Die Zeit, 12. 08. 2020). Es geht nicht allein um Digitalisierung, sondern um ein Gesamtpanorama der Transformation von einer industriellen zu einer postindustriellen Ökonomie mit all seinen Ursachen und Folgen. Wie so viele soziologische Texte sind die von Reckwitz oft etwas sperrig zu lesen, aber anschlussfähig an andere Autoren. Eine Kernthese ist das Ende des einige Jahrzehnte währenden “Dynamisierungsliberalismus“. Nicht nur Digitalisierung (und jetzt Corona) hat die letzten Jahrzehnte geprägt, ebenso Globalisierung, eine Bildungsexpansion hat stattgefunden, Macht und Bedeutung stabilisierender Organisationen ist geschwunden und in diesen Prozessen gibt es Gewinner und Verlierer.

Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung – mit diesem Satz  leitet Hartmut Rosa Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung ein. Durch das ganze Buch zieht sich eine grundsätzliche Kulturkritik, die sich an ein gestörtes Weltverhältnis richtet, dabei steht der digitale Raum oft in einer besonderen Kritik. Auch der lange Zeit kaum gebrauchte Begriff Entfremdung ist als Verstummung von Weltbeziehungen bei Rosa ein Merkmal unserer Moderne. Wege zu einer besseren Welt werden als Resonanzachsen  beschrieben.
Begriff und Konzept der Resonanz selber sind plausibel und verständlich. Die Bedeutung eines Ja oder Nein von Resonanz, ihr Gewicht von simpler Aufmerksamkeit bis zum Auslöser von Neuem ist den meisten Menschen mehr und mehr bewusst, ganz besonders in den Digitalen Medien. Aber ganz so hat es der Autor wohl nicht gemeint.

Stefan Kühl: Die fast unvermeidliche Trivialisierung der Systemtheorie in der Praxis. Von der Gefahr des systemischen Ansatzes sich in Beliebigkeit zu verlieren (2015). David B. Clear: Zettelkasten — Wie ein Deutscher Gelehrter so unglaublich produktiv war (2020).  Vgl. Rezensionen auf diesem Blog:  Armin Nassehi: Muster – \\\Theorie/// der Digitalen Gesellschaft; Dirk Baecker: 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt; Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten & Das Ende der Illusionen . Interview in der Zeit, 12.08.20  Felix Stalder: Kultur der Digitalität; Hartmut Rosa: Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung.  Interview in der Badischen Zeitung 22.09.20



Singulärer- vs Massenkonsum/ Experience Economy

Aldi in der Markthalle Neun

In der Markthalle Neun in Berlin – Kreuzberg gibt es das passende Bild: Mittendrin im foodporn der Markthalle steht eine ALDI Filiale, eingekapselt im Container.  Markthalle Neun ist ein geradezu iconisches Projekt der neuen Esskultur – mit allem was dazugehört: CraftBeer, Vin Naturel, die Metzgerei Kumpel & Keule, Patisserie fine, Pizza & Focaccia, Ethno-Food aus Peru, Marokko, eine Maultaschenmanufaktur – kaum irgendwo passt der Spruch vom Essen als dem Neuen Pop besser als hier. Sicherlich deutlich teurer als beim Discounter, ein 1 1/2  Pfund Brotlaib zu 5 € ist kaum noch Grundnahrungsmittel. Verglichen mit echten Luxusmeilen bleiben die Preise aber moderat.
Wahrscheinlich überschneiden sich beide Kundenkreise viel mehr, als es zunächst erscheint – auch Hipster kaufen beim Discounter ein.
Sichtbar wird die Trennlinie zwischen zwei Konsummustern: Beim Discounter  preisoptimiert bis ins letzte Detail, von den Lieferketten bis zur Ablage im Regal. In die Markthalle geht man – insbesondere an den Streetfood– Abenden – wie in einen Club. Ein Konzept, das Handel und Gastronomie verbindet. Bei allen Lebensmitteln die grösstmögliche Auswahl – in der Saison zehn Sorten Kartoffeln oder Tomaten. Handwerklich produzierter Käse, Wein und Bier, Öl und Essig, Brot und Pasta in allen Varianten.

Singulärer Konsum?

Der Unterschied zwischen singulärem–  und Massenkonsum zeigt sich bei Lebensmitteln besonders deutlich. In der Fläche verschwinden die handwerklichen Bäckereien und Metzgereien, die noch vor ein, zwei Jahrzehnten zur Grundversorgung gehörten. Stattdessen breiten sich Backstationen und Grillfleisch aus Massentierhaltung in der Kühltheke  aus – industriell vorgefertigt bzw. im industriellen Maßstab erzeugt.  Handwerklich erzeugte Lebens- und Genussmittel bedeuten (meist) höhere Qualität. Wissen darüber ist oft Angelpunkt von Kommunikation, nicht zuletzt bildeten sich um Kaffee, Schokolade, Craftbeer frühe online- Communities.

Begrifflichkeiten zu Singularitäten stammen von Andreas Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten –  die Ausführungen im Buch sind anschlussfähig an Themen und Diskussionen, die zu Konsum und Marketing einer  Experience Economy  geführt werden.
Die spätmoderne Ökonomie ist mehr und mehr an singulären Dingen, Diensten und Ereignissen ausgerichtet, und die Güter, die sie produziert, sind zunehmend solche, die nicht mehr rein funktional, sondern auch oder allein kulturell konnotiert sind und affektive Anziehungskraft ausüben. (Reckwitz, 2017, S. 7)

Was für den Lebensmittelmarkt gilt, findet man ebenso in anderen Märkten. Massengüter werden über Baumärkte, Textilketten, Möbelhäuser etc. – online und offline  verkauft – alle diese Märkte sind hochkonzentriert mit nur wenigen Akteuren.  Traditionelle Fachgeschäfte in den Innenstädten und Kaufhäuser verschwinden hingegen immer mehr.
Singularisierter Konsum bedeutet kulturell valorisierten Konsum. Dahinter findet sich der Wunsch nach Authentizität, sicherlich ein Bedarf an Distinktion, im weiteren spielen Kriterien der Nachhaltigkeit eine wachsende Rolle. Das bedeutet u.a. die Nachvollziehbarkeit von Produktions- und Lieferketten, z.B. in der Textilproduktion vom Anbau der Baumwolle über alle Verarbeitungsschritte von Garnen und Stoffen zu Labeling und Verkauf.
Kulturell valorisierter Konsum kann Formen von Vergemeinschaftung bedeuten, flüssige Vergemeinschaftungen = Tribes, die auf gemeinsamer Ästhetik bzw. Überschneidungen im Lebensstil beruhen. Als Fans begehrter bis bewunderter Güter (das gelang Apple lange Zeit),  oder in einer Form, in der Erzeuger, Handel und Konsumenten so sehr miteinander vernetzt sind, dass sie sich als Gemeinschaft bzw. Community verstehen.

Infrastrukturen des Besonderen

Massenproduktion standardisierter Produkte entspricht der Technologie der industriellen Moderne.  Je grösser die Produktion, desto niedriger die Stückkosten. Wachstum und Wohlstand beruhten lange Zeit darauf, die  gesamte Gesellschaft mit diesen Gütern auszustatten.
Die digitalen Technologien der Spätmoderne bringen ganz neue Möglichkeiten der Produktion und der  Bereitstellung von Dienstleistungen mit sich. Reckwitz schreibt von „Infrastrukturen des Besonderen“, gemeint sind die Möglichkeiten Einzigartigkeit sichtbar zu machen und sie automatisiert zu fabrizieren (2017; S. 73).
Datengetriebene Geschäftsmodelle beruhen auf diesen Möglichkeiten automatisierter Personalisierung. Und ganz sicher ist die Möglichkeit, Güter und Dienstleistungen personalisiert in Serien bereitzustellen, eine der entscheidenden Grundlagen digitaler Ökonomie. KI braucht dafür die Daten, möglichst viele.
Zumindest weitgehend, überschneidet sich dies mit dem Ansatz der Experience Economy bzw. Erlebnisökonomie, in der es im Wettbewerb um Aufmerksamkeit vorrangig darum geht, Erfahrungen zu inszenieren, reibungslose Erlebnisse zu vermitteln.  Kunden sollen in den entscheidenden Mikro-Momenten datengesteuert mit relevanten, personalisierten Inhalten angesprochen werden (vgl. WuV 13.05.20).
Experience Economy hat einen Beigeschmack – den eines tendenziell übergriffigen Marketing. So heisst es gleich zu Beginn des Standardwerks  if you get customers to spend more time with your business then they will spend more money on your offerings. Ein Satz wie Work is theatre and every business a stage – mag wohl oft genug zutreffen,  eine solche Haltung widerspricht sich aber mit Erwartungen an Authentizität.
Salopp gesagt eine Trigger- Ökonomie, in der Unternehmen sich als Vermittler von Erlebnissen einrichten. Das kann oft gelingen, etwa bei Sportartikelherstellern, im Tourismus. Allerdings wollen wohl die meisten Menschen ihre Erlebnisse und Erfahrungen selber machen – sie wollen zuverlässige, gute und authentische Produkte, aber nicht in einem Erlebnispark mit begehbaren Marketingkonzepten leben. Wer selber kocht, will gute Lebensmittel und Küchenwerkzeuge – aber wohl keine Vermittlung von Convenience Produkten.

Online und Offline ist keine Trennlinie zwischen den Konsummustern – es werden alle auf beiden Wegen vermarktet. Dass Erlebnisse entscheidend sind, keine Frage. Auch Wochenmärkte mit vielfältigen Angeboten sind urbane Attraktionen. Ursprungsmuster stammen von der sog. Creative Economy:   „Für die Güter der creative economy gilt, dass sich das klassische ökonomische Dreieck von Produzent, Produkt und Konsument nun in jene Trias von Autor, Werk und Rezipient/Publikum verwandelt hat, wie man sie aus dem Feld der Künste kennt” (Reckwitz., 117).

P.S.: Das Bild in der Markthalle entstand im Herbst 2019 – damals stand ein Pächterwechsel zu dm- Markt in der Diskussion  

vgl.: Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Oktober 2017, 480 S. ISBN: 978-3-518-58706-5. Interviews in: Die Zeit, 4.10. 2017 u. FAZ am Sonntag, 22.10.2017  + Rezension —- Experience Economy: Ohne Daten geht es nicht.  WuV 13,.05.20  — Pine, J. & Gilmore, J. The Experience Economy, Competing for Customer Time, Attention, and Money  Neuauflage 12/ 2019



Neuausrichtung der Gesellschaft nach Corona?

Ausblick in eine neue Realität. Bild: kallejipp, photocase.de

Bei einer (nicht- repräsentativen) adhoc- Umfrage der FES* meinten 2/3 der Teilnehmer, dass die Corona-Krise langfristig positive Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben haben wird. Soll man das überraschend finden? – Oder einfach als Hinweis darauf, dass die Veränderungsdynamik im Laufe der Corona- Krise Gestaltungsmöglichkeiten  anstösst und verbreitert? Braucht es Krisen, um über die Richtung neu zu verhandeln?   Buzzwords sind zunächst Neue Realität bzw. Neues Normal, Post- Corona Gesellschaft. Genauso passen programmatische Konzepte wie Neues Wirtschaftswunder oder Zukunft Für Alle in diese Perspektiven.

Andreas Reckwitz, Soziologe, knüpft in einem Gespräch innerhalb der FES- Reihe Rausgeblickt: Perspektiven für eine Welt nach Corona unter dem ambitionierten Titel Die Neuerfindung von Staat und Gesellschaft durch Corona an die abschliessende These seines – vor Corona erschienenen – Buches  Das Ende der Illusionen an: Eine bereits seit längerem erkennbare Abkehr vom Paradigma eines apertistischen (d.h. sich öffnenden) Liberalismus mit den zwei wirkungsmächtigen Ausformungen, der wirtschaftlichen Öffnung der Märkte und der kulturellen Öffnung der Gesellschaft.
Kennzeichnend war damals die generelle Deregulierung, Dynamisierung und Öffnung zuvor fixierter gesellschaftlicher Strukturen (Reckwitz, 262). Beispielhaft für die linksliberalen Strömungen finden sich u.a. in der Identitätspolitik. Effekte beider Strömungen zeigen sich in heterogenen Gesellschaften, die nicht mehr in Blöcken bzw. Klassen, sondern in eher diffusen Milieus, gegliedert sind. Nach einer Epoche, die von der Öffnung von Wirtschafts- und Lebensformen gekennzeichnet war, stellt sich nun die Frage nach den verbindenden gemeinsamen Grundregeln.
Die Corona- Krise wird als Einschnitt erlebt, der Wandel mit dem Ereignis verbunden.

Home Office as usual

Oft machen sich Diskussionen am Home Office fest, einem Begriff den es in der Ursprungssprache Englisch gar nicht gibt. Das Bild des in die 3- Zimmer Wohnung auslagerten Büros – Schreibtisch, Laptop, Monitor – ist wohl eines der Icons der Coronazeit. Ortsunabhängiges, dezentrales Arbeiten bzw. Remote Work sind weiter gefasst und langfristig passender.
In einer vom eco- Verband veröffentlichten Befragung gaben mehr als ein Drittel der Befragten (37,8 %) an, im Home Office und durch den Einsatz digitaler Tools effizienter zu sein als im klassischen Berufsalltag mit Büro und Kollegen. „Die gesammelten Erfahrungen im Neuen Normal zeigen jetzt ganz eindeutig, dass Remote Working sowohl für die Arbeitnehmer- wie die Arbeitgeberseite klare Vorteile mit sich bringt“.
Dahinter steht sicherlich die Erfahrung, eine Ausnahmesituation gemeistert zu haben, und die Bestätigung, dass mittlerweile der Anschluss ans Netz ausschlaggebend ist – die Kommunikationstechnik dazu steht fast überall zur Verfügung.

Home Office im Termindruck

Wer das Leben im Büro als Kontrollhölle erlebt hat, wird jede Befreiung von Anwesenheitszwängen begrüssen.  Aber auch die Kritik an der Verbreitung des Home Office formiert sich (vgl. Knüwer).  Alle Argumente bis zur Ergonomie der Stühle werden hervorgeholt – als ob Konzern- Infrastrukturen auf Klappstühle am Küchentisch verlagert werden. Entscheidend in dieser Kritik ist eher die Aufweichung der Zentralität von Organisationen – und oft auch der Identifikation mit ihnen. Was sich abzeichnet, ist ein erlebter kultureller Wandel in dem die Firmensitze als physische Orte, in denen sich die Hierarchien spiegeln, nicht mehr das Zentrum der Arbeitswelt sind.
Das sagt nichts gegen die Trennung von Arbeit und Privatleben, die Möglichkeiten informeller Kommunikation mit Kollegen. Ob diese Vorteile überall gegeben sind, ist eine andere Frage. Ein Unternehmen muss seine Mitarbeiter überzeugen, um Loyalität zu sichern.  Letztlich werden mit der Verbreitung von Remote Work, bzw. hybriden Arbeitsumgebungen Souverainitätsgewinne erlebt.

Home Office – light & bright

Freelancer sind oft Innovationstreiber oder auch das Plankton der Digitalen Transformation meint Thomas Sattelberger. In dem bemerkenswerten Artikel Ein neues Wirtschaftswunder schreibt er: „Das ist weit mehr als Homeoffice und die damit verbundene individuelle Souveränität für abhängig Beschäftigte. Es bedeutet balancierte Freiheits- und Schutzrechte für Freelancer und die wachsende Crowdwork. Und es hat mit Agilität und moderner Sozialpartnerschaft zu tun. Sowie mit (im)materieller Mitarbeiterbeteiligung.Wirtschaftswunder 2.0 wurde als Narrativ aufgegriffen, initiativ mit einer  Wirtschaftswundertour  von Birgit Eschbach, die sechs Wochen lang durch deutsche Provinzen zu Akteuren der lokalen Wirtschaft führte.

War das Modell der Solo- Selbständigen lange eher eine Randerscheinung, konnten gerade in den Digitalisierungsschüben Freelancer/Solopreneure Wissens- und Kompetenzvorsprünge technischer, kultureller, sozialer Art aufbauen und weiterentwickeln. Von der Krise sind sie oft besonders hart getroffen. Zum einen in Branchen, die seit fast sechs Monaten stillgelegt sind, zum anderen haben zahlreiche Unternehmen Aufträge an Dritte komplett storniert.  Johannes Ceh, Social Entrepreneur, hält “die Corona Unterstützung für Solo-Selbstständige für PR Stunt und Farce: Der Öffentlichkeit wurde vermittelt: Solo-Selbstständigen wird umfassend geholfen. Das ist schlichtweg falsch”.

Home Office im Neubezug

Es gibt die Suche nach neu auszuhandelnden, kulturellen Grundwerten für einen gesellschaftlichen Konsens in einem Neuen Normal, nach Aktivierung von Potentialen und sie kommen  aus breiteren politischen Spektren.   Dazu kommt der Bedarf an einer Grundversorgung der Infrastruktur für Bildung, Gesundheitssorge, Mobilität, öffentlicher Sicherheit etc.- eine Struktur von Verlässlichkeit. Dass diese vom Markt geliefert wird, wird kaum erwartet. Spätmoderne Gesellschaften umfassen eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensformen, nicht nur von Migranten.    Vergemeinschaftung verläuft nur noch selten über die traditionellen Blöcke bzw. Milieus. Oft findet sie mehr in den Mustern von #Consozialität – Übereinstimmung einzelner Merkmale und  Interessen – statt. Was an soziokulturellen Milieus (z.B. Sinus) beschrieben wird, ist oft eine Zusammenfassung von aussen, es sind weniger in sich geschlossene Milieus.

vgl. auch die Übersicht zu den Post- Corona Szenarien im Blog

Andreas Reckwitz:  Die Neuerfindung von Staat und Gesellschaft durch Corona. Aufzeichnung FES, 12.08.2020. Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019. 304 S.  Thomas Sattelberger: Ein neues Wirtschaftswunder – Gastkommentar im Handelsblatt, 25.05.20 ; Birgit Eschbach: Wirtschaftswundertour 2020;  Gunnar Sohn:  Recht auf Homeoffice – ein Schlupfloch im Bürokäfig der Gehorsamkeit.  Diskussion im Nexttalk 17.08.20. Johannes Ceh: In: Facebook- Gruppe CORONA: Was wir jetzt tun müssen (OurJobToBeDone). Eco Umfrage: Arbeit in Pandemiezeiten wird digitaler – Fast 75 Prozent der Beschäftigten spürt positive Effekte. 25.08.20; Bilder aus dem Home Office: Johannes Mirus (Bonn Digital), Birgit Eschbach (Rheintöchter), Gunnar Sohn (Sohn & Sohn), Klaus Janowitz;  * FES= Friedrich- Ebert- Stiftumg 



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