König von Deutschland – Blaupausen für Zukünfte

 König von Deutschland war ein Popsong  des späten Rio Reiser (✝1996) und wahrscheinlich sein einziger, der zum Gassenhauer wurde.
#KönigvonDeutschland- ist hier titelgebendes Motto bzw. Rahmenerzählung einer Sammlung von insges. 18 Gesprächen, geführt zwischen 2017 und 2020, die zuerst als Podcast, dann als Buch erschienen ist.  Drei Fragen waren jedem Gespräch vorangestellt: Was bewegt Dich? Welche Zukunft siehst Du? und Was würdest Du tun, wenn Du König von Deutschland wärst? Die gesprochene Sprache des Podcast wurde transkribiert,  die Gespräche lesen sich ganz anders als mehrfach redigierte Texte, Momente sind weit stärker eingefangen. Vor einigen Wochen gab es dazu bereits einen Online- Themenabend incl. Exkursen zur Science- Fiction. Die Herausgeber Gunnar Sohn, Live- Streamer, und Lutz Becker, HS Fresenius, beide Ökonomen, haben  mir ein Exemplar zur Rezension zugeschickt, hier ist sie nun.

Einige der Gesprächspartner sind mir persönlich bekannt, andere dem Namen nach,  und es sind einige prominente Politiker, wie Marina Weisband und Uwe  Schneidewind dabei, dazu auch der Science- Fiction Spezialist Hans Esselborn. Utopien sind hier nicht freischwebende Weltentwürfe, sie bleiben pragmatisch auf einem Boden und dienen als Blaupause eines positiven Zustands in der Zukunft (14). Themen, die im Rahmen der Transformationsdiskurse diskutiert werden, kommen mehrfach zur Sprache,  so Mobilitätswende, Ressourcenbewirtschaftung, ökologische Erneuerung; insgesamt  geht es aber vorrangig um die Rolle der Ökonomie als einer Gestaltungswissenschaft für einen demokratischen Kapitalismus.
Immer wieder wird die Perspektive von Ökonomen, die mit der in der Mainstream- Ökonomie vorherrschenden Kennzahlen- Orientierung hadern, deutlich. Gleich im ersten Gespräch mit Reinhard Pfriem (vgl. Rez.) “Neue Ökonomie mit mehr demokratischer Beteiligung” geht es um die Öffnung der Ökonomie zu einer Möglichkeitswissenschaft, die Wege  dahin öffnet, wie denn eine Gesellschaft und eine Wirtschaft der Zukunft aussehen könnten (27). In Es fehlen die Utopien mit dem Ökonomen Frank Witt fliessen Thomas Pikettys  Kapital und Ideologie, an anderen Stellen immer wieder Joseph Schumpeter in die Diskussion ein, auch die Freiburger Thesen der FDP von 1971.  Weltverbesserungskompetenz und Demokratie 4.0 (199) sind autretende Schlagwörter.  Science Fiction wird nach Zukunftserzählungen abgeklopft.
Gegenpole, das was man nicht, bzw nicht mehr will, sind  Überwachungskapitalismus und Big Nudging, das chinesische Scoring- Modell, das heute dominierende Finanzwirtschaftssystem, die Durchsetzung des sog. Neoliberalismus,  die Stories vom anarchischen Silicon Valley (239), die oft als  freche Hacker- Kultur inszeniert werden, die monokausalen Erklärungsmodelle und Fallstudien der BWL (241).  Sind Utopien die Brücke zu Innovationen? Wahrscheinlich, als vorausgedachte Entwicklung und Veränderung. Ich mag selber das Wort Innovationen nicht mehr, zu oft ist damit reines Effizienzstreben verbunden.

Dem Klappentext der Rückseite nach richtet sich das Buch an Leser, die sich für Utopische Weltentwürfe  interessieren. Man kann es so sagen …  viel mehr aber geben die Gespräche einen Einstieg in Diskussionen, hin zu  – durchaus realistischen – Zukunftsvisionen eines demokratischen Kapitalismus (188). Ganz sicher auch für die Lehre – oder besser gesagt, in die Bildungsanteile, die einer Normierung des Denkens entgegenwirken, ob in Schule, Universität und Business Schools oder Weiterbildung. Die Gesprächsform macht die Themen zugänglicher, über 500- 1000 Seiten Piketty oder Schumpeter können immer noch folgen.  Ein wenig regionallastig sind die Beiträge: Wuppertal und das Bergische Land sind mehrfach der geographische Ausgangspunkt – liegt es nur an Herkunft und Verbundenheiten eines der Autoren (Lutz Becker)- oder doch an der längsten Industriegeschichte Deutschlands? Soweit – nicht jeder Beitrag eines Sammelbandes kann erwähnt werden, aber alle bieten sie einen Einstieg in eine spezifische Sicht.

Schliesst man dann den Bogen zurück zu Rio Reiser und den Scherben, war der #König von Deutschland der Song, der ihm von Fans als kommerziell vorgeworfen wurde – von den Scherben erwartete man Solidaritätsauftritte. Sie waren der Soundtrack zu Demos, Hausbesetzungen, von erkämpften Utopien und Freiräumen, gerne illegal. Ein Soundtrack mit einer Radikalität des Herzens und dem Stinkefinger gegenüber Staatsgewalt und Kapital – in der Zeit, als man noch nicht von Zivilgesellschaft sprach.  Heute gehören sie zum kulturellen Erbe.

Lutz Becker & Gunnar Sohn : Was würdest Du machen, wenn de “König von Deutschland” wärst? – Utopische Gespräche. Klingen Verlag, Solingen, 2021. 391 S.



Metaverse – die Rückkehr des Virtuellen

Als sich Facebook im letzten Herbst zu Meta umbennante  wurde  Metaverse zum Buzzword, zum Hype. Nicht erst seitdem ist  das Netz voll von Texten,  Podcasts, Live- Streams etc. zum Thema, einer Fülle von Meinungen und Erklärungen und natürlich werben Anlageberater für frühzeitige Anlagestrategien. Und oft ist dabei von NFTs (Non-Fungible Tokens) die Rede  – aber das ist bereits ein erweitertes Thema.
Als Topos, als Gemeinplatz ist das Metaverse seit  dem  Science-Fiction- Klassiker Snow Crash (Neal Stephenson, 1992) in der Welt. Im Roman ist es ein mit Datenbrillen zugängliches Paralleluniversum, an dem Menschen als Avatare ihrerselbst teilnehmen.  Nicht nur Snow Crash, auch weitere SF- Romane  – manche davon verfilmt – so Ready Player One, auch The Matrix sind Vorlage.  Games- und Games- Plattformen wie Fortnite, Minecraft, Sandbox und Roblox werden als Proto- Metaverses genannt.
Oft wird das Metaverse mit einzelnen Technologien verbunden, der Gedanke an Second Life (das immer noch existiert) kommt schnell. VR/ Virtual Reality kennen wir meist als Guides aus Museen oder Produktvorführungen – eine Art und Weise virtuelle Räume zu erleben. Wesentliches Kriterium des Metaverse ist ein miteinander verbundenes Netz virtueller 3D-Welten, das schließlich als Einstieg  zu den meisten Online-Erfahrungen dient – eine Welt, die vorerst in Science Fiction und Games entworfen wurde.

Als Definition kann die von Matthew Ball, dem vllt. einflussreichsten Autor und Essayisten zum Metaverse dienen: “The Metaverse is a massively scaled and interoperable network of real-time rendered 3D virtual worlds which can be experienced synchronously and persistently by an effectively unlimited number of users with an individual sense of presence, and with continuity of data, such as identity, history, entitlements, objects, communications, and payments.”

Das Metaverse ist Hype – aber vorerst eine Projektion von etwas, was es noch nicht gibt. Niemand hat ein Monopol darauf, auch wenn Facebook/ Meta es sich in den Namen geschrieben hat.  FB präsentiert sich selbst als Social Technology Unternehmen, dass es “Menschen ermöglicht, sich miteinander zu verbinden”.  Die Stellung hat es durch die Einnahme des sozialen Graphen erreicht, eine Landnahme des Sozialen im technischen Raum, ergänzt durch Zukäufe wie instagram und WhatsApp (vgl. Seemann, Die Macht der Plattformen). Eine Flucht nach vorn ins Metaverse, um die bröckelnde Dominanz im Social Web  abzufedern?
Das Internet hat bis heute eine ganze Reihe von Entwicklungsstufen durchlaufen. Antrieb ist zum einen die technische Verbesserung v.a. der Bandbreiten, zum anderen Nutzungsevolution und damit die Verbreitung in immer mehr Lebensbereichen. Die aktuelle Entwicklungsstufe, das von wenigen Giganten (GAFAM/ FAANGM) und etlichen anderen monopolisierenden Unternehmen (z.B. Booking, Airbnb, Spotify, Zalando, Uber) dominierte Internet der Plattformen hat sich als Infrastruktur weitgehend durchgesetzt, und es ist seit Jahren erstaunlich stabil. Die gesamte zeitgenössische Alltags- und Popularkultur, der Wandel von Moden und Konsummustern, die Herausbildung öffentlicher Meinung und v. m.  ist ohne diese Infrastruktur  kaum noch vorstellbar.
Metaverse wird  als eine zu erwartende nächste Entwicklungsstufe des Internet erwartet. Der Weg wird aber sicher länger dauern als noch innerhalb dieses Jahrzehnts.

What is the Metaverse? – Graphik von Thomas Riedel – öffnet sich nach Klick in voller Auflösung in neuem Fenster

Thomas Riedel, Technikjournalist aus Köln, hat  in der nebenstehenden Graphik die Entwicklungsstufen des Internet auf technischer Ebene dargestellt. Infrastrukturen, die jeweils bestimmte Erfahrungswelten ermöglichen. Zunächst das Prä-Internet der Stand-alone Geräte, die mit Kabeln und Austauschmedien verbunden wurden. Darüber  das Internet, wie wir es heute kennen: Eine Infrastruktur auf der Nutzer auf Websites, Plattformen, Dienste über Bildschirme zuerst stationär und später auch mobil zugreifen konnten.  Darüber steht das -noch projektierte – Metaverse mit der Erfahrung virtueller Realitäten, zwischen denen Nutzer nahtlos wechseln können. In den Diskussionen spricht man von Experiences/Erfahrungen – und es sollen möglichst lebensechte sein.
Metaverse wäre/wird eine mindestens genauso transformative Innovation, wie es das Internet seit den 90er Jahren in mehreren Entwicklungsstufen gewesen ist. Blickt man zurück, war das World Wide Web zunächst ebenso ein Cyberspace voll von Raum für Projektionen. Frühe Versuche, Modelle von Gated Communities durchzusetzen scheiterten, die anfangs dominierenden Portale verschwanden, das “freie” Netz setzte sich zunächst durch, bevor es von der Plattformökonomie  – mit Geschäfts- und Finanzierungsmodellen, die vordem nicht bekannt waren – “eingefangen” wurde. Seitdem sind die Wege im Netz gepflastert – paved, wie es im Internet- Speech heisst.

Global platforms are in the business of world building.  … They wish to create the entire environment within which we live.* World Building – nach fiktionalen Vorlagen –  bekommt im Falle Metaverse eine noch pointiertere Bedeutung für den Griff nach einem Raum ausgedehnter immersiver Erfahrungen: Physische und virtuelle Welten sollen mit einer voll funktionsfähigen Wirtschaft und der Möglichkeit der nahtlosen Übertragung von Inhalten zwischen verschiedenen Erfahrungsebenen verschmelzen.: the Metaverse will be a place in which proper empires are invested in and built, and where these richly capitalized businesses can fully own a customer, control APIs/data, unit economics, etc. (Matthew Ball, 2020). Fragt sich, wie weit das Modell der Abschöpfung von Verhaltensdaten trägt.
So stellt sich  auch die Frage nach Dezentralität. Eine von wenigen hegemonialen Unternehmen konstruierte virtuelle Realität wäre wahrscheinlich zentral designt und auf bestimmte Geschäftsmodelle angelegt  –  ein Boulevard von Showrooms wäre im Angebot,  Disney liess bereits die Modelle für Themenparks patentieren. Games, Showrooms und Theme Parks stehen vorerst im Vordergrund – bezahlte Attraktionen, Werbewelten und Spiele als Innovationstreiber. Und sicherlich werden pornographische Angebote die Möglichkeiten austesten. Kann so ein Common Meeting Ground**, in dem eine Gesellschaft sich ihrer selbst bewusst wird, entstehen?
Soziale  Konsequenzen treten dann hervor. Ein paralleles Universum entwickelt eine ganz eigene soziale Dynamik, deren Wirkung noch gar nicht abzuschätzen ist. Zu jeder sozialen Umgebung gehören Konflikte, je lebensechter die Experiences, so lebensechter auch die Konflikte.  Geht es  um Geld bzw Token, wird es damit verbundene Kriminalität geben, auch sexuelle Belästigung wird spürbarer als im Social Web. Wenn schon in den bestehenden Social Media – Formaten Pöbelei als Verhaltensmuster beklagt wird, wird die Zivilisierung digitaler Öffentlichkeit noch dringender.
Nebenbei: ganz sicher wird es Feldforschung geben, Studien zum Nutzungs- und Konsumverhalten …..   Metnographie klingt im Deutschen allerdings seltsam 😉 Und ebenso wird es bald Experten für PR und Marketing im Metaverse geben.
Man fühlt sich öfters an die Diskussionen der 90er bis frühen 00erJahre erinnert, als der jetzt zurückkehrende Begriff virtuell, oft symbolisiert durch das @ allgegenwärtig war. Die sich durchsetzenden Social Media empfand man später nicht mehr als virtuell.

Bleibt, das Metaverse an der Aussage messen, nach dem sich Techniken nur dann durchsetzen, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen? (A. Nassehi)  Treiber ist zunächst ein lange herangereifter Drang zur Umsetzung des nun technisch möglichen – Themen,  Vorlagen, die Narrative der Szenarios sind in einigen Communities (Games, SF, Tekk) seit langem virulent, der Drang eine neue Dimension zu entdecken (Explorer) – und die Grenzen zwischen virtueller und physischer Welt zu verwischen.  Teile der Wirtschaft – wie etwa FB, Disney, wahrscheinlich Pornographie,  wollen ihre Geschäftsmodelle in neuer Dimension umsetzen. Ein Potential für Bildungs- und Unterhaltungsanwendungen. Für das Gros der Nutzer zunächst eine Sensation, ein besonderes Erlebnis – für den  Alltagsgebrauch aber viel zu unbequem – verglichen mit dem immer- dabei SmartPhone.
Die Möglichkeiten des Internet hatten in seiner Frühzeit viele Utopien beflügelt – dazu zählte die Vision Wissen und Information für alle  frei zugänglich zu machen, die Vorstellung fluider Demokratie. Das Metaverse  weckt  zunächst spekulative Gedanken und Phantasien – darauf beruht die besondere Attraktivität. Meine eigenen ersten Gedanken waren Luzide Träume – das Erleben von Wunschwirklichkeiten – dann ganz praktische Dingen, wie das Erledigen von Terminen, die man allerdings oft schon heute über Videochats abhalten kann.

erscheint im Juli 2022

Soweit mein erster, noch ungeordneter Einstieg ins Thema Metavers – angestossen von Thomas Riedel und dem Podcast mit Dirk Songür – vielen Dank. Im Sommer erscheint das erste grössere Werk zum Metaverse von Matthew Ball. Man kann gespannt sein. Gedruckte Bücher sind immer noch ein führendes Medium,  in sich abgeschlossenes Wissen zu publizieren. Bis dahin sei auf die unten angegebenen Link verwiesen.

 

Thomas Riedel: Futures Lounge – Was ist das Metaverse?   Metaverse- Podcast & Newsletter; The Metaverse by the book   Matthew Ball: The Metaverse: What It Is, Where to Find it, and Who Will Build It –  Dirk Songuer: Fieldnotes from the Metaverse   Tony Parisi: The seven rules of the metaverse. A framework for the coming immersive reality. *James Muldoon – Platform Capitalism (12) 

** Common Meeting Ground: Jede Gesellschaft braucht einen „Common Meeting Ground“ gemeinschaftlich als wich-tig empfundener Themen, um darüber verhandeln und selbst bestimmen zu können, wasin ihr als relevant gilt und kollektiver Problemlösungen bedarf (Imhof, 2008).



Platform Socialism (Rez.)

Whoever controls the platforms controls the future. The simple proposal of this book is that should  be us (10). Us/Wir – ist gemeint als kollektive Selbstbestimmung. James Muldoon (Exeter, GB) entwirft Wege zu einer Demokratisierung der digitalen Infrastruktur, jenseits von  Big Tech oder Big State von der  lokalen bis hin  zur globalen Ebene.
Die ersten Kapitel sind eher eine Bestandsaufnahme des Status Quo und wie es dazu kam, in der zweiten Hälfte geht es um  die Ausformung von  Alternativen und die Vorstellung einer wünschenswerten digitalen Zukunft.

Der Titel Platform Socialism knüpft an Nick Srniceks Essayband Platform Capitalism (2016) an, der den Aufstieg der Plattformökonomie in  einen breiteren wirtschaftsgeschichtlichen Kontext gestellt hatte und das in kompakter Form vermittelte.  Die Transformationen zur Plattformökonomie sind Folge langfristiger Trends, Ergebnis eines intensiven Wettbewerbs von Unternehmen, die nach neuen Einnahmequellen suchen. Online-Aktivitäten konnten verfolgt und monetarisiert werden – ein Geschäftsmodell, das eingeführt wurde, bevor es als solches verstanden wurde (40). Weiterer Effekt ist die zunehmende Ökonomisierung gesellschaftlicher Beziehungen und Lebensbereiche.
Muldoon und Srnicek sind beide im selben Autonomy Think Tank  aktiv. Selbstbezeichnung: We develop projects, programs and proposals that support new forms of work and leisure, designing radical and pragmatic visions for the future –  an anderer Stelle: Our aim is to develop a policy agenda for this new era that moves beyond nostalgia and an outdated playbook of economic and social categories.

Auch zu Shoshana  ZuboffÜberwachungskapitalismus (2018) nimmt Muldoon Bezug, setzt sich aber deutlich von ihr ab. Zuboffs umfangreiche Kritik richtete sich v.a. gegen Google und Facebook und deren Geschäftsmodelle – freie digitale Dienste gegen die Sammlung und Verwertung von Nutzerdaten – die Abschöpfung des Verhaltensüberschusses. Gegenüber diesem Surveillance/ Überwachungs- Kapitalismus steht bei Zuboff ein advocacy- oriented Kapitalismus mit gegenseitigen Rechten und Pflichten als Gegenbild. Apple kommt dem am nächsten.
Letztlich richte sich Zuboffs Kritik allein auf werbefinanzierte Plattformen, was nach Muldoon zu der Illusion führe, es gäbe einen wünschenswerten Zustand, zu dem man zurückkehren könne.

Plattformunternehmen streben danach, Ecosysteme miteinander verbundener Dienste und Produkte zu errichten, die im Verbund Gewinn erwirtschaften:  The global platform wants to own the club, the stadium, the league and the franchise rights for advertisers (12).
Facebook (Monetising Community, 26ff) und  Airbnb (Community washing Big Tech, 43ff) – ist jeweils ein ganzes Kapitel gewidmet. Beide  werden als Meister des Community- Washing (analog zu Greenwashing) bezeichnet: sie pflegen Narrative des  Community- Building, vom Connecting the entire world zur Konstruktion von Zugehörigkeit – Belonging:  ‘It’s not enough to simply connect the world, we must also work to bring the world closer together (27). Airbnb präsentierte sich anfangs als eine Art Graswurzelbewegung von Micro- Entrepreneuren, längerfristig wirkt es invasiv in urbanen Umgebungen.
Der Text ist aktuell genug, dass Facebooks Metaverse Engagement zumindest Eingang findet. World Building (12) bekommt hier eine noch pointiertere Bedeutung für den Griff nach einem Raum ausgedehnter immersiver Erfahrungen. Physische und virtuelle Welten sollen mit einer voll funktionsfähigen Wirtschaft und der Möglichkeit der nahtlosen Übertragung von Inhalten zwischen verschiedenen Erfahrungen verschmelzen.: the Metaverse will be a place in which proper empires are invested in and built, and where these richly capitalized businesses can fully own a customer, control APIs/data, unit economics, etc.  (13)**

Take Back Control (über digitale Dienste und öffentliche Räume) – der britische Slogan zum Brexit – wäre ein anderer möglicher Titel des Buches.  Am Begriff Plattformsozialismus mögen sich manche stören, genau wie an Planwirtschaft, – zu sehr wurde Sozialismus immer wieder für weit auseinanderliegende Gesellschaftsentwürfe benutzt. In Platform Socialism geht es um ethischere, fairere Formen von Plattformen, um eine Idee und einen Prozess, generell ein Langzeit- Gegen- Hegemonielles ProjektEs geht um Alternativen jenseits privatwirtschaftlicher Oligarchien – BigTech –  und ausufernder staatlicher Bürokratien – BigState, generell jenseits von top-down. Muldoon greift einige fast vergessene Autoren der Zwischenkriegszeit, G.D.H Cole (Guild Socialism) und Otto Neurath auf (80ff), und überträgt ihre politischen und ökonomischen Modelle auf die Welt der digitalen Plattformen. Demokratische Plattformen sollen nach dem Subsidiaritätsprinzip funktionieren. Ein pluralistischer Ansatz auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene.
Sechs bedeutende Ziele werden genannt und beschrieben, es geht u.a. darum aktive Selbstverwaltung zu ermöglichen, um gleichere Verteilung des sozialen und ökonomischen Nutzens digitaler Technologien, Möglichkeiten und Vorteile der Technologien sollen weltweit zugänglich sein und emanzipatorische Prozesse gestützt werden. Die Ziele sind verwurzelt in Formen kommunaler Selbstverwaltung, wie in der Praxis von Bewegungen marginalisierter Bevölkerungsgruppen, in  Dekolonisationsprozessen. Dahinter steht die Überzeugung, dass gesellschaftlicher Wohlstand auch gesellschaftlich produziert wird. Im Kapitel Building Civic Platforms (101-118) geht Muldoon weiter ins Detail.

Geht es um Demokratisierung der Plattformen, taucht eine Frage mit Sicherheit auf:  Developing a Public Search Engine (124 ff). Eine solche ist unabdingbar für eines der zentralen Elemente aller mit dem Internet verbundenen Utopien – dem freien Zugang zum kollektiven Wissen der Menschheit. Wie soll eine öffentlich Suchmaschine geschaffen werden? Eine Software in öffentlichem Auftrag würde sich einreihen in den Marktanteil der Sonstigen, neben Ecosia oder DuckDuckGo. Googles hegemoniale Stellung steht weiterhin auf festem Boden, der  Marktanteil bei 94%. Diskutiert wird die Umwandlung in ein gemeinnütziges Unternehmen. Mehr im Kapitel Global Digital Services, 119-136.

Bisher ging es in Debatten zur Plattformökonomie oft um die Freiheit von etwas – davon, nicht überwacht zu werden (vgl. Zuboff), bei Muldoon geht es um das Recoding our Digital Future – die Gestaltung von Zukunft, in der digitale Plattformen weiterhin eine massgebliche Rolle spielen werden. Ein nachhaltiger Wandel  der Plattformökonomie ist nur mit einer fundamentalen Verschiebung der Machtbalance zwischen Eignern und Nutzern möglich.
Gefragt ist die Weiterentwicklung konkreter Utopien. Irgendwo bin ich auf den schönen Begriff des Ökonomischen Science Fiction  gestossen – der Aufbau von Digitaler Demokratie mit neuen Formen sozialen Eigentums. Es geht auch um Gegenpole zu mächtigen Kapitalinteressen und zu einem Begriff von libertär, der zu einer Vorstellung schrankenlosen Freiheit von Investoren verkommen ist. Platform Socialism – wie ich es verstanden habe – bedeutet hingegen eine kollektive Anstrengung zur Selbstbestimmung – dazu gehört die Vorstellung möglicher Zukünfte – to  imagine possible futures– die nicht von hegemonialen Strukturen bestimmt ist.
Das Buch ist übersichtlich und kompakt geschrieben (156 S.) Es ergänzt sich mit  Die Macht der Plattformen von Michael Seemann, in dem die Landnahme (bzw. Graphname) der Plattformen detailreich erklärt wird. Das Stichwort DAO – Decentralized autonomous organization –  kommt zwar nicht vor, Platform Socialism liefert aber das in diesem Feld grundlegende politische und gesellschaftliche Verständnis.
Apropos Brexit: Buchbestellungen aus Grossbritannien sind umständlich geworden – Dauer etwa 4 – 6 Wochen, Zollabgaben sind harmlos,  ärgerlich aber die vom Auslieferer erhobene Auslagenpauschale.


James Muldoon: Platform Socialism. How to Reclaim our Digital Future from Big Tech. Pluto press, London 2022.  Nick Srnicek: Platform Capitalism, Polity Press, Malden Mass. 2017, 171 S.  . Jan Gross:  Podcast Future Histories – James Muldoon on Platform Socalism. 9.01. 2022  – FAANGM = Facebook, Amazon, Apple, Netflix, Google, Microsoft. **  Matthew Ball, ‘The Metaverse: What It Is, Where to Find It, Who Will Build It, and Fortnite’  2020.

 



Was treibt die Zukunft an?

Treibt technischer Fortschritt oder gesellschaftlicher Wandel die Zukunft an? Vorstellungen von Zukunft sind genauso dem Wandel unterworfen wie andere gesellschaftliche Strömungen auch. In der längsten Zeit über die Jahrtausendwende hinaus bis in die 2010er Jahre stand die Dynamik der Digitalisierung im Vordergrund. Immer wieder sah es so aus, als treibe die technische Entwicklung Wirtschaft und Gesellschaft vor sich her. Technik schuf neue soziale, mediale, v.a. ökonomisch nutzbare Möglichkeiten. SmartPhones bündeln mittlerweile derart viele Funktionen, dass ein Leben ohne sie erhebliche Einschränkungen (bis hin zum Covid- Zertifikat) bedeutet. Kommunikations- und Kulturtechniken, die man noch vor gar nicht so langer Zeit als Zukunftsfiktion verstanden hätte,  sind längst Alltag geworden – und das weltweit. Die Welt von heute ist nicht vorstellbar ohne die Verbreitung der digitalen Techniken.
Wissenschaft ist die Grundlage von technologischem Fortschritt (Godin, 2020), zumindest in der modernen Welt. Ebenso eine Gesellschaft, die ihn in ihre materielle Zivilisation einbindet. Letztlich setzen sich Techniken nur dann durch, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen (vgl. Nassehi, 2019).

Manuel Castells(2001): Die Revolution der Informations-technologie und die Erneuerung des Kapitalismus begründeten die Netzwerkgesellschaft

Der digitale Aufbruch um die Jahrtausendwende war mit vielen Erwartungen und Vorstellungen von Zukunft verbunden.  Der Cyberspace war zunächst sphera incognita, ein Freiraum für Neues; Web 2.0 stand etwa für eine partizipatorische Netzkultur mit der konkreten Utopie  Wissen und Information für alle frei zugänglich zu machen. Zukunftsentwürfe einer fluiden  Demokratie, die in einer politischen Kultur der Offenheit und Partizipation wurzelt, wurden diskutiert – sie verschwanden aber wieder mit dem Ende der Piratenpartei.

Manuel Castells nannte in seinem drei-Bände-Werk Das Informationszeitalter (1996-98/dt. 2001) die technische Revolution der Informationstechnologie und die Erneuerung des Kapitalismus als Grundlagen der Netzwerkgesellschaft. Im damaligen Kontext bedeutete erneuerter Kapitalismus eine weitgehende Deregulierung der Märkte, v.a. der Finanzmärkte, die zum Rückgrat der Globalisierung wurden. Flexibilisierung auf vielen Ebenen, aber oft nur im Sinne von Kapitaleignern.  Ein Gegengewicht zur Globalisierung liegt in der Macht der Identität, die sich zum einen als offensive Bewegungen mit dem  Anspruch gesellschaftlicher und kultureller Umgestaltung, der Inanspruchnahme von Selbstbestimmung, wie etwa Feminismus und Umweltbewegung,  aber auch in reaktiver Form  im Namen von Nation, Religion, Familie oder Ethnizität zeigt.
Eine weitere Erneuerung bedeutete die Neubewertung von Eigenschaften wie Kreativität, Spontaneität, der Fähigkeit, Netzwerke zu bilden, wie sie in Der Neue Geist des Kapitalismus (Boltanski & Chiapello, 1999/2003),  beschrieben wurde. Sich neu konstituierende Cluster einer Creative Class, die Bedeutung eines kulturellen Umfeldes, die Anziehungskraft von Umgebungen der Vielfalt, die   Einbeziehung des Concept of Cool in die Wertschöpfungsketten sind damit verbunden.

Von der Kalifornischen Ideologie ist öfters die Rede, auch wenn sie nicht eindeutig erscheint. Gemeint ist der Glaube an das emanzipatorische  Potential der Informationsgesellschaft, wie er in der Bay Area aus der  Verschmelzung der kulturellen Boheme aus San Francisco mit den High-Tech-Industrien des Silicon Valley seit den 80er Jahren entstand. Sicher waren San Francisco und die Bay Area immer wieder Ausgangspunkte  und Nährboden von Bewegungen mit globaler Ausstrahlung: Beatniks, Hippies, Gay Liberation, Ökotopia, dazu allerlei synkretistische Lebensstile. Die moderne Supermacht des Storytellings, Hollywood, sitzt ganz in der Nähe. Allen diesen Bewegungen ist durchaus ein libertärer Geist zu eigen  – im ursprünglichen Sinne der Befreiung von Fremdbestimmung und Freisetzung menschlicher Energien.  Das Burning Man Festival in der Wüste von Nevada gilt als ein Icon der kalifornischen Ideologie, der v.a. von Apple vermarktete Digital Lifestyle wurzelt darin, die Versionsbezeichnungen aus kalifornischer Topographie (Yosemite, Big Sur, Monterey) erinnern daran.
Aktuell bezeichnet libertär eine von jeglicher Einschränkung befreite Selbstverwirklichung von oligarchischen Investoren und Milliardären, wie sie etwa von Peter Thiel verkörpert wird.

Eine entscheidende Entwicklung  im weiteren Verlauf war etwa dann, als aus dem Web 2.0 Social Media wurde: der Durchmarsch der grossen Plattformen, manchmal als Landnahme bezeichnet. Michael Seemann hat in seinem Buch Die Macht der Plattformen  diese Einnahme als Graphname beschrieben, d.h. entlang sozialer Graphen, die man  sich wie Territorien vorstellen kann: Der Social Graph stellt Beziehungen zwischen einzelnen Entitäten dar – “the global mapping of everybody and how they’re related**. Die neue Infrastruktur der  Social Media Plattformen ist seitdem weitgehend in Corporate Hands.

Utopien siedeln sich zunehmend im realen Raum an

Das Thema Zukunft boomt seit einigen Jahren.  Zukunft wurde zu einer Art Überthema, in dem sich Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitsdebatten bündeln. Aktuelle Leitbegriffe sind Zukunftsfähigkeit und Resilienz. Gemeint ist die Krisenfestigkeit von Menschen, Organisationen und ganzen Gesellschaften, und die Fähigkeit dauerhaft ohne weitere ökologische Belastung zu wirtschaften. Gegenüber früheren Zukunftsdiskussionen fällt auf, dass die aktuellen Debatten kaum von  diffusen, in die weite Zukunft gerichteten Utopien bestimmt sind. Sie sind meist sehr konkret: Es geht um neue Arbeitsformen, ob  unter dem  Label  New Work oder nicht,  um die Neugestaltung von Mobilität,  um nachhaltigen Konsum, Energieversorgung und  Ernährung.  Wohl nicht ganz zufällig hat die deutsche Ausgabe eines populären Buches zum Thema den Titel Utopien für Realisten (2016/2017). Man kann auch sagen, es geht um den sozialen Benefit der Digitalisierung.

Soweit eine Zusammenstellung, ein  Parcours durch die letzten beiden Jahrzehnte – der sich ganz sicher in der Fülle wie in den Details ausweiten und ausarbeiten lässt. Muster und Entwicklungen, eine Linie der Wechselwirkung von technischem Fortschritt und gesellschaftlichem Wandel sind erkennbar. In der langfristigeren Entwicklung werden Gegenströmungen und Ausgleichsprozesse deutlich. Unsere Zivilisation entwickelt sich in diesen Ausgleichsprozessen.  Technogenese bedeutet eine Co- Evolution von Technik und Gesellschaft. Evolution ist generell keine beabsichtigte Entwicklung. Der Begriff stammt von dem französischen Medientheoretiker  Bernard Stiegler (✝2020) in Anlehnung an Anthropogenese.
Genauso offensichtlich klingt Technogenese  an die Konzepte Sozio– und Psychogenese bei Norbert Elias an. Geht es dort um langfristige Wandlungen von Gesellschafts – und Persönlichkeitsstrukturen,  um die Herausbildung eines Habitus, kann man Technogenese als Herausformung  der jeweils spezifischen technisch/ materiellen Zivilisation verstehen.
Erwähnt sei schliesslich noch das Konzept der Sprunginnovationen. Sprunginnovationen sind solche Innovationen, die eine radikale technologische Neuerung beinhalten. Sie haben das Potenzial, bislang bekannte Techniken und Dienstleistungen bahnbrechend zu verändern und zu ersetzen.

Soweit einige Gedanken, die ich als Impulsbeitrag zur  zweiten  Staffel der Futures Lounge unter dem Motto “Was treibt die Zukunft an –  technischer Fortschritt oder Sozialer Wandel” zusammengetragen habe.

vgl.: Manuel Castells: Das Informationszeitalter, 3 Bände, dt. Ausgabe 2001 – 2003 (Orig.The Information Age: Economy, Society, and Culture 1996 – 1998); Robert V. Kozinets & Gambetti, Rossella (Eds.): Netnography Unlimited.  Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research..  2021, Routledge, New York.  Niklas Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaften, Kap. IX. Technik, S. 235 ff Michael Seemann: Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten, Berlin 2021  Werner Rammert. Technik, Handeln und Sozialstruktur: Eine Einführung in die Soziologie der Technik. 2006. Armin Nassehi: Muster \\\Theorie/// der Digitalen Gesellschaft., 9/ 2019.  Benoît Godin: The Invention of Technological Innovation: Languages, Discourses and Ideology in Historical Perspective (2020).  Rafael Laguna del Vera & Thomas Ramge: Sprunginnovation. Wie wir mit Wissenschaft und Technik die Welt wieder in Balance bekommen. Econ- Verlag, 2021; vgl auch Innovation und Gesellschaft, Über den Prozess der Digitalisierung, Rutger Bregman: Utopien für Realisten, 2016, Orig. 2014; Luc Boltanski & Ève Chiapello: Der Neue Geist des Kapitalismus  **A. Iskold, “Social Graph: Concepts and Issues,” ReadWriteWeb, September 12, 2007



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