Metamodernism – The Future of Theory (Rez.)

Metamodern zum Zweiten. Bekannt wurde mir der Begriff erst vor einigen Wochen. Ein Begriff unter dem kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen, die nach der Postmoderne auftreten, verhandelt werden.  Ein Terminus für das Denken im 21. Jahrhundert?
Metamodernism. The Future of Theory von Jason A. Storm (7/2021) wurde in etlichen Kommentaren und Reviews (English only)  geradezu enthusiastisch gefeiert:
It’s a long time, since I’ve had such a vigorous – and rigorous – intellectual work- out. Metamodernism is not only an astute diagnosis of the confusions and contradictions of contemporary thought; it also offers compelling alternatives. Ambitious, lucid and erudite, this is a book that demands to be read and argued over.“ Der Kommentar der Autorin Rita Felski (The Limits of Critique, 2015) steht für viele und so geht es weiter. Es wundert dann etwas, dass bislang kaum deutschsprachige Resonanz vorliegt – jedenfalls habe ich keine gefunden – so bin ich wohl einer der ersten. So eingestimmt geht man an den Titel heran.  Ursprünglich hatte der Autor den Titel Absolute Disruption. Theory after Postmodernism vorgesehen, ein  Titel, der ebenso den Anspruch verdeutlicht, eine erneuerte Theorie der sozialen Welt zu formulieren – mit der Ambition  als Leitfaden zukünftiger (Human-) Wissenschaft. Ein –ism(us) sollte es sein,  Post-postmodernism/us wäre ein Verlegenheitsbegriff, das Präfix Meta trifft anscheinend den Zeitgeist: I should own that likely some of the same zeitgeist that made me think Metamodernism sounded cool perhaps contributed to why Zuckerberg might have thought Meta Platforms sounded cool.

Der Denker präsentiert sein Werk: Jason A. Storm

Metamordernism – The Future of Theory ist als Manifest in den Human Sciences/ Humanwissenschaften – bei Storm der Dachbegriff für alle Geistes – und Sozialwissenschaften – zu  verstehen.
Philosophie ist nicht mein Fach, die Begrifflichkeiten weniger vertraut, Epistemologie und Ontologie  muss ich z.B. nachschlagen. Philosophie zeichnet und formuliert aber Grundlagen, die auch in anderen Fächern gelten,  hier ist es ein Big Picture der Human Sciences. Ist nach 40 Jahren der Abschied von der verblassenden Postmoderne, eine Neubestimmung entscheidender Fragestellungen überfällig? In den 1980er Jahren sprach man oft vom Paradigmenwechsel.  Damals ging es um den Abschied vom linearen Fortschrittsdenken und den Zukunftsvorstellungen der Moderne. Die aufkommende Postmoderne formulierte den Verlust von Gewissheit, die Auflösung von Sicherheiten und gewachsenen Identitäten. In der Wahrnehmung stand sie oft in Verbindung mit einem skeptischen Dekonstruktivismus.
Storm schreibt von einer umfassenden philosophischen Methode, die versucht, die Natur der sozialen Welt zu erklären – das Buch trägt den Anspruch Grosser Theorie, incl. einer ethischen und politischen Wirkung und einer eigenen Moralität. Der Autor nennt es selber ein hopeful monster (25) mit Wurzeln  in queer, feminist, and critical race theory, resistent gegenüber vereinfachendem Moralisieren und ausgerichtet auf eine emanzipatorische, nicht-relativistische, kosmopolitische Ökologie des Wissens (25).

Das Buch ist in vier Teile + Opening, Conclusion und Notes (60 S.) und insges. sieben Kapitel gegliedert. Part I Metarealism, Part II  Process Social Ontology, Part III Hylosemiotics, Part IV Knowledge and Value. Kapitel 7 The Revaluation of Values/ Neubewertung von Werten (236 – 275) ist der politischste Teil, es geht um die Rolle von Moral und ethischen Werten in den  Human Sciences und der Gesellschaft insgesamt.
Einige Begriffe und Konzepte fallen ins Auge, so die zunächst generisch scheinenden, in Metamodernism zentralen Social kinds: beschrieben, nicht definiert als 1) socially constructed, 2) dynamic clusters of powers 3) which are demarcated by the casual processes that anchor the relevant clusters  (111).  Social Kinds are made uo of power-clusters and the processes, that anchor them. Powers belong to a system of relations, not a specific entity of its own (140). Solche Sätze und auch die Thematisierung von Interdependenzen lassen zumindest an Konzepte von Machtbalancen in der Soziologie denken.
Storm nennt diverse Features von Process Social Kinds (94-96), wie high- entropic, cross- cutting, normative. Social Kinds dienen ihm dazu, die soziale Welt als dynamisch, prozessual zu rekonzeptualisieren. Unsere Moral sollte ähnlich verstanden sein und danach streben, die Vielfalt des empfindungsfähigen Lebens und der Gesellschaften, die es hervorbringt, zu kultivieren.

Das Buch wirklich durchzuarbeiten ist eine längere Aufgabe, der Text ist komplex, schwierig zusammenzufassen und in einer kurzen Besprechung auch nur annähernd kaum wieder zu geben. Gibt es nicht in den Sozialwissenschaften überzeugendere Modelle Prozesse, die soziale Konstruktion von Machtverhältnissen etc. zu beschreiben als die etwas dünnen Social Kinds?  Auch wenn man daran gewöhnt ist, Texte auf Englisch zu lesen, braucht es mehr Zeit, die Texteinschläge wirken zu lassen – Nietzsche philosophierte mit dem Hammer– Storm sagt von sich to philosophize with lightning (5). Blitze sind geballte Energie – zerstörend wie erhellend.  Oft erinnert sein Gestus an den eines Rockstars.
Metamodern passt in den Zeitgeist. Ein Begriff, der endlich die Postmoderne ablösen soll, deren Dekonstruktionen berechtigt waren, es  aber  keinen Sinn macht, länger darin zu verharren. Die Moderne war die These, der sich die Antithese der Postmoderne entgegenstellte und in diesem Konflikt bildet sich mit der Metamoderne eine neue Synthese heraus – wenn man es mit einem gängigen Modell erklären will.
Metamodern ist allerdings kein einheitliches Label: Lene Andersens Metamodernity (2019) wird bei Storm (2021) gar nicht, die Werke des Autoren- Duos Hanzi Freinacht nur kurz erwähnt. Was überzeugt: Die Erfahrungen des 21. Jahrhunderts werden nicht ein weiteres mal neu erklärt, sie werden als bekannt vorausgesetzt. Um die Welt zu verändern, müssen wir sie verstehen und darüber hinaus ein Bild davon haben, was sie sein könnte: It’s not postmodern, it’s not modernist. It isn’t really new materialist.  Instead of describing a paradigm shift, I was actually trying to produce a paradigm shift.

Einige einfache, jeder/m verständliche Sätze bringen die Moralität von Metamodernism auf den Punkt: Most of us want to be happy — Most of us want to be psychical and physical well- being — most of us do not want to suffer unnecessarily –.most of us want to live a life worth having lived, a meaningful life (257) – das sind die Grundlagen eines Sets ethischer Normen und daraus abgeleiteten politischen Handelns: We need a vision of progress and a grand narrative about why it all matters (Thomas Harper).

Schliesslich: Gibt es denn einen Bezug zum Metaverse – was die Namensgebung nahelegt? Im Buch nicht, aber in seinem Blog Absolute Disruption (11/21) nimmt Storm darauf bezug – zu Facebooks Rebranding Meta bemerkt er spöttisch, das Unternehmensziel des Zuckerverse sei die Monetarisierung von Eskapismus. Er empfiehlt (ein von wenigen Unternehmen  dominiertes) Metaverse zu hacken, zu unterwandern, umzufunktionieren und umzugestalten, um sein emanzipatorisches Potenzial freizusetzen und die Macht zurückzuerobern.

vgl.: Jason Ananda Josephson Storm:  Metamodernism. The Future of Theory. Chicago 9/2021. 360S. Blog: Absolute Disruption Podcasts: Metamodernism – The Future of Theory: an interview with Prof. Jason Ā. Josephson Storm. Sunday in the parc with theory: Podcast with Jason Ā. Josephson Storm (18 April 2022)

 



Zivilisationsprozess – continued

zivilisierter Auftritt? Bild: unsplash.com

Auf Norbert Elias (1897-1990) und die Zivilisationstheorie bin ich im Blog immer wieder zu sprechen gekommen (s. u.). Seit dem Hauptstudium Soziologie hat mich  immer wieder die Frage beschäftigt, wie man mit der Zivilisationstheorie neuere Entwicklungen in Gegenwart und Zukunft beschreiben und erklären kann.
Zivilisation ist kein einmal erreichter Zustand, sondern im ständigen Wandel begriffen, der Zivilisationsprozess ein nie abgeschlossener Prozess, der ungesteuert, evolutionär, verläuft.  Elias hatte den Zivilisationsprozess als langfristig gerichtet, durch wechselseitige Verflechtungen – Interdependenzen – angetrieben, beschrieben. Dabei gibt es immer wieder auch gegenläufige Tendenzen. Jede Zivilisation orientiert sich an ihren eigenen Werten, Verhaltensstandards setzen den Rahmen für Handeln und Empfinden.

Was das Werk von Elias auszeichnet und über den historischen Prozess hinaus interessant macht, ist die Verbindung und gegenseitige Durchdringung zweier Prozesse: der Herausbildung von Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen, Sozio- und Psychogenese. Es gibt Überschneidungen zu Karl Polanyi (1886 – 1964), The Great Transformation (1944): beide befassten sich mit langfristigen gesellschaftlichen Prozessen an der Schwelle der Vormoderne  zur Moderne, beide arbeiteten allgemeingültige Regelhaftigkeiten des Wandels heraus. Ging es bei Polanyi um die Durchsetzung des Prinzips der Marktwirtschaft und die Umgestaltung der Gesellschaft unter deren Primat, ging es bei Elias um Wandlungen in den Persönlichkeitsstrukturen hin zu einem gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang.
Eine zentrale Rolle spielt die Ausformung des Habitus, in dem sich die  Gesamtheit sozial vermittelter Persönlichkeit, erworben durch Herkunft,  Bildung und gesellschaftliche Rolle, spiegelt – ein Konzept, das ebenso sehr von
Pierre Bourdieu (1930 – 2002; La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979) geprägt wurde. Beide Autoren werden oft in ähnlichen Kontexten zur Erklärung herangezogen, gemeinsam ist beiden eine Sichtweise, die Gesellschaft und Individuum nicht als dichothome Gegensätze beschreibt.
So sinnvoll und allgemeingültig Konzepte und Begriffe von Elias und Bourdieu sind, so wenig aktuell ist die Materialbasis. Der Zivilisationsprozess behandelt die Soziogenese der abendländischen Zívilisation bis zum 19. Jh,  Elias schrieb daran in den 20er und 30er Jahren. In seinem Alterswerk, bis in die 80er Jahre,  befasste er sich v.a. mit den daraus  folgenden methodischen  Schlüssen.
Auch die Datenbasis Bourdieus, an denen er u..a die Konzepte von kulturellem und sozialem Kapital herausarbeitete liegt ca. 50 Jahre zurück. So hat sich etwa die Bedeutung der Vertrautheit mit der legitimen Kultur als kulturellem Kapital seitdem sicherlich verschoben. Legitime Kultur bedeutet den anerkannten Kanon der Hochkultur in seinen jeweiligen nationalen Ausprägungen – im Gegensatz zur populären Kultur, die vom Markt bestimmt ist und zu Gegenkulturen (Counter- Culture), an der sich nicht- etablierte Öffentlichkeiten orientieren.

Der Amsterdamer Soziologe Cas Wouters hatte seit den späten 70er Jahren mit der Informalisierungsthese  eine Richtungsänderung des Zivilisations-prozesses formuliert. Gegenüber strikt regulierten Verhaltenscodes haben sich Selbststeuerung, eine Emanzipation der Emotionen, Variationsspielraum, die flexible Anwendung von Verhaltensregeln als neue Ideale einer bewußteren Steuerung durchgesetzt. Informalisierung ist mit Individualisierung verbunden, Selbstkontrolle wird zum Selbstmanagement.

Erfolgreiche Landnahme durch das Advertising: the conquest of cool (1997)

Seit den 90er Jahren wurde immer wieder ein erneuerter Kapitalismus beschrieben. In Der neue Geist des Kapitalismus (1999) stellten die Autoren Boltanski & Chiapello einen Kapitalismus dar, der die sog. Künstlerkritik*  aufgegriffen und verarbeitet hat.
Deutlich illustriert der Titel the conquest of cool  eine Vereinnahmung, die Landnahme** des Prinzips Coolness, der  Counterculture durch die Werbewirtschaft. Ähnlich verstehen lässt sich die zeitweilig enorme Popularität der Thesen von Richard Florida zur Creative Class.
Alle diese Thesen sind angreifbar und sie wurden mehrfach deutlich kritisiert – aber es sind jeweils einzelne Diskussionen.  Im Idealfall und etwas übersteigert bedeuten sie die Verbindung der Lebensweise der Bohème mit der materiellen Akkumulation des Kapitalismus.
Sie folgen dem Ideal des sich selbst entfaltenden Individuums, einem  expressiven Selbst, das nicht einfach Konventionen folgt – aber innerhalb des marktwirtschaftlichen Rahmens bleibt,  und – im Idealfalle – die  ökonomische Eigenverantwortung annimmt. Auf die verbreitete Wirklichkeit heruntergebrochen sind es Veränderungsprozesse, in denen das Maß persönlicher Autonomie und Kreativität am Arbeitsplatz, die Wahlmöglichkeiten der Lebensführung zugenommen hat – letztlich die Aufwertung von Kreativität als Ressource von Innovation und Fortschritt.

Hochkultur findet weiterhin Beachtung, aber die Vertrautheit mit ihr dient nur noch selten als legitime Kultur der Distinktion.  Vertrautheit mit der populären Kultur nimmt zu bzw. wird häufiger kommuniziert. Popsongs, Filme, Serien, Comics,  aber auch Produktdesign etc.  werden referenziert, wenn es um die Vermittlung von Eindrücken, Stimmungen etc.  geht. Auffallend ist weiterhin ein oft weitreichendes Produktwissen.

Korrektheit im 21. Jahrhundert. Bild: pexels-elevate-digital

Wo stehen wir heute? Wahrscheinlich passt das Etikett Consumer Culture*** immer noch am besten, wenn auch in der (digitalen) Spätphase. Ein Kennzeichen ist die Verfügbarkeit bzw. Zugänglichkeit von  Ressourcen jeglicher Herkunft, die über den Markt geregelt wird. Der Habitus – das persönliche Erscheinungsbild – ist zumindest reflektiert, wird oft sorgsam gepflegt. Zugehörigkeiten bleiben wohl erkennbar, klassische Milieus verblassen aber mehr und mehr.  Der Begriff Informalisierung passt immer seltener, oft scheint sie inszeniert. Kompetenz und Professionalität, die Marktfähigkeit der eigenen Person werden auf eine oft sehr subtile Weise kommuniziert.  Coaching zu ihrer Pflege  wurde zur Dienstleistung.
Soziale Ungleichheit ist selten Thema, Verstösse gegen Gleichheitsgrundsätze umso mehr, vgl. politische Korrektheit.
Cultural Appropriation/Kulturelle Aneignung gehört zum Wesen der Consumer Culture – kein Stil, keine Tradition, die nicht auf ihre Adaption oder Marktfähigkeit  abgeklopft, nicht in irgendeiner Weise verwertet wird – sei es aus dem ethnischen Fundus (hier insbes. kulinarisch), sei es aus dem der Popularkulturen. Einerseits ist grösstmögliche Authentizität gefragt und wird geschätzt, andererseits ist Fusion, Crossover, MashUp die sichtbarste Eigenleistung in Küche, Musik und Mode. Gelegentlich treten medienwirksame Konflikte zur Urheberschaft auf, als ob kollektive Urheberrechte eingefordert werden sollen.

Was folgt? Meine Einschätzung: Wahrscheinlich wird die Dringlichkeit gemeinschaftlich zu lösender Probleme ein Treiber des Zivilisationsprozesses sein, an dem sich Ausformungen des Habitus, von Verhaltensstandards, kulturelles Kapital,  herausbilden. Ausprägungen von Lebensstilen,  Werden soziale Ungleichheiten grossen Ausmasses dauerhaft akzeptiert? Hin zu einer metamodernen Welt?
Elias ging es  um die langfristige Entwicklung von Gesellschaften, die Ausformung des Habitus, um Wandlungsprozesse – heute spricht man von Transformationen – der Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen: Sozio- und Psychogenese. Dabei nutzte er damals als ungewöhnlich erachtete Quellen: Aufzeichnungen zu Verhaltensstandards, später auch Manierenbücher. Solche gibt es hier und da noch heute, aber sie spielen kaum noch eine Rolle. Heute wird man eher in der Managementliteratur und in Social Media fündig. In ersterer wohl den zumindest für Teilgruppen geltenden Stand; Social Media spiegeln hingegen die Breite des Verhaltens. Derzeit sind wohl instagram mit einem ausufernden visuellen Selbstmarketing – und verhaltener LinkedIn als Bühne  der Professionalitätsdarstellung am interessantesten. Verweisen möchte ich noch auf das Konzept Technogenese, über das ich in anderen Blogbeiträgen geschrieben habe. Technologische Systeme entstehen gesellschaftlich – und sind von der Kultur geprägt, die sie hervorgebracht hat. Letztlich setzen sich Techniken nur dann durch, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen.

Soweit eine Skizze zu möglichen Fortschreibungen des Zivilisationsprozesses. Bisher nur Bruchstücke – um was es mir geht, ist das Narrativ von der parallelen Entwicklungen von Persönlichkeits- und Gesellschaftsstrukturen (technische Entwicklung dann auch noch dazu ….)

 

Blogbeiträge mit Bezug zur Zivilisationstheorie:  Über den Prozess der Digitalisierung  – Machtbalance und Figuration Digitale Figurationen   Die grosse Transformation. Polanyi und die Digitalisierung, Digitaler Habitus, Was treibt die Zukunft an
*als Künstlerkritik wird die Kritik am Kapitalismus bezeichnet, die sich gegen Entfremdung im fordistischen Kapitalismus richtete, Freiheit, Autonomie, Sinn, Authentizität und Spaß einfordert; daneben steht die Sozialkritik, die sich auf Solidarität, Sicherheit und Gleichheit gründet und diese einfordert
** analog zur Digitalen Landnahme der grossen Digitalunternehmen beim Abgreifen von Nutzerdaten (bei Zuboff – Überwachungskapitalismus)
***Consumer Culture:  “Social arrangement in which the relations between lived culture and social resources, between meaningful ways of life and the symbolic and material resources on which they depend, are mediated through markets”   Eric J. Arnould, Craig J. Thompson 
In: Journal of Consumer Research, Volume 31, Issue 4, March 2005, Pages 868–882,

vgl.: Norbert Elias  Über den  Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und Psychogenetische Untersuchungen,  1938 u. 1969. Band 1 u. 2.  .Pierre Bourdieu: La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979, . dt: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 1984  Cas Wouters: Van Minnen en Sterven. Informalisering van omgangsvormen rond seks en dood. Amsterdam, 1990. Luc Boltanski & Ève Chiapello: Der Neue Geist des Kapitalismus * . J. Rössel & K. Bromberger “ Strukturiert kulturelles Kapital auch den Konsum von Populärkultur?”  Zeitschrift für Soziologie, Band 38 Heft 6.  S. 494 – 511, 2009. Thomas Frank: the conquest of cool. Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism. 1997. Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism. 1991/2007



Metamoderne – erster Überblick

In der Diskussion auf der letzten FuturesLounge im Mai kam die Sprache auf Metamodernity/ Metamodernism – international und v.a. auch in Nachbarländern wie den Niederlanden und Dänemark ein bereits seit längerem verbreiteter Begriff, im deutschen Sprachraum allerdings nur sporadisch gebraucht.
Metamoderne ist Reaktion und Abkehr von der verblassenden  Epochenbezeichnung Postmoderne, ein Branding  für das, was danach kommt, was manchmal auch aus Verlegenheit Post- Postmoderne genannt wurde. Unter dem Label metamodern (in mehreren Verbegrifflichungen) kristallisiert sich ein neuer Blick auf die gegenwärtige und in die zukünftige Welt heraus. Die Periodisierung ist eher zweitrangig.

Der Begriff selber ist gar nicht mehr so neu. Den Durchbruch hatte er mit dem Essay (2010) und dem darauf folgenden Webzine (2009 – 2016, archiviert) Notes on Metamodernism der Rotterdamer Kulturwissenschaftler Timotheus Vermeulen und Robin van den Akker. Themen des Webzine waren Trends und Tendenzen in  Current Affairs, in der Netzkultur und aus fast allen Kultursparten von Architektur über Tanz und Performance bis Film und Literatur. Als prominente Beispiele für eine Ästhetik, die nicht länger mit den Begriffen der Postmoderne erklärt werden kann, wurden u.a. die Hamburger Elbphilharmonie – 2010 im Rohbau -, die Filme von David Lynch  und die Literatur von Jonathan Franzen genannt. Man muss sich schon länger damit befassen, um diese Werke miteinander in Verbindung zu bringen –  sie sind dazu noch mit dem Merkmal  neoromantisch versehen.
Metamoderne ist demnach eine in den 2000er Jahren gewachsene Grundstruktur, die seitdem zu einer dominanten kulturellen Logik vorrangig in den westlichen kapitalistischen Gesellschaften geworden ist. Vermeulen & Van den Akker  verwenden den Begriff Metamoderne als heuristisches Etikett, um ästhetische und kulturelle Entwicklungen zu erklären, und gleichzeitig auch zu periodisieren.

Die History- Matrix von Lene Andersen (42/43) – erscheint nach Klick in voller Auflösung in neuem Fenster

Die dänische Philosophin und Bildungsaktivistin Lene Andersen unterscheidet (82) in  dem Einführungsband Metamodernity – Meaning and Hope in a Complex World  (6/2019) zwischen Metamodernity und Metamodernism. Während letzterer in etwa den Ausführungen von Vermeulen und van den Akker folgt, verbindet  ihr Begriff von Metamodernity sämtliche vorhergehenden kulturellen Codes: die indigenen, prämodernen, modernen und postmodernen. Indigene Codes können etwa auf eine Verbindung  mit der  Natur verweisen, die wir brauchen, um Kreisläufe wiederherzustellen, so u.a. zur Lösung der Klimakrise. Metamodernity integriert solche kulturellen Codes und bietet so einen Rahmen, uns selbst und unsere Gesellschaften auf komplexe Art zu verstehen, soziale Normen und ein moralisches Gefüge für Intimität, Spiritualität, Religion, Wissenschaft und Selbsterkundung.
In einer History– Matrix (s. Abb.) setzt Andersen universelle Grössen, wie Wissen, Machtstruktur und vorherrschende Narrative in bezug zu Epochen, die nach den jeweils höchst entwickelten Technologien abgegrenzt sind. Derzeit haben wir die Transition von der industriellen Epoche zum ICT Age (Information and Communication Technologies) hinter uns, bald folgt das BINC Age (Bio-, Information-, Nano & Cogno- Technologies.  Vom Aufbau erinnert die Matrix an die von Dirk Baecker (2018), der die zivilisatorische  Entwicklung in vier Medienepochen gliedert und der modernen die nächste Gesellschaft folgen lässt.
Lene Andersen gehört dem Think Tank Nordic Bildung – Better Bildung,  Better Future, an –  sehr deutlich mit dem auf einer breiten Volksbildung basierenden skandinavischen Gesellschaftsmodell verbunden. Ebenso damit  verbunden ist Hanzi Freinacht, Autor von Nordic Ideology: A Metamodern Guide to Politics (2019).   Sicherlich sind die kulturell homogenen skandinavischen Gesellschaften in der Entwicklung einer Collective Imaginary -in etwa eine kollektive Zukunftsvision – a Shared Vision of the good society, begünstigt und Vorreiter. Der Anspruch eines von den nordischen Ländern ausgehenden Weges in eine metamoderne Gesellschaft, die die Welt vor einem System- Kollaps bewahrt, zeugt aber auch von Sendungsbewusstsein (vgl. Freinacht). 

Jason Storm – Autor “Metamodernism”

Metamodernism. The Future of Theory von Jason Storm(Chicago) erschien 7/2021 und wurde in Kommentaren teilweise enthusiastisch gefeiert: als Öffnung zu neuen Denkweilten, der Autor schöpfe mühelos  aus scheinbar unendlichen Ressourcen, um die Aufgabe zu bewältigen, die er sich selbst gestellt hat.
Jason Storm  ist Universitätsprofessor, bezeichnet sich selber als Philosopher of the Human Science und ist zugleich Rockmusiker, bis dato eine eher ungewöhnliche Kombination – beim Autorenbild dachte ich tatsächlich an Wild at Heart von David Lynch – Humanwissenschaftler in Rockstar- Pose.  Storm versteht sein Werk selber als ein  First- Order Philosophy mit dem Anspruch für sich allein zu stehen. Kein programmatisches metamodernes Paradigma soll beschrieben werden, sondern das Werk soll einen Paradigmenwechsel auslösen.  Mehr zu diesem ambitionierten Titel in Kürze: ist bestellt und Rezension vorgesehen.

Postmoderne war als Epochenkonzept seit ca. 40 Jahren in Verwendung – langsam verblassend. Ausgangspunkt war 1979 der Essay Das postmoderne Wissen/ La condition postmoderne von Jean- François Lyotard. Sie machte es möglich,  uns selbst, unsere Kultur und unsere Zivilisation von außen zu betrachten, sie zu dekonstruieren, um ihre Teile und ihre inneren Strukturen zu untersuchen. Poststukturalismus, Kontextualität, das Führen von Diskursen sind zugehörige Schlagwörter, ironische Distanz eine verbreitete Attitüde. Der Begriff wurde damals schnell populär, besonders in Philosophie, Kunst und Architektur.  Später wurde der Begriff oft bis zum Überdruss und darüber hinaus verwendet, und weckte so auch immer wieder Gegenreaktionen.
Die Moderne gab uns gleiche Rechte und Chancen, Demokratie, Wissenschaft incl. wissenschaftlicher Medizin, und die Verpflichtung, zu zweifeln und zu denken, ihr verdanken wir den – linearen – Fortschritt als solchen, sie ist untrennbar mit der wissenschaftlichen Revolution verbunden.  Klischeehaft war der Weisse Mann ihr Träger.
Metamoderne Philosophie tritt auf in einer Zeit, in der Internet und Social Media für einen Grossteil der Menschen eine selbstverständliche Umgebung sind. Ausdruck der Zukunftsfragen postindustrieller Gesellschaften, in der immer weniger Menschen an den industriellen Prozesse und der Distribution ihrer Produkte beteiligt sind.  Metamodernism doesn’t just generate mixed feelings – it’s about mixed feelings (Jonathan Rawson).
Zum Metaverse hat Metamoderne übrigens keine direkte Verbindung – wenn nicht eine aktuelle Vorliebe für weit überwölbende Begriffe, die mit Meta gekennzeichnet sind, für beides zutrifft. Parallelen werden zu entdecken sein.

Lene Rachel Andersen: Metamodernity. Meaning and Hope in a Complex World . Nordic Bildung, 2019, 137 S.  Jason Ananda Joseph Storm: Metamodernism. The Future of Theory. Chicago 2021. Jonathan Rowson, Layman Pascal: Dispatches from a Time Between Worlds. Crisis and emergence in metamodernity. 376 S. 6/2021 Hanzi Freinacht (ein Pseudonym für ein Autoren- Duo) Nordic Ideology: A Metamodern Guide to Politics, Book Two (Metamodern Guides, Band 2), 2019  Robin van den Akker, Alison Gibbons, and Timotheus Vermeulen (Eds) Metamodernism: Historicity, Affect, and Depth after Postmodernism (2017) Robin van den Akker, Timotheus Vermeulen: Notes on metamodernism. Journal of Aesthetics & Culture. Vol. 2, 2010  , S. 3- 14. auf youtube: Metamodernity Versus Metamodernism w/ Lene Rachel Andersen  — Metamodernism: The Future of Theory w/ Jason Josephson Storm



Common Meeting Ground (und Fragmentierungsthese)

In den Sozialwissenschaften werden immer wieder Begriffe geprägt, mit denen sich verändernde bzw. sich neu gewichtende oder bis dahin wenig beschriebene Zusammenhänge bezeichnet werden. Manche davon haben eine geringe Halbwertszeit, andere setzen sich in einem gewissen Rahmen durch. Einige davon propagiere ich, so etwa Consozialität/Consociality oder Technogenese, das eine parallele Entwicklung von Technik und Gesellschaft ins Blickfeld stellt.

Common Meeting Ground: Gemeinsam als wichtig erachtete Themen werden verhandelt, re:publica Berlin, 2018. eigenes Bild

Auf den Begriff Common Meeting Ground bin ich in der tiefsten Phase  des Lockdown gestossen, als die Frage auftrat, was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn Öffentlichkeit fast ausschliesslich über Medien hergestellt wird. Spielt physische Öffentlichkeit überhaupt eine konstituierende Rolle?
Jede Gesellschaft braucht einen Common Meeting Ground gemeinschaftlich als wichtig empfundener Themen, um darüber verhandeln und selbst bestimmen zu können, was in ihr als relevant gilt und kollektiver Problemlösungen bedarf – so schrieb 2008 der 2015 verstorbene Schweizer Mediensoziologe Kurt Imhof. Geht dieser „Common Meeting Ground“ verloren, gefährdet das den Zusammenhalt in der Gesellschaft.
Genau das besagt die Fragmentierungsthese – bekannter unter den Stichworten Filterblasen und Echokammern: Digitale Öffentlichkeiten fragmentieren das Publikum der Massenmedien und damit auch die gemeinsame  politische Informationsbasis der Bürger. (Politische) Öffentlichkeit zersplittert in immer kleinere Teilöffentlichkeiten, zwischen denen die Verständigung immer schwieriger wird. Die algorithmische Personalisierung und die sozialen Filter  der Intermediäre schaffen Filterblasen  – soweit kurz gefasst.
In dem Aufsatz “Common Meeting Ground in Gefahr? …” (2018, s.u.) wird diese so gern vorgelegte  anschauliche beschriebene These zwar nicht widerlegt, aber doch stark relativiert: Weder soziale Medien noch Suchmedien als politische Informationsquellen führen zu einer geringeren Anschlussfähigkeit der individuellen Themenhorizonte, weder allein noch in Interaktion mit der Extremität politischer Einstellungen. Und weiter: Bedrohliche Folgen des Aufstiegs algorithmenbasierter Intermediäre sind derzeit nicht in der Breite der Gesellschaft zu suchen, sondern in Subpopulationen unter spezifischen Bedingungen das ist in etwa die Conclusio der Studie. Noch mehr in der Folgestudie (s.u.), in der die These  als masslos überschätzt heruntergestuft wird. Tatsächliche werden algoritmisch personalisierte Quellen selten zu politischer Information genutzt (mehr: Magin et al. 9/10, s.u.).

In diesem Sinne bedeutet Common Meeting Ground den informationellen – gesellschaftlich synchronisierten – Boden, ein Fundament  politischer Kommunikation.
Genauso kann Common Meeting Ground der lebensweltliche, physische Ort sein, an dem Gesellschaft erlebt und erfahren wird, an dem als relevant empfundene Themen und Verhalten verhandelt werden. Nicht in Form medialisierter Inhalte, sondern als selbst erlebte Eindrücke und der Resonanz darauf: Wahrnehmung, Reaktion und Interaktion. Öffentliche Orte können sicher auch Orte von Gefahr, von  Bedrängnis und Belästigung sein, es geht aber um die Erfahrung von gegenseitiger Bezogenheit, in der Folge um Prozesse der Aushandlung von Umgangsformen, von Akzeptanz und auch von Stil (z.B. Streetstyle).  Gesellschaft bedeutet nicht Gleichartigkeit, sondern zuerst miteinander Auskommen, Ertragen, dann Austausch, in der Interaktion dann etwas Neues. Zusammenleben pendelt sich ein.
Man kann den Common Meeting Ground weiterdenken, bis hin zu einem möglichen Metaverse – das erst mit der Verbindung einzelner Experiences/Erfahrungswelten zu einem Verse/ Versum würde. Nebenher: Selbst der tägliche Pendler- Stau kann ein Common Meeting Ground sein, wenn es der Ort ist, an dem Gesellschaft erlebt wird: ein Boden, auf dem relevante Entscheidungen getroffen werden können.

Common Meeting Ground im Modell – Forum Groningen

Wenn ich an einen physischen Common Meeting Ground denke, fällt mir sofort das Forum Groningen (NL) ein, das mich im letzten Herbst  sehr beeindruckt hatte: Ein zentrales Gebäude mit einem Mix aus Biblio/ Mediathek, Veranstaltungsräumen, Gastronomie, CoWorking, einer Storyworld zu Comics und Games  und u.a. einer Dachterrasse mit weitem Rundblick. Sicherlich ein Vorzeigeprojekt,  dass sich nicht jede Stadt leisten kann. Aber das Muster eines gestalteten, inklusiven öffentlichen Ortes von Begegnung und Austausch, Samenleving.  Sicher kosten die Kinokarte, der Kaffee genausoviel wie anderswo – aber gänzlich verschieden von kommerziell betriebenen Orten, an denen es in erster Linie um Konsum gegen Bezahlung geht.

Soweit ein Versuch zur Breite eines Konzepts Common Meeting Ground – einer gemeinsamen Grundlage von Verhandelbarkeit – ohne die eine Gesellschaft  fragmentieren würde. Fragmentierung bedeutet nicht  unterschiedliche Meinungen, sondern auseinanderdriftende Horizonte.

Kurt Imhof: Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Moderne. In C. Winter, A. Hepp & F. Krotz, Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft (2008, S. 65–89) . Stefan Geiß, Melanie Magin, Birgit Stark, Pascal Jürgens: “Common Meeting Ground” in Gefahr? Selektionslogiken politischer Informationsquellen und ihr Einfluss auf die Fragmentierung individueller Themenhorizonte JIn: M&K Medien & Kommunikationswissenschaft, Jahrgang 66 (2018). Heft 4, S. 502-525Melanie Magin, Birgit Stark, Pascal Jürgens: Maßlos überschätzt. Ein Überblick über theoretische Annahmen und empirische Befunde zu Filterblasen und Echokammern In: Eisenegger, R. Blum, P. Ettinger & M. Prinzing (Eds.), Digitaler Strukturwandel der Öffentlichkeit. Springer VS. 2020



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