Tendenzen 2024 – Landnahmen, Hypes, Konflikte & Konsens

2024 by Adobe Firefly

Die Saison der Jahresrückblicke ist fast vorüber. Zu 2023 wurde das meiste gesagt: Die Krisen wie im Jahr zuvor – von denen eine – Corona –  immerhin überwunden scheint. Zu dem einen Krieg kam ein zweiter,  Klima- und andere Umweltkrisen, wie das Artensterben,  gehen weiter voran.

Der Hype zu KI setzt sich fort, mit der  Verbreitung ihrer Funktionen wächst der Einfluss der beteiligten Konzerne.  Digitale Infrastrukturen strukturieren die gesellschaftliche Kommunikation incl. der Konflikte und Konsense. Dazu – etwas lose miteinander verbunden – Tendenzen für 2024.

In der digitalen Welt  sprach man v.a. von Hypes:  Der Hype zu KI/ Chat GPT überlagerte und verdrängte die Vorgänger  Blockchain bzw. Web3 und Metaverse.
Allen drei Hypes gemeinsam war bzw. ist die Perspektive einer neuen Infrastruktur und damit der Entwurf einer neuen Zukunft – Futures Appropriation ist der Begriff, der eine solche Aneignung von Zukunft ausdrückt, immer wieder  erkennbar am Halbsatz  …  ist die Zukunft.
Web3 mit Blockchain, NFTs und Tokens wurde als folgerichtig nächste Stufe des Internet propagiert, als eine dezentrale Erneuerung. Ist seit längerem als anarchokapitalistische Zockerbude abgehakt.
Der Hype zum Metaverse ist eher gesundgeschrumpft. Das zu Meta umetikettierte Social- Media Imperium (Facebook, instagram, WhatsApp) hat sich mit Verlusten zurückgezogen. Metaverse beinhaltete immer – wenn auch oft unausgesprochen – die Vorstellung einer parallelen Welt, einer durchgängigen virtuellen Erfahrung, ein begehbares Internet. Dezentrales, interoperables, beständiges, mit allen Sinnen wahrnehmbares digitales Ökosystem mit unbegrenzter Nutzerkapazität* – so lautete die Definition eines Social Metaverse.
Davon ist keine Rede mehr, stattdessen von immersiven Medien bzw. dem von Apple propagierten Spatial Computing. Letzteres meint die Interaktion mittels physischer Signale wie Gesten, Stimme, Blickrichtungen, die als Eingaben für interaktive digitale Mediensysteme funktionieren.
Der einmal verbreitete Begriff Metaverse lebt weiter, so im Industriellen Metaverse, das derzeit von Siemens propagiert wird: Zielgerichtete Anwendungsfälle in Unternehmen, die auf reale Herausforderungen und Geschäftsanforderungen ausgerichtet sind (vgl).
Immersive Medien bleiben auf nützliche und einige besondere Anwendungen beschränkt: Trainings, Simulationen von geplanten Projekten, in Architektur, Verkehr, im medizinischen Bereich, bei Produktpräsentationen bis hin zu Einrichtungsentwürfen, hinzu kommen besondere Unterhaltungsangebote  und ganz sicher  Games.
Die Vorstellung einer parallelen Welt zählt – genauso wie die einer nicht- menschlichen Intelligenz – zu den immer wiederkehrenden, archetypischen Erzählungen. Die Möglichkeit der technischen Verwirklichung hat eine besondere Anziehungskraft, bewirkt ebensolche Aufmerksamkeit und setzt Gestaltungsphantasien frei. 

Der Hype zu KI/ Chat GPT hat breitere Wurzeln geschlagen. Manchen Quellen nach war der Erfolg nicht erwartet worden. Nutzung und Verbreitung wurden aber schnell  so umfangreich, dass der Client und das Interesse daran kaum wieder verschwinden werden. Das ganze Jahr über konnte man fast Woche für Woche Veranstaltungen dazu besuchen – ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr und in welcher Breite generative KI Menschen beschäftigt.
Mit der Volksausgabe Chat GPT konnte jeder herumexperimentieren, so hat generative KI in vielen Lebensbereichen und Professionen Fuss gefasst, als (versuchte) Automation, wie als eine Art thinking companion, Denkbegleiter: bei Schülern und Studenten, in Anwaltskanzleien, in der Finanz- und der Werbewirtschaft u.v.m.  – und sie wird als wichtigste Neuerung seit iPhone und Social Media erlebt.
Vor wenigen Tagen (10.01.24) öffnete der Chat GPT Store. So werden allseits Parallelen zum iPhone gezogen. Ein Schritt zur Plattformisierung? Angeboten werden allerdings ziemlich einfach zu erstellende Clients.  Ein wirkliches Geschäftsmodell scheint damit noch nicht verbunden.
Ihre Kraft bezieht generative KI aus den Ressourcen, mit denen sie gefüttert wird. Genug davon ist urheberrechtlich geschützt. Ein Stoff für Konflikte mit den Eignern von Urheberrechten. Die grösseren davon, werden ihre Interessen bewahren können- zu vielversprechend sind die Geschäfte. Was man beobachten wird, ist die sog. (digitale) Landnahme der KI, in welchen  Funktionen sie sich weiter verbreitet – und wer den letztendlichen Nutzen daraus zieht.

Big Tech Is Bad. Big A.I. Will Be Worse – so lautete ein Essay in der New York Times im Juni 23.   Ganz wie Big Tech – oder noch mehr – konzentriert sich eine zentrale Infrastruktur in den  Händen weniger Konzerne – in diesem Falle Microsoft und Google.
Plattformen sind zweiseitige Märkte: Zuerst behandeln sie  ihre Nutzer sehr gut; dann instrumentalisieren sie ihre Nutzer, um die Dinge für ihre Geschäftskunden besser zu machen; schließlich instrumentalisieren sie diese Geschäftskunden, um den gesamten Profit für sich selbst zu behalten. Dann sterben sie. So sieht es in etwa der kanadische Autor Cory Doctorow¹. Eine Gesetzmässigkeit? Haben Social Media ein Verfallsdatum? Doctorow bedient sich dabei des drastischen Ausdrucks Enshittification – was sich etwa mit Beschissenwerdung übersetzen lässt. 
Dieser Prozess lässt sich derzeit bei Twitter/ X, aber auch anderswo beobachten. Haben Unternehmen zuviel an Macht werden sie zu herrschaftlichen Institutionen. 

Social Media waren lange Zeit ein überraschend stabiles System, dass sich um eine Handvoll zentraler Plattformen und Dienste dreht. Twitter nahm dabei einen besonderen Platz ein: In seinen Anfängen bedeutete Twitter ein enorm spürbares Empowerment seiner Nutzer – richtig eingesetzt, ermöglichte es vorher ungeahnte Reichweiten. Nicht nur in der Weite, auch in der Schnelligkeit und der Möglichkeit der gezielten (@)Adressierung und der thematischen #Bündelung. Ein Twitteraccount mit vielen Followern bedeutete medialen Einfluss – ein Status, der erarbeitet werden musste.
In den besten Momenten war es eine globale Öffentlichkeit – Ereignisse liessen sich in Echtzeit mitverfolgen. Zumindest im deutschsprachigen Raum war Twitter vorwiegend Ort der politischen Kommunikation. Journalisten, Politiker – Meinungsinfluencer gaben den Ton an. Eine Geldmaschine war Twitter nie, trotz aller medialen Aufmerksamkeit blieb es eine Plattform in der Nische.

Was folgt? Neben Twitter/X stehen drei Plattformen im Blickfeld: Bluesky hat wohl die Anmutung des alten Twitter, viele Funktionen fehlen aber noch. Mastodon stammt aus der Open Source Bewegung- manchen Nutzern zu nerdig, kann damit das sog. Fediverse an Einfluss gewinnen?  Threads, der Kurznachrichtendienst von Meta  Imperiums konnte mit der Kopplung an Instagram gleich mit der grössten Nutzerzahl starten. Von vielen Nutzern werden seine Möglichkeiten begrüsst – auf mich macht es den Eindruck eines ergänzenden Feldes der von Meta anvisierten Influencer- und Creatorökonomie.

Verschärfen sich gesellschaftliche Konflikte? In den ersten beiden Wochen 2024 konnte man den Eindruck gewinnen.
Dem gegenüber stehen zentrale Ergebnisse aus  TriggerpunkteKonsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.  Der manche überraschende und beruhigende Befund ist, dass in großen Fragen, wie Ungleichheit, Diversity,  Klimakrise, Migration ein zumindest vermittelbarer Konsens herrscht. An den Rändern arbeiten aber Kräfte an der Verschärfung und Polarisierung von Konflikten. Fazit der Autoren: Konflikte: vorhanden, Polarisierung: kaum, politisierte und radikalisierte Ränder ja.
Eine Conclusio
: Mit Social Media hat sich die Lautstärke und die Affektivität politischer Konflikte verändert. Gesellschaftliche Diskurse sind weniger strukturiert. Veröffentlichungen, Zirkulation und Rezeption folgen einer anderen Logik.
Neue Infrastrukturen haben oft unerwartete Nebenwirkungen. Über die  Triggerpunkte bin ich auch auf eine bislang wenig beachtete Studie² gestossen, mit u.a. folgender Aussage:  In Autokratien und werdenden Demokratien können sie (Social Media) zu einer Zunahme der politischen Partizipation führen, während es in etablierten Demokratien wahrscheinlicher ist, dass politisches Vertrauen verloren geht und die Polarisierung verschärft wird.

vgl,:  ¹Cory Doctorow: Pluralistic: Tiktok’s Enshittifications.: Here is how platforms die: first, they are good to their users; then they abuse their users to make things better for their business customers; finally, they abuse those business customers to claw back all the value for themselves. Then, they die.  —Und:  The Internet Con.  How to Seize the Meansof Computation. Verso. London & New York, 2023.  79 S. 
* so Carsten Rossi vom BVDW (Bundesverband Digitale Wirtschaft) – Johannes Franzen: Die Beschissenwerdung des Internets. Wie Plattformen langsam verrotten. Kultur und Kontroverse 4/23. David Karpf: ChatGPT’s FarmVille Moment. The immediate future of generative AI looks a little bit like Facebook’s past. The Atlantic. 12.01.2024. Damon Beres: Chat GPT is Turning the Internet into Plumbing. What does life online look like filtered through a bot. The Atlantic. 13.12.2023.  Daron Acemoglu & Simon Johnson:  Big Tech Is Bad. Big A.I. Will Be Worse. In: New York Times (9.06.23). Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser: Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Suhrkamp Verlag 10/2023  Matthias Quent: Deutschland kippt nach rechts In: Republik.ch 13.12.23.  Michael Seemann: Künstliche Intelligenz, Large Language Models, ChatGPT und die Arbeitswelt der Zukunft. Hans- Böckler- Stiftung 9/23 download. — ² Philipp Lorenz- Spreen et al:  Modelling opinion dynamics under the impact of influencer and media strategies. In Nature. Human Behaviour 7/1 (2023)



Power and Progress – Big Tech Is Bad. Will Big A.I. Be Worse?

Die  FAZ am Sonntag (28.06.23) schlug es als Wirtschaftsbuch des Jahres 2023 vor: Power and Progress. Our Thousand- Year Struggle over Technology and Prosperity – seit 9/23 unter dem Titel Macht und Fortschritt auch auf Deutsch.
Es geht um das – im Laufe des letzten Jahrtausends – immer wiederkehrende Thema, wem der Nutzen am technischen Fortschritt zukommt. Dazu werden Beispiele aus der Geschichte  herangeholt – Europa hatte auch vor der Industrialisierung immer wieder Schübe technischen Fortschritts erlebt – Nutzen und Gewinne kamen oft kaum in der breiten Bevölkerung an. Entscheidend für die Konstitution von Macht war  immer auch die Kontrolle über Informationen.
Vor diesen Hintergründen  wird das Narrativ Technology-equals-progress – angezweifelt: Die Gleichsetzung von Technologie und Fortschritt. Nach diesem Verständnis  ist es die Technologie, die die Geschichte vorantreibt, und alles, was sie behindert, sind Irrläufer.  Noch weiter zugespitzt: Ist Big Tech Vollstrecker von Geschichte?
Dieses Narrativ macht es Tech- Firmen leicht, so aufzutreten, als sei das was gut für sie selber ist, auch gut für die Welt. So leitet etwa Google aktuell mit den Sätzen KI – zum Wohle der Gesellschaft – Künstliche Intelligenz ist eine der prägenden Technologien unserer Zeit – eine Selbstdarstellung ein, wo es zum Thema Regulierung geht.
Technischer Fortschritt war unentbehrlich für die verbesserten Lebensumstände in den vergangenen 250 Jahren – wir leben gesünder und länger.  Ein breiter  Wohlstand  war aber nicht das Ergebnis automatischer, garantierter Gewinne des technologischen Fortschritts, er wurde erkämpft bzw ausgehandelt. 

Big Tech Is Bad. Big A.I. Will Be Worseso übertitelte das Autorenduo (Acemoglu & Johnson) einen Essay in der New York Times vom 9.06.23. Ganz wie Big Tech – oder noch mehr – ist die Technologie für AI in den Händen weniger Konzerne.   Zudem nutzen sie die Quellen unserer gesamten Zivilisation bei der Errichtung eines neuen Datenmonopols.

Das Buch wurde in den USA geschrieben und bezieht sich – was den aktuellen Part betrifft – auf die dortigen Entwicklungen – und es ist eine politische Stellungnahme gegen die Deregulierungsideologie seit den 80er Jahren. Digitale Technologien haben in den USA ihr Epizentrum, die international dominierenden GAFAM- Konzerne ihren Sitz – und der Abstand zwischen Gewinnern und Verlierern ist grösser als anderswo – der Gedanke einer Shared Prosperity weniger entwickelt.
Im Schlusskapitel Redirecting Technology werden dann kritische Schritte genannt, die eine Demokratie unternehmen muss, damit der Nutzen der weiteren technologischen Entwicklung der gesamten Gesellschaft zu Gute kommt. Dazu zählen etwa Privacy Protection and Data Ownership, Tax Reform, Investing in Workers.  Mit Breaking up Big Tech liegen die Autoren auf einer Linie mit dem Rant gegen Digitale Monopole Big Tech muss weg von Martin Andree, der die deutschen und europäischen Verhältnisse beleuchtet.  Zentral ist die Beschränkung der Macht von Big Tech.
Im Hintergrund stellt sich die Frage: Haben uns die GAFAM den digitalen Fortschritt gebracht – oder haben sie sich ihn angeeignet? Big Tech/ Big AI kontrolliert die Felder, die Zukunftsthemen genannt werden – aber auch die Dimension von World Building haben.
Eine wesentliche Erkenntnis ist unauffällig, aber entscheidend: Wer die Macht hat, bestimmt die Erzählung. Das ist der Grund, warum Banken als too big to fail  gelten oder warum es „verrückt“ ist, die Macht der Technologie in Frage zu stellen

Von Harald Welzer stammt der Spruch  ohne positives Narrativ und die Vorstellung einer wünschenswerten Zukunft gäbe es keinen gesellschaftlichen Konsens, der diese herbeiführen könnte* – ist diese Vorstellung einer wünschenswerten Zukunft weiterhin an technischen Fortschritt gebunden?  – oder ist dieser als positives Narrativ verbraucht? Und es gibt das Konzept der Technogenese – das die evolutionäre Verbindung von technischem und gesellschaftlichem Wandel benennt.  Fortlaufendes Ergebnis ist die Herausbildung der materiellen und gesellschaftlichen Zivilisation.

Zum Start der Next Economy Open 23 am 7.12. – einer von Gunnar Sohn, Wirtschaftsblogger und Live- Streaming Pionier, veranstalteten Online- Konferenz zu Wirtschaft und digitaler Transformation – diskutiere ich mit Gunnar und Lutz Becker vor der Folie von Power and Progress über die Themen des Jahres 2023 – KI/AI und der dazugehörige Hype waren ganz sicher eine der bestimmendsten.  Das vorliegende Werk enthält auf 422 Seiten (+ bibliographischer Anhang) etliche weitere diskussionswürdige Passagen – soweit aber als Hintergrund zur morgigen Diskussion.

Daron Acemoglu & Simon Johnson: Power and Progress. Our Thousand- Year Struggle over Technology and Prosperity.  546 S. London, 223 – Deutsch: Macht und Fortschritt: Unser 1000-jähriges Ringen um Technologie und Wohlstand. Campus Verlag 2023 – 34 €-   Big Tech Is Bad. Big A.I. Will Be Worse. In: New York Times (9.06.23). Rezension in The Guardian (7.05.23): Power and Progress review – why the tech-equals-progress narrative must be challenged – FAZ a S (28.06.23) : Wie zähmt man die Tech-Giganten?  * vgl . Beitrag Buzzword Zukunft (12/20)



Die Landnahme der generativen KI

Foto: Emiliano Vittoriosi unsplash.com

Seit der Bereitstellung von Chat GPT ist generative KI/ AI der Hype des Jahres. GPT steht für Generative Pre-trained Transformer. Generative KI erkennt Muster aus den Daten, mit denen sie trainiert wurde und kann ausser Text auch Bild ( so  Midjourney – seit 16.08 auch Adobe), Code, Ton etc. ausgeben, grundsätzlich sind ganze Videosequenzen möglich. Die Ausgabe ist so gut, wie sie mit Inhalten versorgt und trainiert wurde.

Das erste Erlebnis ist meist verblüffend: Generative KI kann brauchbare Texte, in sich stimmige Ergebnisse ausgeben (Chat GPT berechnet Wahrscheinlichkeiten, so kann es auch plausibel klingende, aber falsche oder unsinnige Antworten ausgeben). Es braucht dazu keine Programmierkenntnisse,  der Chatbot als Benutzeroberfläche, die Bedienung über die Tastatur, die Dialogform machen den Zugang einfach. Kein anderes Tool im Netz hat sich jemals zuvor so schnell verbreitet, kaum eine Software wurde in solcher Breite auf ihre Möglichkeiten und ihre Anwendbarkeit getestet – sicherlich im Interesse der Anbieter und Investoren.

Chat GPT ist die Volksausgabe der KI: Gebrauchstexte jeder Art, E- Mails, Produktbeschreibungen und Marketingkampagnen werden bereits damit erstellt, Schüler lassen sich Hausaufgaben schreiben, Juristen durchforsten Gesetzestexte und Gerichtsurteile. Bewerbungsschreiben haben sich seitdem grundlegend verändert.  Kaum eine Agentur, die nicht über ihre Erfahrungen bloggt und postet. Welche Arbeitsgänge sich damit sinnvoll automatisieren lassen wird fortwährend ausprobiert.
Das ist noch der Anfang – generative KI ist so in viele Bereiche des Alltags- und Berufslebens eingedrungen und wird dort verbleiben. Grundsätzlicher Tenor ist bislang der eines nützlichen Assistenten, der Arbeitsschritte vereinfacht, oder des Sparring Partners bei der Ideenfindung. Manchmal kann man die Nutzung mit der einer erweiterten Google- Suche oder der Recherche in der Wikipedia vergleichen: Chat GPT erschliesst das im Netz vorhandene Wissen (mit Sperrdatum Sept. 2021).

Mit dem Begriff der Künstlichen Intelligenz hadere ich immer wieder. Der Vergleich bzw. Leistungsabgleich mit nicht- künstlicher, menschlicher, Intelligenz drängt sich immer wieder auf – eine Konkurrenz zum menschlichen Denken, Angst vor Kontrollverlust steht im Hintergrund. KI als Begriff wurde seit  seiner Einführung immer wieder kritisiert, hat sich aber dennoch verbreitet. KI Systeme folgen lediglich programmierten Algoritmen.  Beschreibungen wie “aus Daten lernende Systeme” sind wohl zu sperrig.

Die grossen Digitalkonzerne expandierten entlang sozialer Graphen Bild:mburpee/flickr.com

Digital Landgrab, deutsch Digitale Landnahme¹  kam als Begriff seit etwa 2010 auf. Bezeichnet wurde damit der Ausbau von Reichweiten im Digitalen Neuland  des Social Web,   die schnellst mögliche Besetzung strukturierender Funktionen. Auch in der Diskussion zum Überwachungskapitalismus  kommt der Begriff  immer wieder vor.
In der Soziologie gibt es das um Klaus Dörre und Carolin Amlinger entworfene Theorem der Landnahme des Finanzkapitalismus.  Näher an digitaler Landnahme liegt die Landnahme im Informationsraum (Boes et al. 2/2015). 

Eine Ableitung ist Graphnahme – was zunächst unverständlich klingt, dann aber eine bestimmte Dynamik auf den Punkt bringt:  es  bedeutet die Einnahme von Einflusszonen und Geschäftsfeldern entlang sozialer Graphen.  Bei der Expansion von Facebook stand der Social Graph im Zentrum: Soziale Graphen stellen Beziehungen zwischen einzelnen Entitäten dar – the global mapping of everybody and how they  are related ², das Ziel von Facebook war und ist, diesen Social Graph weiter auszuweiten, so dass er möglichst viele Menschen und Objekte umfasst. Michael Seemann hat mit diesem Modell in Die Macht der Plattformen die Expansion der  Plattformunternehmen beschrieben.
Facebook (incl. instagram und What’s App) expandierte über den Graphen der sozialen Verbindungen, Google über den Graphen der Interessen, Amazon über den Consumption Graph, Apple und Google teilen sich den Mobilfunkgraph (Seemann 2021, 159). Die Dominanz  der Plattformunternehmen beruht auf dem Wissen über die Verbindungen – ein entscheidender Machtfaktor.

Die Landnahme des Roboters im Wohnzimmer – erzeugt mit Adobe Firefly

Lässt sich das Bild einer Digitalen Landnahme sinnvoll auf den Durchbruch generativer KI anwenden?
Bisher wurde mit Digitaler Landnahme die Einnahme von Funktionen und Geschäftsfeldern beschrieben:   Airbnb  und Uber waren weitere Beispiele für  die Landnahme in bereits bestehenden Geschäftsfeldern. Gegenüber Uber gab es mehr Widerstände, die Landnahme von Airbnb hatte u.a. auch urbanistische  Auswirkungen.
Welche Funktionen, welche Geschäftsfelder generative KI einnimmt, ist ein Prozess, der gerade erst begonnen  hat. Die Technologie verbreitet sich von unterschiedlichen  Branchen aus. In der Kommunikations- und Marketingbranche spricht man mehr davon, wahrscheinlich verbreitet sie sich ebenso sehr in Bildung, Rechtswesen, Versicherungen und Finanzdienstleistungen. Die Landnahme ist im Gange.
Chat GPT ist noch in der Einführungsphase. Ein Geschenk der Hersteller an die Nutzer? Wohl genauso wenig, wie es die Google- Suche war. Sollen ebenso wie damals, Felder besetzt werden, bevor jemand anderer zuvorkommt? Es gibt Potential für Plattformen und Spezifizierungen die ebenso entlang von Graphen  ihren Einflussbereich ausbauen können.

Bessere Ergebnisse brauchen bessere und präzisere Eingaben bzw.  Anweisungen an den Chatbot. Prompt Engineering ist die überlegte Eingabe  möglichst exakter Anweisungen – eine Aufgabe menschlicher Intelligenz – ohne die richtige Fragestellung keine guten Ergebnisse.

Kritik bzw. Einwände leiten sich zumeist von der Verwendung des Trainingsmaterials ab: Generative KI stützt sich millionenfach auf Texte, Bilder, Code – auf den ganzen Schatz des Wissens, des Stils und der Bedeutungen, der ins Internet gelangt ist oder dort erzeugt wurde.  All das wurde bis dahin von Journalisten, Schriftstellern, Bloggern, von Illustratoren, Codern etc verfasst, fotografiert, gecodet, arrangiert, oft urheberrechtlich geschützt. Ist es kulturelle Aneignung, geistiger Diebstahl, diese Quellen ohne Zustimmung der Urheber als Trainingsmaterial zu nutzen? Ein Arsenal der Stilvorlagen?  Mit einigen Quellen haben die Betreiber mittlerweile Verträge abgeschlossen, so mit der Nachrichtenagentur AP (s. SZ, 23.07.).
Generative KI transportiert zudem die in Ursprungstexten enthaltenen Meinungen und Einstellungen, von der sie im Standard eine Art Median erzeugt. Rassistische Diskriminierung oder geschlechtsspezifische Verzerrungen werden genannt und sollen vermieden werden. Und: die Erwartung einer  Schwemme von KI- erzeugtem Spam. 

Schliesslich die Gefahr, dass immer mehr Entscheidungen an Maschinen und Algoritmen delegiert werden, somit ausserhalb demokratischer Kontrolle.  Je komplexer die Gesellschaft wird, desto attraktiver könnte es werden, Planungen und Evaluation an Maschinen zu delegieren (vgl. Th. Fuchs, 2022). 

¹Landnahme als soziologisches Konzept:  Andreas Boes, Tobias Kämpf, Barbara Langes, Thomas Lühr (7/2015) Landnahme im Informationsraum. Neukonstituierung gesellschaftlicher Arbeit in der „digitalen Gesellschaft”.  10(1). Jaron Lanier: There is No AI. The New Yorker 20.04.2023. There are ways of controlling the new technology—but first we have to stop mythologizing it James Bridle: The Stupidity pf AI. The Guardian 16.03.23  Matthew Hudson: Can we stop Runaway A.I. ?  The New Yorker. 16.05.2023 – Micah Sifray: The AI Land Grab Begins. The Connector. 16.05.2023 Thomas Fuchs: Human and Artificial Intelligence: A Critical Comparison(6/2022) Jürgen Geuter (tante@tante.cc) : Bullshit, der (e)skaliert. Golem 16.03.23.  Afri- Cola: afri und die künstliche Intelligenz . Brühl/ Janisch/ Kreye: Einfach nur hungrig. Künstliche Intelligenz und Urheberrecht. Süddeutsche Zeitung 23.07.2023.  — vgl. auch : ChatGPT: Wie künstliche Intelligenz den Anwaltsberuf revolu­tioniert (7/23). Zum Urheberrecht: F. Reinholz und K. Berlage: KI und Copyright – wie hält es ChatGPT mit dem Urheberrecht? (3/23)

 



Hypes und ihre Weiterwirkung

Es geht voran – ein Blick in die Zukunft. Bild: Harsh Shivam. pexels.com

Vor einem Jahr sprach man von Krisen – in diesem Jahr spricht man von Hypes. Gleich mehrere Hypes folgten so bruchlos aufeinander, dass das Phänomen Hype selber zum Thema wird. Die Zyklen technologischer Trends schliessen schnell aneinander, und versprechen eine neue Welt. Welche Weiterwirkung haben sie in unserer Gesellschaft?
Zyklen von Hypes technologischer Neuerungen werden seit längerem thematisiert (Gartner-Zyklen), Der Verlauf spiegelt Muster wieder, ist aber nicht zwangsläufig.
Die Hypes der letzten Jahre gehen darüber hinaus: es sind Hypes, die sich als zwangsläufige Zukunft inszenieren. Sie gehen aus von den grossen Tech- Konzernen bzw. deren Umfeld, die im vergangenen Jahrzehnt im Social Web reich geworden sind.  Sie nehmen eine Stelle von Zukunftsvisionen ein. Der Ausdruck Futures Appropriation drückt eine Aneignung von Zukunft durch sie aus – darunter geht es kaum.
Der folgende Text überschneidet sich mit einem anderen (Hypes: Metaverse – Web3 – ChatGPT – Vom Zweiten zum Dritten Netz?) – steht aber in zeitlicher Distanz von knapp vier Monaten. 

Der Hype um Web3 ist schon fast Geschichte, taucht aber immer wieder als Referenz auf. Manchmal aus Unkenntnis, öfter um Abgrenzung auszudrücken. Über Web3 ist fast alles abschliessend gesagt, was es zu sagen gibt:  Der Rant  Das dritte Web von Jürgen Geuter, (@tante) lässt an Kritik nichts über.  Vor drei Monaten erschien zudem der Forschungsbericht Expansive and extractive networks of Web3 (2023), der Web3 aus seinem spezifischen Habitat heraus erklärt.
Die Autoren Jathan Sadowski & Kaitlin Beegle beschreiben Web3 als eine Art Fallstudie des Risikokapitalismus aus Silicon Valley: Web3 was not an anomaly in the broader tech industry. It should be understood as a product of that industry, which articulates patterns and dynamics that existed before Web3 and will exist after — The innovations may not survive, but the model continues to thrive
Web3 vermengt Elemente, die man ansonsten kaum zusammenbringt: Eine Rhetorik von Dezentralität, die letztlich zu Konzentration führt, dazu einen enormen Energieverbrauch und eine Spekulationsblase.  Keine Regulierung, keine Institutionen,  kein Staat bzw. möglichst wenig davon, eine “libertäre”, anarchokapitalische  Ideologie mit Anklängen an Ayn Rand, einer Autorin des enthemmten  darwinistischen Kapitalismus. 

Einstieg in eine parallele Welt – auf dem Höhepunkt des Hype – Time Magazine 8/22

Das Metaverse ist vorerst auserzählt – zumindest mit der Perspektive einer medialen Infrastruktur incl. virtueller sozialer Beziehungen und digitalem Eigentum. Mit dem Einstieg in eine parallele Welt ist eine Faszination verbunden – eine uralte, archetypische Erzählung bzw.  Narrativ. Der Begriff selber greift die Dystopie aus dem  Science Fiction Roman Snowcrash auf, in dem Menschen als Avatare ihrer selbst miteinander kommunizieren.
Die Vision des Metaverse wurde immer etwas vorsichtig bis nebulös beschrieben: Ob es das Metaverse jemals geben würde, wurde immer offen gelassen, damit auch die Möglichkeiten der Verwirklichung.
Der Hype scheint in eine Richtung kanalisiert zu sein, in dem es um die Umsetzung einzelner konkreter Anwendungen, wie etwa Architekturmodelle, Simulationen zu Trainingsanwendungen, Konferenzschaltungen geht.  Nüchterne Begriffe wie immersive Medien und Spatial Computing stehen nun im Vordergrund, es geht um nützliche Anwendbarkeit.
Das Zusammenwachsen dieser Anwendungen ist vorerst unwahrscheinlich, dennoch eine – mögliche – langfristige Perspektive. Metaverse- Erfahrungen einer parallelen Welt sind am ehesten im Gaming- Bereich denkbar. Die Datenbrille als das neue Smartphone, das den Zugang zu einer neuen medialen Infrastruktur gewährleistet, bleibt aber in weiter Ferne. Die Mehrheit der Menschen kann sich nicht damit anfreunden, wahrscheinlich erinnert sie zu sehr an eine Prothese.
Der Traum/ die Vorstellung vom Metaverse bleibt aber, wie eine aktuelle Definition von Leslie Shannon (Autorin Interconnected Realities) zeigt: The Metaverse is a partly- or fully-digital experience that brings together people, places, ans/or information in real time in a way that transcends that which is possible in the physical world alone, in order to solve a problem. Gemeint ist eine neue Form der Mensch/ Maschine – Interaktion.
Ausgerechnet in einer Branche, die an sich so sehr mit der Inszenierung des Körpers verbunden ist, lebt der ursprüngliche Entwurf des Metaverse fort –  zumindest  in dem Bereich der Fashionwelt, dessen Wertschöpfung sich von materiellen Kosten losgelöst hat. Metaverse Fashion Week ist ein Laufsteg dematerialisierter Mode – und erstaunlich viele Unternehmen beteiligen sich daran. Mode, die Avatare bekleidet, hat den  Charakter von NFTs – den digitalen Unikaten des Web3.
Digitale und virtuelle Kunst ist zu einem integralen Bestandteil der lokalen visuellen Sprache geworden – nicht nur in der Kunstwelt, sondern auch unter Chinas innovativsten Modedesigner:innen – so zitiert die Vogue (D)  die Chefredakteurin der chinesischen Ausgabe Margaret Zhang, anscheinend  gibt es kulturell bedingte Unterschiede.

Ist der Chat Bot wirklich intelligent? – Foto von Rock’n Roll Monkey Unsplash.com

Die Breitenwirkung des dritten Hype, Chat GPT, ist ungleich grösser. ChatGPT ist die Volksausgabe der künstlichen Intelligenz. Der Hype ist zwar ebenso von Investoren initiiert, wird aber in einer ganz anderen Dimension von Anwendern getragen. Millionen experimentieren damit, testen den Gebrauch, die Zusammenführung von Inhalten und überhaupt alle Möglichkeiten,  die der ChatBot bietet.
Misst man eine Technologie daran, wie erfolgreich sie Probleme löst, dann löst Chat GPT bislang eine Reihe von Alltagsproblemen:  Schüler und Studenten erledigen damit Hausaufgaben, Anschreiben von Bewerbungen werden damit erstellt. Werbemails, wahrscheinlich oft genug juristischer Texte – allesamt weitgehend standardisierte Textformate.  Seit dem Start von Chat GPT  im letzten Winter ist das Ausmass der Verbreitung kaum mehr zu überblicken.
Man kann es auch positiver formulieren: Chat GPT erschliesst das Wissen und die Formen aus den Datenbeständen des Web und gibt sie als Text, Bild, Code aus und bietet nutzbare Lösungen. Manchmal ersetzt es die Suchmaschine oder Wikipedia. Komplexere Ergebnisse erfordern komplexere  Handlungsanweisungen. Prompt Engineering ist die Kunst, sie so zu formulieren, dass  die Software  die bestmöglichen erwünschten Ergebnisse zeigt. Ein sehr anschauliches Beispiel – ohne jede Rücksicht auf Urheberrechte – gibt es in einem Spot von Afri- Cola – die Ideen stammen von kreativen Köpfen, die Umsetzung von der KI/ AI.
Auch KI hat eine archetypische Hintergrunderzählung: die Schaffung einer aussermenschlichen Intelligenz war und ist immer ein Motiv, nicht nur in  Science Fiction, sie ist viel älter. Dahinter steht die Furcht, das Erschaffene könne den Schöpfer übertreffen und seiner Kontrolle entkommen – die menschlich gestaltete Zivilisation von ihrem Produkt übernommen werden.
Dagegen steht der Einwand, dass Chat GPT und generell das, was als KI/ AI bezeichnet wird, überhaupt nicht intelligent ist. Ein Einwand, ebenso alt, wie die Technologie selber – und der sich immer wieder an dem Begriff KI/AI entzündet.
Und es gibt das Problem der missachteten Urheberrechte, schliesslich greifen die Crawler der Chat Bots auf alle zugänglichen Texte und Bilder als Trainingsdaten zu. Wie gut die KI ist, hängt davon ab, wieviel Texte (und Bilder) sie verschlungen hat- um Urheberrechte schert sie sich nicht. Allerdings ist der Umfang der Geschäfte so gross, dass man erwarten kann, dass es zu Einigungen kommt.

Techniken setzen nur dann durch, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen (Armin Nassehi) bzw., wenn sie ein Problem lösen. Das scheint der Fall zu sein …
Rechenleistungen sind nicht energieneutral – egal, ob Bitcoins geschürft, parallele Welten gerendert werden oder ein Chat Bot Daten durchpflügt und Ausgaben kreiert.

Für diesen Text wurde ChatGPT nicht benutzt, aber folgende Quellen: Sadowski, J., & Beegle, K. (2023). Expansive and extractive networks of Web3. Big Data & Society, 10(1). Leslie Shannon: Interconnected Realities: How the Metaverse Will Transform Our Relationship to Technology Forever (2023) Jaron Lanier: There is No AI. The New Yorker 20.04.2023. There are ways of controlling the new technology—but first we have to stop mythologizing it Matthew Hudson: Can we stop Runaway A.I. ?  The New Yorker. 16.05.2023 –  Dirk Songuer: Fieldnotes from the Metaverse  Jürgen Geuter (tante@tante.cc) : Bullshit, der (e)skaliert. Golem 16.03.23.  Michael Schütz: Warum Chat GPT nicht intelligent ist. planung&analyse. 20.6.2023 Thomas Riedel: Ist ChatGPT das neue Metaverse? Absatzwirtschaft 11.07.2023. VOGUE Meta-Ocean“: Erleben Sie die Welt der Mode im Metaverse | Vogue Germany . 10/2022. Afri- Cola: afri und die künstliche Intelligenz . Brühl/ Janisch/ Kreye: Einfach nur hungrig. Künstliche Intelligenz und Urheberrecht. Süddeutsche Zeitung 23.07.2023

 



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