Gesellschaft 4.0 ?- Networked Economy und Networked Sociality

Gesellschaft 4.0 ist ein etwas seltsamer Begriff, der sich einreiht in die Serie von 4.0 Begriffen (Arbeit, Technologie, Wirtschaft, PolitikGesundheit), die alle auf Industrie 4.0 zurückgehen. Industrie 4.0 verweist auf automatisierte Digitalisierung als vierter industrieller Revolution – nach Mechanisierung, Elektrifizierung und Informatisierung. 4.0 steht für das von Ministerien, Unternehmen, Verbänden etc. getragene Zukunftsprojekt für eine vernetzte Produktion und Wirtschaft.
Fasst man es knapp, ist Industrie 4.0 eine Zielvorstellung bzw. Vision Digitaler Transformation. Zunächst geht es dabei um die Sicherung Deutschlands als führendem Produktionsstandort. Die Spitzenstellung v.a. in Anlagenbau und Produktionstechnik soll gesichert und ausgebaut werden. Intelligente und flexible Produktion – Smart Factories – soll die Potentiale automatisierter Fertigung und Logistik, das Internet der Dinge für individuell angepasste Produkte nutzen – Networked Economy.

Erwerbsarbeit bedarf einer neuen Definition Bildnachweis: kallejipp / photocase.de

Wenn die Produktion von Gütern, die Ausführung von Dienstleistungen und ihre Organisation sich grundsätzlich verändert, dann gilt das auch für die Arbeit und ihre Organisation. Automatisierung bedeutet den Wegfall von Arbeitsplätzen bei gleichzeitig erhöhter Wertschöpfung – das macht Arbeit 4.0 zu einer Verteilungsfrage. Das Verständnis von Erwerbsarbeit bedarf einer neuen Definition.
Das Bundesministeriums für Arbeit und Soziales hat ein umfangreiches Weißbuch Arbeiten 4.0 dazu herausgegeben.
Ausführungen zu Gesellschaft 4.0 fallen in der 4.0 Debatte bisher dünn aus. Für sich allein genommen macht der Begriff wenig Sinn. Die Versionsnummer ist einer anderen Zählweise entlehnt, was wäre etwa Gesellschaft 2.0 gewesen? Die Ableitung von Industrie 4.0 bringt zudem den Beigeschmack mit, den Erfordernissen der produzierenden Wirtschaft nachgeordnet zu sein.
Gesellschaftliche Prozesse sind interdependent mit wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen verflochten, nicht nachfolgend als Gegenstand von Folgeeinschätzungen. Gesellschaften werden wesentlich über Aushandlungsprozesse zusammengehalten – über das, was schön ist oder als solches gilt, was recht ist, welches Maß an Ungleichheit akzeptiert wird, welches Verhalten, welcher Lebenswandel angemessen erscheint – letztlich dem, was eine Kultur, eine Zivilisation ausmacht.

Networked Sociality

„Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaften, und die Verbreitung der Vernetzungslogik verändert die Funktionsweise und die Ergebnisse von Prozessen der Produktion, Erfahrung, Macht und Kultur wesentlich“ – diesen Satz von Manuel Castells zur transformativen Kraft von Netzwerken aus „Die Netzwerkgesellschaft“ (2001, S. 527) kann man über fast alle Ausführungen zum Digitalem Wandel stellen.
Prinzipien wie Konnektivität (die Möglichkeit der Verbindung zwischen allen Beteiligten bzw. items in einem Netzwerk) finden sich in sozialen wie in technischen Zusammenhängen. Automatisierte Personalisierung (die Möglichkeit „maßgeschneiderter“ Anpassung), wie sie für Industrie 4.0 zentral ist, finden wir im Marketing, Gesellschaft der Massenmedien zu einer der personalisierter Medien und überall dort, wo Matchingergebnisse angestrebt werden.
Die Prinzipien von Organisiertheit haben sich verschoben: an die Stelle von Versäulungen, den traditionellen meist orts-, und oft konfessions-, gewerkschafts- oder parteigebundenen Organisationen treten individualisierte Vergemeinschaftungen – Networked Sociality. Das Bild der Granularen Gesellschaft von Christoph Kucklick kommt dem nahe. Ebenso passt das auf Norbert Elias zurückgehende Konzept der Figurationen zu den sich immer neu arrangierenden Konstellationen – bzw. Digitalen Figurationen.
Wenn es eine erstrebenswerte Vision einer “Gesellschaft 4.0” gibt, dann ist es die digital vernetzte Zivilgesellschaft – oder eben einer Digitalen Zivilisation.

 

 




D2030 – Szenarios der Transformation

Wenn es um Digitalen Wandel bzw. Digitale Transformation geht es immer auch um Aussagen zur Zukunft. Wohin treibt der Wandel? Wie transformieren sich Systeme? Digitale Innovationen haben in den vergangenen Jahrzehnten eine Branche nach der anderen umgekrempelt, die öffentliche Kommunikation neu definiert, weiterhin treibt Digitalisierung Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft an. Immer deutlicher wirkt sie sich auf die großen Systeme, wie Arbeit, Bildung, Mobilität und Handel aus. Transformation bedeutet einen Prozess der Umgestaltung, der Ausrichtung nach einer neuen Logik.
“Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaften, und die Verbreitung der Vernetzungslogik verändert die Funktionsweise und die Ergebnisse von Prozessen der Produktion, Erfahrung, Macht und Kultur wesentlich” – so fasste Manuel Castells in “Die Netzwerkgesellschaft” (2001, S. 527) die transformative Kraft von Netzwerken zusammen. In “Kultur der Digitalität” nennt Felix Stalder die emanzipativen Bewegungen seit den 60er und 70er Jahren und die neoliberale Transformation des Kapitalismus seit den 80er Jahren als kulturelle Antriebskräfte gesellschaftlicher Transformationen. Prinzipien, wie Konnektivität, die Personalisierung von Angeboten und das Matching verbreiten sich.

Bei allem Verständnis von Trends und langfristigen Entwicklungen bleibt Zukunft nur sehr eingeschränkt vorhersehbar. Gewiß ist, das was tatsächlich geschehen wird, ungewiß bleibt.
Die Zukunftsinitiative D2030 befasst sich mit dem, was möglich ist: In einem offenen Prozess wurden Szenarios für mögliche Zukünfte Deutschlands bis zum Jahr 2030 entwickelt  und diese werden in einem Online-Dialog zur Diskussion gestellt.

Die Zukunftslandkarte D2030 (nach Klick in voller Auflösung)

Herausgekommen sind vier Grundszenarien mit so anschaulichen Bezeichnungen wie (1) Spurtreue Beschleunigung, (2) Neue Horizonte, (3) Bewußte Abkopplung und (4) Alte Grenzen. Die ersten beiden umfassen jeweils drei Subszenarien mit den ebenso sprechenden Namen Unaufhaltsamer Abstieg, Spaltung trotz wirtschaftlichem Erfolg, Wohlfühl- Wohlstand (zu 1) und Spielräume für die Zivilgesellschaft, Stärke durch Vielfalt und Renaissance der Politik (zu 2).
Zugrunde liegende Fragen und Recherchen erstrecken sich auf zahlreiche Einzelthemen und Einflußfaktoren. Kernfragen sind die zur Einstellung zu Veränderung und Bereitschaft zu globaler Zusammenarbeit sowie zu Nachhaltigkeit und bürgerschaftlichem Engagement (diese geben die Achsen auf der oben abgebildeten Zukunftslandkarte vor). Alle Szenarios werden auf die Perspektiven in zehn wesentlichen Feldern abgeklopft: Wirtschaft, Wohlstand, Wettbewerbsfähigkeit, Digitale Transformation, Arbeitswelt und Soziale Sicherheit, Rolle von Politik und Zivilgesellschaft; Zuwanderung und Integration; Gesellschaftliche Werte und Konflikte; Energie, Mobilität und Wohnen; Umwelt und Nachhaltigkeit; Innere Sicherheit; Deutschlands Rolle in Europa und der Welt.
Grundsätzlich geht es bei D2030 darum, vernetztes und langfristiges Denken in sozialen, ökonomischen und politischen Entscheidungsprozessen zu verankern. Die Szenarios sollen nicht zeigen, was wird, sondern sie sollen als Denkwerkzeuge verdeutlichen, was möglich ist. Absicht ist, die Sichtweite in den folgenden Diskussionen zu erweitern. Am 6./7. Juli fand dazu in Berlin Deutschland weiterdenken – D2030 – Die Zukunftskonferenz statt, zur Bundestagswahl im September wird ein Memorandum erstellt.

Zukunft 2030 ist mehr als Digitaler Wandel (bzw. Transformation). Allerdings sind die Perspektiven sämtlich mit der Verbreitung der Vernetzungslogik verbunden. Es ist die Art und Weise, wie mit Problemlagen umgegangen wird. Das könnte zumindest zu den in den Szenarien vorgestellten sehr unterschiedlichen Entwicklungen führen. Die Perspektiven reichen von einer digitalen Zivilgesellschaft bis zur Tendenz zur Abschottung in Alten Grenzen – letzteres könnte man sich dann als einen musealisierten Themenpark Industrie vorstellen.

Der Ansatz geht weit über bestehende Begriffe, wie Industrie 4.0 und darauf folgend Arbeit/Bildung/Gesundheit 4.0 etc., hinaus. Dieser geht auf die von der Bundesregierung eingeleitete Kampagne Zukunftsprojekt Industrie 4.0, zurück. Dabei steht Standortsicherung im Vordergrund.  (aktualisiert 14/07/17)



New Work und Flexibilisierung

flexibel und agil

New Work ist Buzzword geworden – als eigener Begriff und unter der etwas seltsam konstruierten, von Industrie 4.0 abgeleiteten Bezeichnung Arbeit 4.0. Letztere v.a. im Umfeld staatlicher Stellen (so das Weißbuch Arbeiten 4.0  des Ministeriums für Arbeit und Soziales).
Als Begriff geht New Work auf den deutsch-amerikanischen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann zurück. In dessen Verständnis von Arbeit stehen drei Formen gleichrangig nebeneinander: die klassische Erwerbsarbeit, eine modernisierte Subsistenzwirtschaft (so High-Tech-Self-Providing) und die leidenschaftliche Arbeit, die man wirklich, wirklich tun will – in Übereinstimmung mit den eigenen Wünschen, Hoffnungen, Träumen und Begabungen.
Soweit ein Ansatz zur Lebensreform, der sich mehr an Menschen richtet, die für sich selber entscheiden, als an Entscheider, die dies für andere tun. Es geht um den Anspruch, die eigene Lebenswirklichkeit selber zu gestalten oder zumindest eine  persönliche Balance abzusichern. Die aktuelle Diskussion zu New Work findet hingegen im Kontext von Personalführung und Organisationsentwicklung statt – aus sehr unterschiedlichen Perspektiven: der von Unternehmen und Organisationen, der von Beratern, von staatlichen Stellen und den ganz individuellen Sichtweisen.
So ist New Work in der begrifflichen Verwendung sehr weitgespannt,  fast überdehnt. Wo eine Grenze bzw. ein Übergang zwischen Neuer und dementsprechend Alter Arbeit liegt, bleibt weitgehend unscharf. Bedeuten neue Kommunikationsmittel, etwas Hierarchieabbau, einige Anpassungen an technische Innovationen und gesellschaftliche Wandlungsprozesse gleich Neue Arbeit?  Erwerbsarbeit gilt als Gradmesser gesellschaftlicher Integration, Vollbeschäftigung als politischer Erfolg. Kulturelle Dominanz und Deutungshoheit in diesem Feld bedeuten reale Macht, vorherrschende kulturelle Standards haben normative Kraft.  All das trägt zur Attraktivität des Begriffs New Work bei.

Aufzeichnungen zur Arbeitswelt (World Café Transformation der Systeme)

Digitalisierung ermöglicht ganz andere Organisationsformen und ein mehr an Flexibilität als vordem jemals möglich war. Das ist das kollaborative Potential. Grundlage ist das Prinzip der Konnektivität, dass sich grundsätzlich jeder mit jedem verbinden kann, ergänzt durch das der Consozialität – der Verbindung über Gemeinsamkeiten. Das ergibt neue Möglichkeiten der Verknüpfung von Akteuren, Inhalten und Ideen – auch in ergebnisorientierter Kooperation: Arbeit.

Flexibilisierung (eine Form der Individualisierung) war und ist zum einen eine der wesentlichen Forderungen der neoliberalen Agenda seit den 80er Jahren – im betriebswirtschaftlichen Sinne. Abbau bürokratischer Hemmnisse, Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen, generell aller wirtschaftlicher Aktivitäten und der Beschäftigungsverhältnisse im besonderen – und ebenso der Systeme der sozialen Absicherung.
Eine immer wiederkehrende These ist die, erst die sozialen Bewegungen der 60er bis 80er Jahre hätten die neoliberale Transformation des Kapitalismus seit den 80er Jahren ermöglicht. Beide Strömungen operierten mit dem attraktiven Begriff der persönlichen Freiheit, beide wandten sich gegen verkrustete Strukturen  hierarchisch-  bürokratischer Organisationen. Felix Stalder nennt in Kultur der Digitalität beide Strömungen als Treiber der gesellschaftlichen Transformationen (S. 32), die die Gegenwart der digitalen  Moderne prägen. In ihrem Ursprüngen liegen sie weit auseinander – ging es den Neuen Sozialen Bewegungen um Beteiligung, Zusammenleben und Persönlichkeitsentwicklung, ging es den Marktradikalen (“there is no such thing as society“, Thatcher) um die Freiheit des Marktes. Verbunden mit der Kritik am Wohlfahrtsstaat sollte jeder selber für sein Leben verantwortlich sein.
Pop- Autor Diedrich Diedrichsen spricht von der Lockerungsrevolte, in deren Folge Kreativität zu einer ökonomischen Ressource wurde. Kalifornischer Flower Power zählt zumindest zu dem Humus, auf dem die digitale Revolution gedieh.

Man denke an die Alternativbewegungen der 70er und 80er Jahre, in denen man anstrebte, Arbeit außerhalb des “Systems” zu organisieren. Die damals vorherrschende Unternehmenskulturen hielt man oft für unerträglich. Zwanzig Jahre später scheute die Digitale Bohème nicht mehr dessen Nähe. “So arbeiten, wie man leben will, und trotzdem ausreichend Geld damit verdienen” wurde zum Leitspruch, der in der Breite nachwirkt.
New Work ist letztlich eine kulturelle Frage, in der Begriffsverwendung unscharf, aber attraktiv. Arbeit ist ein mehrschichtiger Begriff, Erwerbsarbeit bedeutet letztlich das, was andere (Kunden) bereit sind, für das, was wir tun (bzw. liefern), zu zahlen. Für Arbeitnehmer in privilegierten Situationen bedeutet es, individuell bestmögliche Bedingungen auszuhandeln. Und es ist ein vortreffliches Geschäftsfeld für Berater. Gesellschaftliche Wandlungsprozesse finden ohnehin statt – neue Arbeitsumgebungen entstehen immer wieder.

Dieser Beitrag ist Teil der von Winfried Felser initiierten Blogparade zu New Work – #newwork17

Felix Stalder, 2016: Kultur der Digitalität. edition suhrkamp 2679;  283 S., 18 €; Wolf Lotter: Gute Arbeit. In: Brand Eins 03/2017 – Schwerpunkt Neue Arbeit. S. 32 – 40; Header: kallejipp / photocase.de;


Kultur der Digitalität (Rezension)

Fast drei Jahre Arbeit für mich, kaum ein Tag lesen für euch. Hoffentlich ein fairer Deal.” Ganz so schnell und flüssig, wie in seinem Blog angekündigt, liest und erschliesst sich Kultur der Digitalität, immerhin 283 Seiten, des Schweizer Medienwissenschaftlers Felix Stalder nicht. Das Buch erschien bereits im Mai 2016, so wurde schon einiges dazu gesagt und geschrieben – aus unterschiedlichen Perspektiven.
Kultur ist ein Begriff mit mehreren Bedeutungsebenen. Zum einen die kulturelle Produktion und Rezeption, die sich in Sparten gliedert, zum anderen eine Art Formatierung von Gesellschaft und Teilgesellschaften – in begrifflicher Konkurrenz zu Zivilisation. In den Cultural Studies gibt es die Formel “the whole way of life of a group of people”. Wir sprechen von Hochkultur, Volkskultur, Pop(ular)kultur, von Subkulturen und Unternehmenskulturen, von Esskultur, Nutzungskultur, Kulturwirtschaft  und manchmal auch digitaler Kultur. Mit letzterer sind mal Games und andere Sparten, deren Werkstoff Software ist, mal die Standards im Umgang mit digitalen Medien und Techniken gemeint.

Kultur der Digitalität meint die von einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur geprägte Lebens- und Arbeitswelt. Das Buch besteht aus drei Teilen: Der erste handelt von den Wegen in die Digitalität – den Voraussetzungen;  im zweiten  geht es um die Formen, erkennbare Eigenschaften die kulturelle Prozesse in der Digitalität annehmen; im dritten Teil um politische Perspektiven: Postdemokratie und Commons.
In einem Interview präzisiert Stalder seine Begrifflichkeit von Kultur als der Summe aller Aushandlungsprozesse geteilter Bedeutung: über das, was schön ist und was nicht, was erlaubt oder verboten, was wichtig und was unwichtig ist, etc. (16). Solche Prozesse finden in der gesamten Gesellschaft ebenso wie in Teilbereichen statt. Manche Themen sind abgeschlossen, andere offen bzw. umstritten. Kultur ist nichts Statisches, sondern ein Feld der Auseinandersetzung.
Digitalität ist das Muster, die Ordnung, die diese Prozesse angenommen haben. Keine einseitige Folge technischer Innovationen, die neuen Technologien trafen auf bereits laufende gesellschaftliche Transformationsprozesse (21), die in die vergangenen Jahrzehnte zurückreichen. Die Wurzeln reichen ebenso in die Neuen Sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre, wie in neoliberale Ideen und Politik. Wenn auch mit unterschiedlichem Hintergrund operierten beide mit Begriffen der persönlichen Freiheit und gesellschaftlicher Flexibilisierung.
Waren diese Entwicklungen zunächst nur in Nischen spürbar, durchdringen sie nun die Gesellschaft als Ganzes.  Digitalität verweist auf die neuen Möglichkeiten der Konstitution und der Verknüpfung von Akteuren, Inhalten und Ideen, ein relationales Muster, das bestimmend wird (18). Expressivität, die Fähigkeit Eigenes zu kommunizieren (93), wird nun zu einer Kompetenz, die von allen erwartet wird, Filterung und Bedeutungszuweisung zu Alltagsanforderungen.

Digitalität

Drei kulturelle Formen der Digitalität sind zentral:
Referentialität meint die “Nutzung bestehenden kulturellen Materials für die eigene Produktion” – wir kennen es zum einen aus Remixes, Collagen, MashUps, Coverversionen, Inszenierungen wie Cosplay: Einzelne Elemente, oft aus dem Fundus der Popkultur werden mit neuer Bedeutungszuweisung zusammengeführt.
Im Netz werden fremderstellte Inhalte kuratiert bzw. in den eigenen Kontext eingebunden, das reicht von der anmoderierten Verlinkung bei Twitter zu kuratiertem Journalismus und Content. Pinterest sowieso. 
Gemeinschaftlichkeit Die großen Mechanismen der Vergesellschaftung verlieren an Einfluß – explizite normative Zwänge nehmen ab, implizite ökonomische zu. Die einst prägenden Organisationen lassen in ihrer Bindungskraft nach – so Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Vereine. Stalder orientiert sich am empirischen Konzept der Community of Practice: informeller, aber strukturierter Austausch, gerichtet auf neue Wissens- und Handlungsmöglichkeiten, reflexive Interpretation der eigenen Praxis (136).
Immer mehr Menschen können und müssen zwar selbstverantwortlich handeln, ohne jedoch auf die Bedingungen, die soziale Textur, unter denen dies geschehen muss, Einfluss nehmen zu können. Persönliche Positionierung im eigenen Netzwerk wird bedeutsam, die Frage “Wer ist in meinem Netzwerk und was ist meine Position darin?” (140) kommt auf. Im gelungenen Falle geht es um flexible Kooperation.
Algorithmizität Ohne auf Algorithmen beruhende automatisierte Verfahren wären die Möglichkeiten der digitalen Welt kaum nutzbar. Als automatisierte Personalisierung steuern Algorithmen Werbung, mit Zuordnungen und Sortierungen beeinflussen sie kulturelle Prozesse. Und ihre Bedeutung nimmt in immer komplexeren Vorgängen zu, z.B. in der Automobilität.
Der dritte Teil des Buches ist Ausblick mit den Kontrasten Postdemokratie und Commons. So folgt der Aufstieg der kommerziellen sozialen Massenmedien keinem technologischem Imperativ, sondern Folge einer spezifischen politisch-ökonomisch-technischen Konstellation (209).

Kultur der Digitalität ist ein weitgefasster Entwurf zur Entwicklung der digitalen Gesellschaft. Nicht im Sinne der technischen Durchsetzung – sondern dem ihrer Textur, der grundlegenden Strukturierung. Es gibt einen großen Bogen von der beginnenden Transformation bis hin zur Postdigitalität. Themen wie die Wissensökonomie, Erosion der Heteronormativität, Postkolonialismus werden behandelt. Manches entspricht dem, was anderswo als  Prozesse der  Individualisierung und Informalisierung beschrieben wird. Das Werk von Manuel Castells (Die Netzwerkgesellschaft) und das Modell des Neuen Sozialen Betriebssystems  stehen im Hintergrund.

Das grundlegende Thema bleibt die Verhandlung von sozialer Bedeutung in kulturellen Prozessen. Kultur der Digitalität lässt sich auch in Anlehnung an Norbert Elias als ein Prozess der Digitalisierung verstehen. Der Satz “Das Feld der Kultur ist von konkurrierenden Machtansprüchen und Machtdispositiven durchzogen” (17) erinnert zumindest an das Konzept der Machtbalance.
Ausgangspunkt des Buches ist MacLuhans These vom Ende der Gutenberg-Galaxis, vom Ende des Buches als Leitmedium. Es zeugt von dessen Langlebigkeit, wenn auch solche Texte als Buch (und E-Book) erscheinen. Edition Suhrkamp kann als Referenz zu den sozial- und geisteswissenschaftlichen Autoren gelten, die in den vergangenen Jahrzehnten darüber Verbreitung fanden. Was man vermisst ist ein Literaturverzeichnis. Quellen und Zitate sind zwar mit Fussnoten gut dokumentiert, ohne ist das Querlesen  aber mühsam.

Felix Stalder, 2016: Kultur der Digitalität. edition suhrkamp 2679;  283 S., 18 € 



Klaus Janowitz (klausmjan)

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