Digitale Consumer Culture

Standardwerk von 1991, second edition 2007

Digital Consumer Culture ist  ein sich zunächst selbst erklärender Begriff, eine Ausweitung bzw. Spezifizierung von Consumer Culture.
Consumer Culture tauchte als Konzept seit den 80er Jahren auf, in den 90ern erschienen mit Consumer Culture and Postmodernism (1991 u. 2007) von Mike Featherstone und  Consumer Culture & Modernity (1997) von Dan Slater,  zwei heute als Klassiker angesehene Titel.
Social arrangement in which the relations between lived culture and social resources, between meaningful ways of life and the symbolic and material resources on which they depend, are mediated through markets* – so eine Definition nach Dan Slater (1998). Es überrascht nicht, dass die Diskurse zu Consumer Culture von Grossbritannien im Zeitalter Thatcher, mehr noch  Blair ausgingen,  entfaltet sich Consumer Culture doch in einem möglichst deregulierten Markt – und ist mit neoliberaler politischer Ökonomie verwoben:  Konsum als populäre Kultur, als kulturelle Praxis im globalisierten Marktkapitalismus.

Kulturelle Intermediäre in der Consumer Culture der 90er: The Face 1993 – Are nerds finally becoming fashionable?

Im Zentrum stand nicht mehr der Konsum aus einheitlicher Massenproduktion, wie er in der Nachkriegszeit typisch war. Globale Vielfalt, postmoderne Lebensstile, eine Ästhetisierung des Alltags waren hervortretende Begriffe  – auch Popkultur bzw. das, was vordem Counter Culture war, reihte sich ein in die Wahlmöglichkeiten des Konsums. Marktorientierte Professionen, wie Medien, Werbung, Design, Mode übernahmen eine Rolle als kulturelle Intermediäre – Creative Industries.
So erscheint Consumer Culture auf den ersten Blick als Synthese oder Amalgam von Popkultur und Marktwirtschaft, wie es in den damaligen Zeitgeist passte. Consumer Culture geht weit über den passiven Konsum von Produkten und Dienstleistungen hinaus, sie beinhaltet die Praktiken, die Identitäten und symbolischen Bedeutungen, die in das Leben  eingebunden sind.
Featherstones Ausführungen sind weit mehr, sie bedeuteten eine detailreiche Zeitanalyse an einem Wendepunkt der Moderne. Neben den damals verbreiteten Autoren wie Baudrillard, Foucault und Anthony Giddens, bezog sich Featherstone auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, nahm die Thesen des kulturellen Kapitals von Bourdieu auf, und Bezug auf die Elias’sche Zivilisationstheorie. So lässt sich das Buch im Kontext langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungen betrachten –  auch nach 32 (bzw. 15) Jahren aktuell. Nur von Postmoderne spricht man heute nicht mehr, höchstens im Rückblick – stattdessen von Spätmoderne bzw. postindustrieller Gesellschaft.
Inwieweit eine Verbindung zu den zur selben Zeit aufblühenden  Cultural Studies (John Fiske, Birmingham) bestand, ist nicht ganz deutlich.  Ganz knapp gefasst geht es dort um die politische Dynamik populärer Kultur. Konsumenten/ Fans von TV, Popmusik und Markenartikeln, oder auch Games kann eine aktive Rolle nachgesagt werden, in dem sie die kulturellen Bedeutungen der Objekte definieren.
Ebenso schliesst hier das (im Blog schon oft beschriebene) Konzept der (Consumer) Tribes an – posttraditionale Vergemeinschaftungen innerhalb einer Consumer Culture. Konsum ist ein Weg, soziale Identität zu konstruieren und kann Grundlage gemeinsamer Erfahrungen sein. Consumer Culture hat im Laufe der  Jahre  ein weites Forschungsfeld geöffnet und wurde zu einem zentralen Thema in Human- und Sozialwissenschaften + Business Studies – im deutschen Sprachraum allerdings weniger verbreitet.
Consumer Culture Theory bedeutet allerdings keine grosse, das ganze Feld umfassende Theorie, sondern verweist auf die dynamischen Beziehungen zwischen den Handlungen von Konsumenten, dem Markt und kulturellen Bedeutungen, den Narrativen. CCT sieht Konsumenten als aktive Teilnehmer in diesem Feld, die die von institutionellen Medien und Werbebotschaften verbreiteten Narrative oft auch entgegen der ursprünglichen Absicht umdeuten (können).  Damit setzt sie sich gegenüber älteren Vorstellungen, dass Konsumenten Objekte medialer Manipulationen seien, ab.

Einige hervortetende Merkmale lassen sich festhalten: Die Ausbreitung der Logik des Marktes in viele Bereiche  des sozialen, kulturellen und persönlichen Lebens – was auch mit sich zieht, dass sich Markttreibende aller vorhandenen kulturellen Bedeutungen – Narrative – bedienen. Eine lange Zeit bestehende Counter Culture, wie auch ethnische oder andere tribale Sonderkulturen werden zu weiteren Trägern kultureller Bedeutungslinien.  Im weiteren das Verwischen der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit mit Tendenzen, die gelegentlich als Prosumer bezeichnet werden.  Diese Entwicklungen, die bereits vor der eigentlichen Digitalisierung einsetzten, steigerten sich weiter mit ihr, bzw. nahmen entsprechende Formen an.

Digitale Consumer Culture Bild: Martin Sanchez; unsplash.com

Digitale Consumer Culture wurde bisher selten als solche beschrieben, die einzelnen Merkmale hingegen immer wieder. In den 90er Jahren begannen mehr und mehr Veränderungen durch Digitalisierung in der Breite spürbar zu werden:  Desktop Publishing, E- Mail, schliesslich Digitale Photographie, mp3 – und die einzelnen Funktionen wuchsen zusammen. Den entscheidenden Wandel zeigten dann aber frühe Plattformen wie E-Bay und Napster an.

Entscheidend wurde das Wissen über die Verbindungen. Bei Napster war es wer sich für welche Musik interessiert, darüber verfügt und wer sie teilt – ein Muster, wie es sich in immer wieder neuen Bereichen wiederholte: “the global mapping of everybody and how they’re related“** – die Kartographie der Gesellschaft entlang sozialer Graphen, wie es in der Consumer Culture der 90er Jahre vorgezeichnet war.
De darauf aufbauende Plattformisierung, die Macht der Plattformen, ist so das auffallendste Merkmal der Digital Consumer Culture, das  sie von der prä- digitalen Consumer Culture abhebt. Darüber wurde in den letzten 15 Jahren ausgiebig diskutiert, ein entscheidender Punkt ist die Adressierbarkeit über (verdatete) Merkmale, die das passgenaue Zusammenführen von Angebot und Nachfrage in datenreichen Märkten möglich macht – vom B2B, zu individualisierter Werbung, zu Matchings aller Art incl. Dating. Darauf gründet das Oligopol der GAFAM+ Unternehmen.
Weitere auffallende Merkmale sind die sog. Sharing Economy, die Verbreitung von Abo- Modellen, der Auftritt von Influencerinnen als Intermediären von Konsum und die Möglichkeit einer Art seriellen Singularisierung, d.h. eieinfache Möglichkeiten Produkte und Dienstleistungen zu individualisieren.
Ein Bedarf an Valorisierung von  Konsum, ästhetisch/ kultureller Wertzumessung entsteht. Oft geschieht das durch narrative Aufladung – Storytelling.  Kulturelle Ressourcen jeglicher Herkunft, ethnischer, historischer, popkultureller stehen zur Verfügung. Man lästert schon darüber, dass jede Tafel Schokolade, fast jeder Gebrauchsgegenstand narrativ aufgeladen wird – ein breites Arbeitsfeld von Agenturen als Intermediären von Narrativen, salopp gesagt. Die Spätmoderne seit der Jahrtausendwende brachte Veränderungen der gesamten Architektur der Lebens- und Arbeitswelt mit sich und wahrscheinlich ist Digital Consumer Culture eine der passendsten Bezeichnungen unserer Gegenwart. Fast jedem ist darin die Rolle als Konsumentin vertraut. Ohne Consumer Culture wäre Digitalisierung zumindest nicht in der Form verlaufen, wie wir sie erlebt haben.

Konsum wird oft als Ersatzhandlung fern des wirklichen, authentischen Lebens trivialisiert – aber ist dennoch eine dominierende Kraft, die die gegenwärtige Weltwirtschaft aufrecht erhält. Konsumkritik hat eine lange Tradition, dennoch nehmen Kaufentscheidungen zu materiellen Gütern und Dienstleistungen einen entscheidenden Anteil an Aufwand und Zeit ein.
Konsum wird moralisiert – heute v.a.  im Sinne des richtigen, nachhaltigen Konsum von Waren und Dienstleistungen. Worte wie Flugscham machen es deutlich.

Einschränkungsflanken des Konsums – Bild: unsplash.com

Im Ausblick zur Zukunft werden die Einschränkungsflanken und damit  Grenzen von Konsum deutlich.  Was sind die Folgen von 200 Jahren steigenden Konsums?  Zumindest ist nachhaltiger  Konsum aktueller Trend, allerdings auch Greenwashing. Ein Leitmotiv der Selbstentfaltung schliesslich ist nicht erlahmt und erschöpft sich nicht in  Konsum. Selbstentfaltung bedeutet nicht nur die performative Form, kann auch ebenso die  Selbstgestaltung der  Lebensführung bedeuten. Eine Möglichkeit, in der sich Trends verschieben.

vgl.:  *Definition:  Don Slater in Consumer Culture and Modernity,  1997″ Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernity.  1991 u. 2007  Consumer Culture and its Futures. Dreams & Consequences  In : Approaching Consumer Culture. 2019w  Kai- Uwe Hellmann: Der Konsum der Gesellschaft. Studien zur Soziologie des Konsums (Konsumsoziologie und Massenkultur. 2. Aufl. 2019 Mentaler Konsum: Ein Experteninterview mit Kai-Uwe Hellmann. Soziologie Magazin 1/2019. Konsum > Protest > Mobilisierung. Politischer Konsum und konsumistische Bewegungen 10/2022   **A. Iskold, “Social Graph: Concepts and Issues,” ReadWriteWeb, September 12, 2007

 



2022 – Ein Jahr, was geht voran?

»Zeitenwende«  wurde zum Wort des Jahres 2022 – das Kanzlerwort bezog sich auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, den Bruch der bestehenden Friedensordnung. Im weiteren auf dessen Folgen und Konsequenzen: Energiekrise und Inflation, aber auch eine Neuausrichtung der deutschen Wirtschafts- und Energiepolitik.
In den Vorjahren hatte Corona fast alles andere überschattet. Corona ist  zwar nicht  vorbei, aber in Folge der Impfkampagnen entschärft.  Dennoch bleiben die Spuren und Erfahrungen. Klima- und andere Umweltkrisen waren nicht unterbrochen, sind aber 2022 wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gestossen.
So stehen zum Jahreswechsel 2022/23 Krisen im Vordergrund. Krisen, die nicht abstrakt im Hintergrund stehen, sondern auf individueller wie kollektiver Ebene erfahren werden – man spricht von multiplen Krisen, auch eine neue Wortschöpfung tritt auf: Stapelkrise.

Die Krisen trafen auf eine vielfach durchgetaktete und optimierte digitale Consumer Culture. So durchgetaktet, dass sich selbst kleinere Störungen in Lieferketten schnell bemerkbar machen. Jedenfalls ist die Welt eine andere, als sie es vor etwa drei Jahren war. Krise bedeutet die Abwesenheit stabiler Zustände, die kommenden Jahre scheinen wenig klar – eine Gelegenheit für einen  Blick zurück und nach vorn: Welche Zeit geht zuende und was treibt eine neue an?

Plattform nach dem Social Graph Bild: mburpee/flickr.com

Im Blick zurück war das vorhergehende Jahrzehnt, nicht ganz exakt die 10er Jahre,  geprägt von der rasanten Verbreitung des mobilen Internet, von Social Media, der Landnahme der GAFAM-Konzerne und der Verbreitung einer digitalen Consumer Culture.
Landnahme bedeutet die Einnahme von oft  bereits bestehenden Beziehungsnetzwerken bzw. Interaktionszusammenhängen entlang sozialer Graphen durch  Plattformunternehmen. Zusammenhänge, die bereits bestanden, denen bis dahin aber wenig Bedeutung zukam (mehr dazu, vgl. Seemann:  Die Macht der Plattformen). Der wesentlichste Kritikpunkt ist die umfangreiche Sammlung persönlicher Daten durch Plattformunternehmen.
SmartPhone und mobiles Netz verbreiteten sich so schnell und in solcher Breite, wie selten eine Technologie zuvor – und das weltweit.   Sie bündelten Funktionen, die bereits vorhanden waren: Telephonie, Internet, Fotografie & Video, Tracking etc. Social Media gaben den Raum für performative Selbstentfaltung – ein Merkmal der Spätmoderne.
Mittlerweile gibt es Social Media schon mehr als ein Jahrzehnt – Facebook hat sich umbenannt, Twitter gerät ins Trudeln. Geht ihre Zeit  und mit ihnen auch die der Mega – CEOs, den Superstars aus der digitalen Wirtschaft, vorüber? Instagram und LinkedIn stehen allerdings in ihrer Blüte, will man unsere Gegenwart beschreiben, kann man gleich dort  anfangen.
Machen nun neue Technologien den Trend – oder wird Digitalisierung von der  treibenden zur dienenden Technik? Jede technologische Entscheidung hat entsprechende, oft weitreichende Veränderungen zu Folge.

Metaverse und Web3  werden oft in einem Zug als Zukunftstechnologien, als neue Stufen der digitalen  Evolution genannt, so waren sie auch gemeinsam Gegenstand einer Anhörung im Bundestag am 14.12. Ansonsten sind es zwei völlig voneinander unabhängige Entwürfe. Beide sind zudem mit wirkmächtigen Erzählungen/ Narrativen verknüpft, die ihre Popularität stützen. Der Hype ums Metaverse (mehrfach Thema im Blog) währt nun etwas mehr als ein Jahr – ausgelöst mit der Umbenennung von Facebook zu Meta.
Matthew Ball, Protagonist und Investor, hat vor einigen Monaten ein Standardwerk vorgelegt, das sich als Guide zum Thema nutzen lässt,  incl. allgemein akzeptierter Definitionen. Finale Vorstellung bleibt ein zusammenwachsender Raum aus virtueller und physischer Realität – im besten Falle ein Collective Virtual Open Space – ein solcher Raum würde tatsächlich Revoluzionize Everything (Ball). Es könnte vieles sein, von einem gigantischen Disneyland zum Common Meeting Ground einer Weltgesellschaft.
Für jeden, der sich neu mit dem Thema befasst, ist es zunächst verwirrend, dass so intensiv über etwas diskutiert wird, was es (noch) nicht gibt. In der Diskussion wird Metaverse oft mit XR/Extended Reality zusammengeworfen. Nicht ganz falsch, immerhin ist es die Technologie, die ein Metaverse erst ermöglicht. Immersive Techniken (Oberbegriff zu AR/VR/Mixed Reality) sind eine aufstrebende Branche, die immer mehr Anwendungsfelder findet. 

Web3 – nicht zu verwechseln mit Web 3.0, dem semantischen Web,  basiert auf der Blockchain- Technologie, einem gemeinsam geführten Register für die Aufzeichnung von Transaktionen. Web3 ist verbunden mit  Kryptowährungen, Smart Contracts und NFTs (non-fungible tokens/ virtuelle Originale).  Wesentliches Pro- Argument war immer die dezentrale Orgnisation, im Gegensatz zu dem von grossen Konzernen beherrschten Web2.
Kritik richtete sich v.a. auf den überdimensionalen Energieverbrauch. In der Anhörung fiel die Kritik noch stärker – harsch bis vernichtend – aus: Als unregulierte Finanzprodukte  seien Kryptowährungen v.a.  zur Steuerhinterziehung und den Handel mit illegalen Waren geeignet.  Protagonisten von Web3 argumentieren, dass Web3 das Internet demokratischer, freier, dezentraler, zensurresistenter mache. Mit Zensur seien v.a. Regulierungsauflagen gemeint. Geschäfts- und Governance-Prozesse könnten keinesfalls auf eine Plattform ausgelagert werden, die dafür gebaut ist, Regulierung zu unterlaufen. **
Web3 rückt  demnach in die Nähe libertärer Ideologien + Begünstigung krimineller Geschäfte – hinter einer Rhetorik von Dezentralität und Freiheitlichkeit. Libertär bedeutete einst einen radikal- heroischen Bruch mit gesellschaftlichen Zwängen, heute wird damit (u.a.) die schrankenlose, anarcho- kapitalistische  Selbstentfaltung  von Oligarchen verbunden.

Einschränkungsflanke jeden technischen Fortschritts ist die Versorgung mit möglichst emissionsfreier Energie –  darüber hinaus ist der Erhalt der natürlichen Ressourcen, von Klima, Artenvielhalt u.v.m. die grosse Einschränkungsflanke aller Zukunftsvisionen und der gesamten menschlichen Zivilisation. Etliche frühere Zivilisationen sind am Verlust naürlicher Ressourcen zu Grunde gegangen – unsere heutige Zivilisation ist aber global, Bewahrung der Ressourcen die grosse gesellschaftliche Herausforderung.
Für Strategien, die diese Voraussetzungen berücksichtigen, sei der Report  Digital Reset. Für eine grundlegende Neuausrichtung von Technologien für die sozial-ökologische Transformation  genannt – der von einem Europäischen Expertenpanel ausgearbeitet wurde. Es geht um die Ausrichtung von Digitalisierung auf Nachhaltigkeit, die dann in zehn Leitsternen als Empfehlungen für einen digitalen Reset vorgestellt wird. Politik wird als Primat  digitalen Innovationen vorangestellt. Letztere stehen somit in einer dienenden Funktion.
Philipp Staab, einer der Beteiligiten, hatte kürzlich in Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft Anpassung als neue gesellschaftliche Strategie beschrieben – ich stimme nicht ganz damit überein (s. Rezension). Man kann jetzt noch die Arbeiten von Bruno Latour heranstellen – später mal …

**vgl.: Jürgen Geuter (tante@tante.cc) : Antworten zur Öffentlichen Anhörung “Web 3.0 und Metaverse” am Mittwoch, 14.12.2022 –  S02E34 – zu Crypto-Imaginaries und alternativen technologischen Infrastrukturen  in: Jan Groos: Future HistoriesDer Podcast zur Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft. Digital Reset. Redirecting Technology for the deep Sustainability Transformation. Technische Universität Berlin, Fachgebiet Sozial-ökologische Transformation: (10/2022)

 



Kontinuitäten der Moderne – Welche Moderne?

World in Progress? Bild: goldkatze / photocase.de

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist es einfach: Modern ist das, was aktueller Mode und Lebensweise entspricht. Was gestern modern war, ist es heute nicht mehr, kann evtl. als Retro zurückkehren. In den Sozialwissenschaften öffnet der Begriff Moderne hingegen  grossflächige Debatten. Mehrfach für beendet erklärt, kehrt die Moderne immer wieder mit neuen Vorsilben zurück.

In der Moderne dominierte der Glaube, die Welt liesse sich gestalten und der Fortschritt sorge quasi automatisch für ein besseres Morgen – dieser  Satz ist Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft von Philipp Staab vorangestellt. Daran schliessen Fragen nach der Bedeutung und Berechtigung von Fortschritt als Leitmotiv gesellschaftlicher Entwicklung an. Im seinem Gefolge auch Emanzipation, Individualisierung und Demokratisierung, die alle im Bezugsrahmen zu Moderne stehen. Die Frage nach veränderten Leitmotiven ist legitim, genauso wie die nach den Kontinuitäten der Moderne(n). Bedeutet denn Fortschritt allein die lineare Fortsetzung eines einmal eingeschlagenen Pfades?

Kontinuitäten der Moderne reichen weit zurück bis in die Zeit der Aufklärung im 18. Jh. Fortschritt war das Programm, die Menschheit aus Unwissenheit und religiöser Bevormundung herauszuführen. Ganz vorne der wissenschaftliche und technische Fortschritt, der Industrialisierung und damit ökonomischen Fortschritt antrieb – Wirtschaftswachstum. Der Fortschritt zu Demokratie, gleichen Rechten und gleichen Chancen für alle war und ist ein viel längerer Weg und galt zunächst nur Privilegierten. Im Namen des Fortschritts wurde Gewalt ausgeübt, oft genug legitimierte sich Herrschaft durch ihn.  Kritik am Fortschrittsglauben gab es immer wieder, zumeist von denen, die Verluste erfuhren oder befürchteten.
Moderne bedeutet den Umbruch traditionaler Gesellschaften. Forschungs- und Erklärungsfeld der Soziologie sind Gesellschaften der Moderne(n) – traditionale Gesellschaften werden von anderen Fächern beforscht. Das Label Moderne gilt für eine ganze Reihe von Stufen bzw. Epochen, mit entsprechenden Vorsilben. Zudem gibt es sie als gesellschaftlich/ zivilisatorische, technisch/ naturwissenschaftliche und künstlerisch/ ästhetische Moderne – die nicht immer synchron verlaufen bzw verliefen.  In welcher Moderne leben wir, fragt man sich? Oder ist sie doch schon vorbei? Auch vergangene Stufen der Moderne bleiben immer noch Bezugsrahmen.

Moderne – vor 100 Jahren gebaut: Rietveld- Schröder Haus – Utrecht

Die ästhetisch/ künstlerische Moderne ist eine weitgehend  zurückliegende, in sich abgeschlossene kultur-geschichtliche Epoche, wie etwa die Renaissance, was danach kommt steht wohl – in Malerei, Architektur, Design – in ihrer Kontinuität, wird aber nicht mehr als Moderne (ohne Vorsilbe) bezeichnet.  Peter Gay lässt sie mit der Lyrik Baudelaires (les fleurs du mal, 1857) beginnen. Moderne Architektur z.B. setzte erst viel später ein.  Getragen wurde die Moderne von einer Avantgarde, die sich ihrer gesellschaftlichen Bedeutung meist als vorauseilend verstand – und im nachhinein als Klassische Moderne  kanonisiert wurde – die bis heute wesentlicher ästhetischer Bezugsrahmen ist.

Es gibt eine Reihe von Modellen der Periodisierung. Plausibel ist die Einteilung in Bürgerliche/ Industrielle/ Spätmoderne*. Sehr kurz: Die Bürgerliche Moderne begann mit der Industriellen Revolution. Auch Kolonialismus und bürgerlicher Nationalstaat entfalteten sich.  Es ist die Gesellschaft, die die Gründerväter der Soziologie, wie etwa Max Weber beschrieben haben.
In der folgenden Industriellen Moderne dominierten Massenproduktion, Massenkultur, Massenmedien (vgl. Vom Sog der Massen). Lebensführung passte sich diesem Rhythmus an – eine stark formatierte, normative Gesellschaft.
In ihrer Spätzeit kam es zur massenhaften Teilhabe am erwirtschafteten Wohlstand, man sprach dann von einer Nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Counter Culture/ Alternativkultur entwickelte sich in Nischen.
Was danach kommt ist vom Wandel der industriellen zu einer postindustriellen Gesellschaft bestimmt, bis heute werden Diskussionen davon bestimmt. Aktuelle Epoche ist die Spätmoderne, beginnend mit der Globalisierung, sich steigernd mit der digitalen Moderne.  Kontinuitäten der Industriellen Moderne sind aber weiterhin wirksam.

Der Begriff  Postmoderne wurde schnell populär, nachdem er  1979  in dem Essay Das postmoderne Wissen/ La condition postmoderne von Jean- François Lyotard auftrat. Postmoderne formulierte den Verlust von Gewissheit, die Auflösung von Sicherheiten und gewachsenen Identitäten, gepaart mit einem Misstrauen gegenüber Metanarrativen, wie dem der Moderne. Als Epochenbegriff von Gesellschaft verbreitete  sich Postmoderne nicht über feuiletonistische Beschreibungen hinaus. Ihr Vermächtnis ist, uns selbst, unsere Kultur und unsere Zivilisation von außen zu betrachten, sie zu dekonstruieren, um ihre Teile und inneren Strukturen zu erkennen. Im  Alltag brachte sie eine verbreitete Attitüde ironischer Distanz mit sich. Später wurde der Begriff oft bis zum Überdruss verwendet, und weckte so auch immer wieder Gegenreaktionen.

Betonte Postmoderne einen Bruch mit der Moderne bleibt Spätmoderne ihrer Kontinuität verhaftet. Ein Epochenbegriff, der als Bezeichnung für die aktuelle  Phase unserer Gesellschaft akzeptiert wird. In den vergangenen Jahren wurden Begriff und Diskussion dazu v.a. von Andreas Reckwitz geprägt, der die spätmoderne Kultur der neuen Mittelklasse, ihre Singularitäten beschreibt.  Performative Selbstentfaltung ist ein Charakteristikum, ebenso wie eine ökonomischen Asymmetrie zwischen den Modernisierungsgewinnern und -verlierern. Zwei Teilepochen lassen sich erkennen: Die der beginnenden Digitalisierung und die von der Verbreitung des Plattformkapitalismus geprägte Dekade.
Besonders die digitale Spätmoderne nach der Jahrtausendwende bringt  Veränderungen der sozialen Architektur mit sich. Zum einen kulminiert sie in einer digitalen Consumer Culture, in der auch die Elemente der vorherigen Counter Culture zu Konsumattributen werden. Die Adressierbarkeit über (verdatete) Merkmale  macht das  passgenaue Zusammenführen von Angebot und Nachfrage in datenreichen Märkten auf den Plattformen möglich – vom B2B, zu individualisierter Werbung, zu Matchings aller Art incl. Dating.
Das Leitmotiv der Selbstentfaltung schliesslich ist nicht erlahmt und erschöpft sich nicht im Konsum – wie etwa die Breite der New Work Bewegung zeigt. Selbstentfaltung bedeutet nicht nur die performative Form, kann auch ebenso die  Selbstgestaltung der  Lebensführung bedeuten.
Fortschrittsvisionen der Industriemoderne,  wie etwa die autogerechte Stadt werden kaum noch vertreten, wirken aber nach. Der Begriff eines (einheitlichen)  Fortschritts wird seltener formuliert – man spricht lieber von Innovationen (im Plural) und von Transformationen.  Digitale und nachhaltige Transformationen sind dennoch die aktuell vorherrschenden Fortschrittsvisionen, die durchaus in der Kontinuität der Moderne stehen, auch wenn Kritik an der Moderne als Ursache der ökolögischen Krisen (Klima, Artensterben etc.) zunimmt. Krisenentschärfungen, wie die Entwicklung neuer Impfstoffe zur Pandemie beruhen ebenso auf wissenschaftlichem Fortschritt. Ökologische Krisen sind die Einschränkungsflanken zur Zukunftsgestaltung. Man kann nun noch den Ansatz des kürzlich verstorbenen Bruno Latour anschliessen, das geht aber über den Rahmen dieses Textes hinaus.

Der von Ulrich Beck (Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. 1986) verwendete Begriff Zweite Moderne hat sich darüber hinaus weniger verbreitet. Er entspricht weitgehend der Spätmoderne   – mit den Merkmalen Globalisierung,  Enttraditionalisierung und einer zunehmende Macht transnationaler Konzerne.  Wo es eine Zweite Moderne ist, ging ihr auch eine Erste Moderne  voraus, die in etwa der bürgerlichen + frühen industriellen Moderne entspricht.
Nachmoderne ist ein gelegentlich verwendeter, eher unspezifischer Begriff, der eben die Ansicht beinhaltet, dass die Moderne vorbei ist.

Ist die Elbphilharmonie metamodern? Bild: Leif Christoph Gottwald unsplash.com

Metamoderne hat ausser der Vorsilbe nichts mit dem Metaverse zu tun. Der Begriff überdacht einige unabhängig voneinander entstandene Ansätze, denen die Überwindung von Moderne und Postmoderne gemein ist.  Bisher wird der Begiff von einigen Autoren in der aktuellen Philosophie verwendet  (vgl. Storm, Andersen, Hanzi Freinacht),  zudem an Beispielen in neuerer  Architektur veranschaulicht. So wird etwa die  Hamburger Elbphilharmonie als metamodern hervorgehoben. Das kann man diskutieren.  Gemeinsam ist den Autoren der Impetus  den angesammelten Schatz von Wissen und Erfahrung zu nutzen. Dazu abschliessend ein paar schöne Sätze aus der ‘Metamoderne’:
Most of us want to be happy — Most of us want to be psychical and physical well- being — most of us do not want to suffer unnecessarily –.most of us want to live a life worth having lived, a meaningful life (Storm, 257) – kann so eine Grundlage eines Sets ethischer Normen und daraus abgeleiteten politischen Handelns beginnen? Und : We need a vision of progress and a grand narrative about why it all matters.

Mir ging es jetzt um eine Skizzierung des Begriffs der Moderne und  seiner Wandlungen. Mir ist klar, dass jeder einzelne Punkt nur ein Bruchstück ist.

vgl.: Philipp Staab:  Anpassung . Leitmotiv der nächsten Gesellschaft, 10/2022.  Andreas Reckwitz. Von der bürgerlichen Moderne über die industrielle Moderne zur Spätmoderne: Reckwitz & Rosa- Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie . 2021, S. 99 – 128  darin:* Synopse zu Bürgerliche Moderne, Industrielle Moderne, Spätmoderne (118) – Auf dem Weg zu einer Soziologie des Verlusts. Soziopolis   Peter Gay: Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs, orig: Modernism. The Lure of History. From Baudelaire to Beckett and beyond (2008) Jason Ananda Josephson Storm:  Metamodernism. The Future of Theory. Chicago 9/2021. 360S. Blog:Absolute Disruption.      vgl- a. Future sapiens: Ewiges Wachstum – Untergang der Menschheit oder Motor des Fortschritts?

 



Anpassung vs Fortschritt (Rezension zu: Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft)

Ohne den Podcast Future Histories von Jan Groos wäre ich an diesem Buch vorbeigegangen: Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft von Philipp Staab – ein leicht verstörend und damit provokanter Titel. Gemeint ist eine Gesellschaft, die sich vom Leitmotiv der Selbstentfaltung zu dem des Selbsterhaltskollektiv und individuell – bewegt. Nicht Steuerung und Gestaltung von  Fortschritt und Selbstentfaltung sondern das Zurechtkommen steht im Zentrum – die Anpassung an Krisen, der Erhalt eines gefährdeten Status Quo.
Zwei der drei aktuellen Krisen – Corona und die Klima- Krise – sind der Hintergrund. Die dritte Krise – Ukraine- Invasion  und ihre Folgen –  kommt im Buch erst vereinzelt vor, umso mehr in den die Veröffentlichung begleitenden Podcasts und Essays.
Ein Ausgangspunkt des Buches sind empirische Befunde aus narrativen Interviews mit sog. systemrelevanten Beschäftigten aus den Branchen Gesundheit, Bildung/Erziehung, Sicherheit und materiellen Infrastrukturen (143 ff) im Rahmen eines Seminars Die Gesellschaft der  Anpassung 2021/22 an der HU Berlin.

In der Moderne dominierte der Glaube, die Welt liesse sich gestalten und der Fortschritt sorge quasi automatisch für ein besseres Morgen … (Klappentext)  so beginnt das Buch mit einer Abkehr vom Fortschrittsglauben der Moderne. Moderne in zwei Ausprägungen – die  Industrielle Moderne mit ihrem Glauben an die technische Beherrschbarkeit der Welt und die Spätmoderne mit dem Impetus  der freien Selbstentfaltung des Individuums. Der Klimawandel steht nach Staab in direktem Zusamenhang mit dem Selbstentfaltungsprogramm der individuellen Entfaltung – im  Konsum.
Der Optimismus der Moderne(n) ist erschüttert, heute geht es darum, Krisen abzuschwächen, die Gegenwart überhaupt zukunftsfähig zu machen (77). Anpassung meint Strategien zum Erhalt von Handlungsfähigkeit und der Sicherung bestehender Zustände  in einer Nachmoderne.  Als Leitmotiv verschiebt Anpassung die  Perspektive von einem modernen Emanzipationsprogramm auf ein einstweilen noch unbestimmtes Adaptionsprogramm (32). Die Pandemie lässt sich als Generalprobe für zukünftige Adaptionskrisen verstehen – Anschauungsmaterial, wie zeitgenössische Gesellschaften auf akute Krisen reagieren. Ein konkreter Ausdruck sozialer Folgen  ökologischen Notstands (141).  Aus dem Material der (oben erwähnten) narrativen Interviews erschliesst sich eine Gesellschaftskritik, die sich vorwiegend auf drei Punkte bezieht:  eine Narzissmus prämierende Kultur, eine ausschliesslich profitorientierte Wirtschaftsweise und eine handlungsunfähige, schwache Staatlichkeit (144).
Anpassung umfasst auch Resilienz (ausf, der Begriff, der sich  in den Diskussionen seit Corona weit mehr als Anpassung verbreitet hat.

Die sechs (incl. Einleitung) aufeinander aufbauenden Kapitel sind allesamt einprägsam übertitelt: (3) Ent-täuschung der Moderne wendet sich ab von  einer gesellschaftlich zu schaffenden Zukunft (72) im Sinne des Fortschrittsbbegriff der Aufklärung. Unter (4) Adaptive Rebellion fallen etwa die Fridays for Future mit dem wissenschaftsgläubigen Slogan Listen to Science. Staab folgert einen positiven Begriff evidenzbasierter Technokratie (131). Unter (5) Avantgarden der Anpassung finden sich v.a. die erwähnten  “systemrelevanten  Beschäftigten“, wo effektive, evidenzbasiertepolitische Steuerung mit Demokratiedefizit umindest angedacht werden (174). In (6) Protektive Technokratie  geht es um eine politische Imagination adaptiver Gesellschaften (182), Demokratie vs Expertenherrschaft mit Unterstützung digitaler Steuerungstechnologie,  eine Hypothese  rationaler Technologie des Überlebens. Soweit sehr verkürzt zusammengefasst.
In einem Beitrag in der Zeit vom 12.10. fasst Staab seine These bündig zusammen: Das Projekt des Fortschritts und der Selbstentfaltung ist zu einem Problem für die Selbsterhaltung geworden – individuell, gesellschaftlich, planetar. Es weiterhin zu predigen, verfestigt den Eindruck einer Politik, deren Deutungsangebote an der Realität der Menschen vorbeigehen. … weiter: Dabei könnte Anpassung als eigenständiges gesellschaftliches Projekt auch in einem positiven Sinne zum Leitmotiv politischen Handelns taugen. 

Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft lässt sich als – manchmal  spekulative, teilweise empirische Exploration zu Selbsterhaltungkrisen und zur nächsten Gesellschaft, verstehen.  Die Grundgedanken des Buches werden schnell klar und sind innerhalb ihres Rahmens einleuchtend. Staab dokumentiert, benennt, beschreibt erkennbare Motive, Einstellungen, Tendenzen und Strategien, vermittelt Momentaufnahmen, stellt sie in Zusammenhänge und entwickelt im letzten Kapitel eine Hypothese technik- und expertisegestützter Herrschaftsformate. Er bezieht  sich u.a. auf Andreas Reckwitz, Robert K. Merton (1910-2003), auf Boltanski/Chiapello und immer wieder auf die Risikogesellschaft von Ulrich Beck (1986), schliesslich auch Schumpeter (187).

Es geht aber auch immer um den Gegensatz Fortschritt vs  Anpassung. Ersterer ist eine treibende, letztere beharrende, angleichende Kraft. Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die sich mit Nachdruck vom Fortschrittsbegriff verabschiedet (108)? Man kann diese Frage als Gedankenspiel annehmen – aber ist eine Gesellschaft ohne Fortschritt überhaupt denkbar? Beide Begriffe, im Gefolge auch Selbstentfaltung und Emanzipation, werden in einem sehr verengten Sinne verwendet. Damit kann ich mich wenig anfreunden.
Ist Anpassung ein passendes Leitmotiv? Anpassung kann taktisch, strategisch, opportunistisch sein, das sich Einfügen als das Rädchen im Getriebe, sie kann sich am Markt, an Machtverhältnissen, an Krisen ausrichten, ohne Anpassung gibt es keine Evolution, weder genetisch noch sozial. Die geläufige Redewendung “mit dem Fortschritt gehen” drückt nichts anderes aus, als Anpassung an den Fortschritt. Allen Verwendungen ist eine defensive, manchmal passiv- aggressive, Haltung gemein. Ein Begriff, der unterschiedlichste Lesarten ermöglicht und mit vielen Konnotationen daherkommt – und so in die populäre Diskussion einsickert:  Kürzlich warf Markus Lanz (9.11.) in seiner Talkshow einer Aktivistin von „Letzte Generation“ Anpassung als zurechtweisendes Schlagwort entgegen. Ich vermute,  die Redaktion hatte das Buch gesichtet. So gelangen Begriffe – beliebig angepasst –  in die populäre Diskussion.

Weit mehr irritiert mich sein Begriff von Fortschritt, damit verbunden von Selbstentfaltung, Emanzipation.
Die Irritationen sind beabsichtigt, wie im Podcast begründet.
Der Fortschrittsbegriff scheint sich auf den des ewigen Wachstums in einer Welt endlicher Ressourcen zu beschränken. Emanzipation und Selbstentfaltung werden so erwähnt, als gäbe es sie v.a.  in vulgär- materialistischer Ausführung.
Mal ist von Zumutungen der Selbstentfaltung die Rede ist und man denkt an  eine  Distinktionshölle zwanghaften Konsums. Sicher gibt es Symbiosen mit der Konsumwirtschaft, in erster Linie bedeutet Selbstentfaltung aber die Gestaltung der Lebensführung.
Fortschritt wurde und wird immer wieder von verschiedenen Seiten für sich reklamiert: ästhetisch von Avantgarden, politisch sah sich die Linke meist als Lager des Fortschritts, emanzipativ von sozialen Bewegungen, Fortschritt wurde in Wirtschaftsdaten gemessen.  Von Beginn an war wissenschaftlicher und technischer Fortschritt der Antrieb. Letztlich entschärfte (bio-) technischer Fortschritt in Form der Entwicklung neuer Vakzine –   – und nicht Anpassungsleistungen – die Pandemie. Und auch Autor Staab (Prof < 40) arbeitet mit seinem Buch am Fortschreiten seiner Karriere.
Das Weiterführen einer  linearen, ungebrochenen Vorstellung von Fortschritt und Selbstentfaltung hat wohl irgendwann seltsame Konsequenzen:  Libertär bedeutete einst einen radikal- heroischen Bruch mit gesellschaftlichen Zwängen, heute wird damit (u.a.) die schrankenlose, anarcho- kapitalistische  Selbstentfaltung  von Oligarchen verbunden. Genauso berufen sich Querdenker auf das Freiheitsversprechen der Spätmoderne wie Caroline Amlinger und Oliver Nachtwey – in Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus (10/2022) herausstellen. Aber macht das das Freiheitsversprechen obsolet?

Was eine Gesellschaft zusammenhält, ist v.a. die geteilte Vorstellung einer guten Gesellschaft bzw lebenswerter Zukunft. Wie diese aussehen soll ist ein zivilisatorischer Prozess. Und auch die Vorstellung von Fortschritt durch Wissenschaft und Technik gehört zu einer gesellschaftlich zu schaffenden Zukunft, die Selbsterhalt und Selbstentfaltung verbindet: We need a vision of progress and a grand narrative about why it all matters.

Philipp Staab: Anpassung . Leitmotiv der nächsten Gesellschaft 198 S. + Anmerkungen 240 S,..  edition suhrkamp 2779, 10/2022, 18 € –Jan Groos: Future HistoriesDer Podcast zur Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft.  Philipp Staab: Wie Gesellschaften stabil bleiben. Selbstentfaltung wird zum Problem für die Selbsterhaltung. Die Zeit. 12. 10. 2022  — vgl. auch: Future sapiens: Ewiges Wachstum – Untergang der Menschheit oder Motor des Fortschritts?

 



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