Tourismus nach Corona – Zurück zum Overtourismus?

Thema der Futures Lounge X am ersten Mittwoch im Juli (6.07.) war Tourismus nach Corona – Zurück zum Overtourismus? Corona ist noch nicht vorbei, so sollte es richtiger nach dem Ende der Reisebeschränkungen heissen, die letzten Wochen brachten dann aber Bilder des Nachholbedarfs, der sich seit 3/20 angestaut hatte.
Mit zwei Impulsbeiträgen* von Nils W. Bräm (Reiseentscheidungen) und Lars v.d. Wettern (Tourismus ab 2022 – Gegenwart und Zukunft) startete die Diskussion: Welche Wünsche, welche Werte, welche persönlichen Dispositionen und welche Einflussfaktoren stehen hinter unseren Reiseentscheidungen? Welche Rolle spielt ein  Kompensationsbedarf? Geld und Zeit sind die Einschränkungsflanken (Nils Bräm) – – Nachhaltige Tourismuskonzepte lassen sich nur dann durchsetzen, wenn sie auch Spass machen, sie müssen sexy sein.  Gibt es ein Recht auf Reisen? (Lars von der Wettern).
Soweit im groben die Vorlagen, in zwei Stunden wurden viele, aber ganz sicher nicht alle Aspekte angesprochen. Im folgenden keine Nacherzählung einer  Diskussion, sondern der Versuch die  Tourismusdebatte in die Entwicklungen der Zeit einzubeziehen. Tourismus ist keine rein wirtschaftliche, Nachhaltigkeit nur nebenbei eine moralische Kategorie.
Wenn die Welt in den nächsten Jahren auf zwei Milliarden Reisende zusteuert, sind die Länder und ihre Infrastrukturen darauf vorbereitet? Sind Menschen und ihre Kulturen widerstandsfähig genug, um dem standzuhalten?” **

Die Tourismusbranche wuchs  lange Zeit schneller als die Gesamtwirtschaft, noch mehr nach der Jahrtausendwende. Dann setzte Corona einen harten Schnitt. Die Anzahl der Reiseankünfte – weltweit –  war 2020 auf den Stand von 1987 gestürzt – von 1461 Mill. (2019) auf 381 Mill (2020)*. Was kommt danach?  Von 100 auf 0 und wieder zurück auf 100?
Der Begriff   Overtourismus war erst seit 2016 in der Diskussion aufgetaucht, verbreitete sich dann rasch, zu sehr passte er ins Bild. Die Tourismus Newssite skift.com (Sitz in New York) nimmt die Urheberschaft für sich in Anspruch. Es ging gar nicht so sehr um die altbekannten Bilder des Massentourismus, Auslöser war ein Bericht über den Tourismusboom auf  Island. Gerade Länder und Orte, an denen man bis dato Ferne, Abgeschiedenheit und Naturerlebnis suchte, wurden weit häufiger aufgesucht, als sie verkraften konnten. Nicht nur Island, auch Neuseeland, Galapagos, Machu Picchu in den Anden, die Osterinsel, der Mount Everest etc. Dazu die Bilder immer massiver erscheinender Kreuzfahrtschiffe, schwimmender Städte vor zerbrechlichen Kulissen wie Venedig und die Umwandlung von Metropolen in touristische Erlebniszonen: Manhattan, Paris, Amsterdam, Barcelona, auch Teile von Berlin. Touristische Bewirtschaftung prägt immer mehr Orte, weltweit, auch ausserhalb der eigens dafür geschaffenen Resorts.

Reisen hat eine lange Geschichte, historisch lässt sich zurückblicken auf die Wanderjahre der Handwerksburschen und Scholaren, auf die Pilgerfahrten des Mittelalters, letztere neu aufgelegt mit dem Jacobsweg nach Santiago de Compostela. Von Tourismus, der wirtschaftlich organisierten Form des Reisens, die vorrangig dem Vergnügen dient, kann man seit ca. 200 Jahren sprechen. Im Tourismus des 19.Jahrhunderts wurde Status repräsentiert, daran erinnern glamouröse Promenaden, Hotelanlagen und Casinos  an Orten wie Baden- Baden, Nizza, im Berner Oberland oder an der Riviera.
Tourismus für alle begann später, verbunden mit dem Impetus der Erhaltung der Arbeitskraft. Den Massentourismus in standardisierten Formen  brachte die industrielle Moderne nach dem Muster von Massenproduktion und Massenmobilität (Auto) seit den 50er, mehr noch den 60er und 70er Jahren.  Mit der immer verbreiteteren Anreise per Flug vergrösserte sich die Reichweite – Fernreiseziele wurden populär, Resorts entstanden etwa auch in Thailand oder der Dominikan. Republik. Kritik am Massentourismus gibt es solange es ihn gibt.
Reisen als Suche nach authentischen Erlebnissen und Erfahrungen war lange Zeit eine Sache von Minderheiten. Urlaub bedeutete in der Regel drei Wochen Abschalten von den restlichen Wochen des Jahres. Das war und ist der Markt, den die  Touristikbranche vorrangig bedient.

Golden Age of Budget Tourism: Paragliding in Tarifa, Andalusien

Golden Age of Budget Tourisme – auf diesen Begriff bin ich bei einer Recherche vor Corona (2019) gestossen: Reisen war niemals so einfach, günstig und gefahrlos, so zugänglich für breite Schichten geworden. Offene Grenzen (für Touristen), die Möglichkeit der Verständigung auf Englisch, evtl. Spanisch. Billige Flüge, günstige Bus- und Zugverbindungen und ein Angebot an Unterkünften jeder Art und jeder Preiskategorie – alles bequem online, oft per App zu buchen. Auch auf Fernreisen können sich Reisende jederzeit über die  jeweilige Infrastruktur informiert halten.
Wie wenige andere Branchen ist Tourismus in dieser Form geradezu eine Symbiose mit Social Media eingegangen. Die gesamte Infrastruktur der Plattformen (so etwa die Informationsdichte auf Google Maps, Trip Advisor etc.), unzählige Blogs, lokale und interessenspezifische Angebote steht für Informationen und Buchungen zur Verfügung. Postings von Bildern und Erfahrungen führen oft zu unmittelbaren Reaktionen. Wer mitteilt, was gut ist, zieht Follower an. Social Media machen es leichter, die gesuchten und erwarteten Ziele und Erlebnisse zu finden – und haben oft einen verstärkenden Effekt  (vgl. auch U. Gretzel. 2019).
Erlebnisse und Erfahrungen, das Zusammentreffen mit Gleichgesinnten stehen oft im Vordergrund. Orte, an denen besondere Sportarten (Tauchen, Klettern, Surfen etc.) ausgeübt werden können, haben ihre Klientel, genauso wie solche besonderer kulinarischer oder künstlerischer Attraktionen. Auch Drehorte von Filmen, Schauplätze besonderer Ereignisse sind Tourismustreiber. Die Reise an solche Orte ist meist mit einer Aneignung spezifischer Kenntnisse verbunden,  bedeutet Anschluss an eine Community, zumindest die Aneignung einer besonderen Geschichte.
Der 3- wöchige Urlaub ist immer weniger das Standardmodell, genausowenig, wie die langjährige Festanstellung Standardmodell der Arbeit ist: Mobiles Arbeiten, mobiles Leben, wo Home Office geht, geht auch Remote- Office. Es wird individuelle Lösungen geben, die Arbeit und Reisen verbinden. Und immer wieder will ein Stück Wunschwirklichkeit hergestellt werden.

Wie viele andere Branchen hat Tourismus die Grenzen zumindest seiner geographischen Ausdehnungsfähigkeit erreicht – ein weiter weg geht nicht mehr. Nach Thailand wurde auch Laos erreichbar, Trekking in Grönland, Patagonien, Tauchen im Roten Meer oder im philippinischen Riff, … die ersten Milliardäre waren im Weltraum – dort ist es für längere Aufenthalten dann doch zu unwirtlich ….  nur Pandemien und politische Krisen (Afghanistan, Putins Russland) schränken den Radius ein –  oder etwa: Next Frontier Metaverse?

Günstige Flüge, nicht nur von RyanAir, bedeuteten einerseits eine Demokratisierung von Fernreisen, aber eben auch eine massive Zunahme mit Umweltbelastung in der Folge. Ohne den günstigen Flugverkehr ist der – nach Unterbrechung wieder auflebende – globale Tourismus kaum denkbar. Ohne Flüge wird der Radius eng, bzw. zum Vergnügen Privilegierter, wie damals. Soll im Namen der Nachhaltigkeit die Demokratisierung des Reisens zurückgefahren werden?
Ist Tourismus Konsum wie anderer auch? Man spricht  von Massentourismus wie von Massenkonsum. Genauso gibt es singulären Konsum und singulären Tourismus. Nur, dass der singuläre, individuelle Tourismus ebenso in Massen auftritt. Manche Menschen mögen das all inclusive der Resorts, das sich um nichts weiter kümmern müssen, andere nehmen es nur dann in Anspruch, wenn sie spezialisiert reisen z.B. Tauchen. Nachhaltige Tourismuskonzepte verbreiten sich zunächst dort, wo ein entprechendes Klientel angesprochen wird (Bornholm, Vintschgau/ Südtirol Slowenien, Agroturismo).  Es bleibt die Aufgabe das Reisen von Milliarden so zu organisieren, dass es die Erde nicht über Gebühr belastet – und den Menschen Spass macht.

*  die Impulsbeiträge von Nils W. Bräm (Reiseentscheidungen): Folien, Vortrag; Lars von der Wettern  FolienVortrag, können nachgelesen/ gesehen werden. * nach Statista Weltweites Tourismusaufkommen nach Anzahl der Reiseankünfte in den Jahren 1950 bis 2021 Ulrike Gretzel: The role of social media in creating and addressing overtourism. Available from: https://www.researchgate.net/publication [accessed Jul 11 2022]. ** Rafat Ali: The Genesis of Overtourism: Why We Came Up With the Term and What’s Happened Since. skift.com 

 



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