Narrative und Innovationen – keine Rezension

Was verbindet Narrative und Innovation, wie kommt beides zusammen in einen Titel? Einer der beiden Herausgeber (Lutz Becker) verwies mich kürzlich auf den nebenstehenden Titel Narrative and Innovation aus dem Jahre 2013.  Damals ging es darum, gesellschaftliche Narrative als Ressource für industrielle wie soziale Innovationen heranzuziehen: How can innovation be derived from societal narratives contribute to industrial and social innovation? (7).  Am Anfang jeder Innovation steht eine Geschichte über die beabsichtigte Zukunft. Diese Geschichte ist gewissermaßen das Rückgrat des Innovationsprozesses: Sie ist Landkarte und Vision zugleich. In anschließenden Analysen erfolgreicher Innovationsprozesse lassen sich die Geschichten dahinter sehr gut erkennen (vgl. Müller, S. 140). Ähnlich sieht es Jens Beckert in Imaginierte Zukunft (2016/18): Innovationen sind mit  fiktionalen Erwartungen/ Imaginationen zukünftiger Zustände der Welt verbunden – Begriffe die Beckert anstelle von Visionen, Versprechen etc. verwendet. Innovationen sind dabei Imaginationen technologischer Zukunft. Er bezieht sich dabei auf Josef Schumpeter (274 ff).

Buzzwords gibt es viele und immer wieder.  Mega- Buzzwords wurden bisher noch nicht beschrieben, aber wenn, dann haben Innovation und  Narrativ(e)  mittlerweile das Zeug dazu (+ agile).
Befasst man sich mit Digitalisierung, Zukunft und langfristiger gesellschaftlicher Entwicklung stösst man unweigerlich und immer wieder  auf den Begriff Innovation, meist mit einer ganzen Reihe von Konnotationen – Narrativen – aufgeladen  (vgl. Innovation und Gesellschaft, 3/19) .

Man kann es drehen: Welche Narrative bedient Innovation?und: Was ist so innovativ an Narrativen?
Allein vom Namen her stehen Innovationen in einem Fortschrittsnarrativ, sie sind dessen einzelne Bausteine.  Zunächst bedeutet Innovation  geplante und kontrollierte Veränderung, Neuerung und Anwendung neuer Ideen und Techniken in einem sozialen System durch Anwendung neuer Ideen und Techniken, bisher unbekannter Produkte oder Rollen in einem sozialen System oder Subsystem … Initiativen dazu gehen meist von kreativen einzelnen aus – so steht es im Lexikon zur Soziologie (2007). Gemeint ist meist die wirtschaftlich erfolgreiche Umsetzung von Erfindungen und Ideen, ein Transfer von Forschung und Wissenschaft in die Industrie bzw. Wertschöpfung – etwas das gezielt gefördert wird, und das man auch messen kann.
Innovationen sind ein Grundstein kapitalistischer Dynamik, Wachstum wird durch die Einführung neuer Produkte, durch eine effizientere Produktion  und die Ausweitung von Marktbeziehungen angetrieben. Innovationsraten haben enorme Auswirkungen auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Unternehmen, Regionen und ganzen Volkswirtschaften. Würden sie sich signifikant verlangsamen, würde die Wirtschaft stagnieren  (Beckert, S.  267ff).  Innovationen können ganz unterschiedlicher Art sein, im Alltag begegnen sie uns als spürbare Neuerungen, wie das SmartPhone oder  medizinischer Fortschritt – oder eben auch als kompostierbares Acetat, aus dem die stylische Sonnenbrille gefertigt wurde,  oder dem mit seinen Nutzern gemeinsam entworfenen Basketballschuh. Mit Digitalisierung, der Entwicklung von Computer- und Netztechnik ist ein wesentlicher Schub von Innovationen verbunden, ausgelöst durch  Basisinnovationen in der zu Grunde liegenden Technologie. Wenn der Investor und Silicon Valley Oligarch Peter Thiel in seinem Buch  Zero to One Innovation als Rettung unserer Gesellschaft beschreibt, dann verfolgt er einen eigenen Narrativ des technischen Fortschritts, den man auch als kalifornische Ideologie bezeichnet.

Narrativ/f als Adjektiv im Sinne von erzählend gab es im Deutschen, wie auch in anderen Sprachen schon lange. Die heutige Bedeutung Sinnstiftende Erzählung geht auf eine Übersetzung der grands récits bzw. Metaerzählungen   von J.F. Lyotard vom Französischen ins Englische  (SZ, 25.08.17)* zurück. Gemeint waren die  Hauptströme der abendländischen Philosophie im Gefolge Kants und Hegels – daraus wurden dabei die grandes narratives, die es nach Lyotard zu überwinden galt.. In diesem Sinne  ist Narrativ als Substantiv im Deutschen  erst seit 1994 belegt.
In der öffentlichen Wahrnehmung ist die Verbindung technologische Innovation/ ökonomischer Fortschritt ein zentraler Gedanke. Ein Satz wie Deutschlands wirtschaftliche Stärke hängt von der Innovationskraft der Unternehmen ab*² entspricht  allgemeiner Überzeugung – und kann als ein zentrales Narrativ und Ausdruck  von Identität als führende Industrienation gelten.
Innovation ist wirtschaftspolitischer Impetus, ohne Innovationen kein Wachstum. Der Zwang bzw. Druck zur Innovation ist aber auch Treiber der Beschleunigung, die Hartmut Rosa beklagt – ein gegenläufiges Narrativ. Manchmal entsteht der Eindruck, dass es oft dieselben Menschen sind, die Beschleunigung betreiben, um sie dann  besinnlichen Stunden zu beklagen.

Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen von Samira El Ouassil und Friedemann Karig, ist  ein ziemlich erfolgreiches,  lesenswertes und unterhaltsames,  im Stil essayistisches Sachbuch, erschienen 10/21. Ein Buch, das Narrative als Konstanten menschlicher Zivilisation ausbreitet, von antiken Dramen zu  Netflix- Serien, ganz besonders in den Genres der Popularkultur, dem Film und der Popmusik. Eine Fundgrube der Narrative und ihrer Verzweigungen, das Buch sammelt ein, was den Begriff populär gemacht hat.  Die Geschichte der Menschheit ist auch die Summe der geteilten Geschichten.  Ganz zum Schluss steht der Satz Unsere These war und ist, dass Narrative, verpackt in mächtige Kulturprodukte, politische Programme oder platte Popsongs, heute die größte transformative Kraft besitzen (274). Mir scheint das zweifelhaft: Dass Narrative transformative Kraft ausdrücken können, macht  sie nicht  zu der Kraft selber. 

Sinnstiftende Erzählungen gab es zu allen Zeiten, die meiste Zeit waren sie mythologisch, religiös, zumindest philosophisch eingebunden: in Meta- Narrative – auch diesen Begriff gibt es. Gemeint sind die übergeordneten Ideen und Weltanschauungen und diese waren lange Zeit religiös, später von der Philosophie der Aufklärung bestimmt. Auch die Werke von  Max Weber und Karl Marx werden als solche, genauso wie Arbeit und Sparsamkeit als zentrale gesellschaftliche WerteMeta-Narrative bilden den Humus, aus dem konkrete politische Überzeugungen erwachsen, zumal in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, wo Vorstellungen von Gerechtigkeit und Anstand zentral sind *³.

Warum wurde ein Begriff wie Narrativ gerade jetzt so attraktiv? Meine Vermutung: Unterschiedliche Sinnangebote und Erzählstrukturen der Realität (z.B. Querdenker) stehen im Social Media Zeitalter sichtbar nebeneinander, oft ganz banal in der Twitter- Timeline. Will man die Angebote nutzen, muss man erkennen, was zusammenhängt und was nicht. Narrative sind die erkannten Pfade im Dschungel der öffentlichen Kommunikation unserer Zeit. Ist die wahrgenommene Realität dann der erkannte Narrativ?
Den Social Media vorausgegangen sind  Erfahrungen in den Popularkulturen. Filme und Popmusik verwiesen immer wieder, versteckt oder offen, auf übergreifende Erzählungen, Stimmungen und Moden. Referentialität meint die “Nutzung bestehenden kulturellen Materials für die eigene Produktion” (s. Kultur der Digitalität, F. Stalder, 2016) und wohl auch der  eigenen Argumentation; wir kennen es aus Remixes, Collagen, MashUps, Coverversionen, Inszenierungen wie Cosplay: Einzelne Elemente werden mit neuer Bedeutungszuweisung zusammengeführt.

Aus dem übermässigen Gebrauch einzelner Begriffe werden dann Buzzwords. Die auf Wirkung bedachten Kommunikationsagenten in WErbung, PR und Unternehmensberatung sind die Verbreiter davon. Es ist wie in der Küche: wenn ein Begriff sich verbreitet und dabei noch klug klingen soll, schmeckt eine Zeitlang alles nach Balsamico.

vgl. Innovation und Gesellschaft –  *s. Sueddeutsche Zeitung vom 25.08.2017: Anfang der Achtzigerjahre fingen angelsächsische Geisteswissenschaftler allerdings an, das Wort “Narrativ” gehörig aufzublasen. Schuld war der Versuch, Jean-François Lyotard, den französischen Gründervater der Postmoderne, ins Englische zu übertragen. Aus dessen “grands récits” oder “Metaerzählungen” – gemeint waren die Hauptströme der abendländischen Philosophie im Gefolge Kants und Hegels – wurden dabei die “grandes narratives”, die es nach Lyotard zu überwinden galt. *² aus: Innovation: digital und mit Begeisterung. Impact Mediaverlag , Juli 2021. Samira El Ousassil & Friedemann Karig: Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen, 2021, 522 S. *³ Henrik Müller im Manager Magazin, 4.07.2022  Jens Beckert: Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus, Berlin 2018. 568 S. –  Andreas P. Müller & Lutz Becker (Eds.) Narrative and Innovation: New Ideas for Business Administration, Strategic Management and Entrepreneurship (Management – Culture – Interpretation). darin: Michael Müller: How Innovation become Successful through Stories, 139 ff.)



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