29/08/20 kmjan
Bei einer (nicht- repräsentativen) adhoc- Umfrage der FES* meinten 2/3 derTeilnehmer, dass die Corona-Krise langfristig positive Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben haben wird. Soll man das überraschend finden? – Oder einfach als Hinweis darauf, dass die Veränderungsdynamik im Laufe der Corona- Krise Gestaltungsmöglichkeiten anstösst und verbreitert? Braucht es Krisen, um über die Richtung neu zu verhandeln? Buzzwords sind zunächst Neue Realität bzw. Neues Normal, Post- Corona Gesellschaft. Genauso passen programmatische Konzepte wie Neues Wirtschaftswunder oder Zukunft Für Alle in diese Perspektiven.
Andreas Reckwitz, Soziologe, knüpft in einem Gespräch innerhalb der FES- Reihe Rausgeblickt: Perspektiven für eine Welt nach Corona unter dem ambitionierten Titel Die Neuerfindung von Staat und Gesellschaft durch Corona an die abschliessende These seines – vor Corona erschienenen – Buches Das Ende der Illusionen an: Eine bereits seit längerem erkennbare Abkehr vom Paradigma eines apertistischen (d.h. sich öffnenden) Liberalismus mit den zwei wirkungsmächtigen Ausformungen, der wirtschaftlichen Öffnung der Märkte und der kulturellen Öffnung der Gesellschaft.
Kennzeichnend war damals die generelle Deregulierung, Dynamisierung und Öffnung zuvor fixierter gesellschaftliche Strukturen (Reckwitz, 262). Beispielhaft für die linksliberalen Strömungen finden sich u.a. in der Identitätspolitik. Effekte beider Strömungen zeigen sich in heterogenen Gesellschaften, die nicht mehr in Blöcken bzw. Klassen, sondern in eher diffusen Milieus, gegliedert sind. Nach einer Epoche, die von der Öffnung von Wirtschafts- und Lebensformen gekennzeichnet war, stellt sich nun die Frage nach den verbindenden gemeinsamen Grundregeln.
Die Corona- Krise wird als Einschnitt erlebt, der Wandel mit dem Ereignis verbunden.
Oft machen sich Diskussionen am Home Office fest, einem Begriff den es in der Ursprungssprache Englisch gar nicht gibt. Das Bild des in die 3- Zimmer Wohnung auslagerten Büros – Schreibtisch, Laptop, Monitor – ist wohl eines der Icons der Coronazeit. Ortsunabhängiges, dezentrales Arbeiten bzw. Remote Work sind weiter gefasst und langfristig passender.
In einer vom eco- Verband veröffentlichten Befragung gaben mehr als ein Drittel der Befragten (37,8 %) an, im Home Office und durch den Einsatz digitaler Tools effizienter zu sein als im klassischen Berufsalltag mit Büro und Kollegen. „Die gesammelten Erfahrungen im Neuen Normal zeigen jetzt ganz eindeutig, dass Remote Working sowohl für die Arbeitnehmer- wie die Arbeitgeberseite klare Vorteile mit sich bringt“.
Dahinter steht sicherlich die Erfahrung, eine Ausnahmesituation gemeistert zu haben, und die Bestätigung, dass mittlerweile der Anschluss ans Netz ausschlaggebend ist – die Kommunikationstechnik dazu steht fast überall zur Verfügung.
Wer das Leben im Büro als Kontrollhölle erlebt hat, wird jede Befreiung von Anwesenheitszwängen begrüssen. Aber auch die Kritik an der Verbreitung des Home Office formiert sich (vgl. Knüwer). Alle Argumente bis zur Ergonomie der Stühle werden hervorgeholt – als ob Konzern- Infrastrukturen auf Klappstühle am Küchentisch verlagert werden. Entscheidend in dieser Kritik ist eher die Aufweichung der Zentralität von Organisationen – und oft auch der Identifikation mit ihnen. Was sich abzeichnet, ist ein erlebter kultureller Wandel in dem die Firmensitze als physische Orte, in denen sich die Hierarchien spiegeln, nicht mehr das Zentrum der Arbeitswelt sind.
Das sagt nichts gegen die Trennung von Arbeit und Privatleben, die Möglichkeiten informeller Kommunikation mit Kollegen. Ob diese Vorteile überall gegeben sind, ist eine andere Frage. Ein Unternehmen muss seine Mitarbeiter überzeugen, um Loyalität zu sichern. Letztlich wird mit der Verbreitung von Remote Work, bzw. hybriden Arbeitsumgebungen Souverainitätsgewinne erlebt.
Freelancer sind oft Innovationstreiber oder auch das Plankton der Digitalen Transformation meint Thomas Sattelberger. In dem bemerkenswerten Artikel Ein neues Wirtschaftswunder schreibt er: „Das ist weit mehr als Homeoffice und die damit verbundene individuelle Souveränität für abhängig Beschäftigte. Es bedeutet balancierte Freiheits- und Schutzrechte für Freelancer und die wachsende Crowdwork. Und es hat mit Agilität und moderner Sozialpartnerschaft zu tun. Sowie mit (im)materieller Mitarbeiterbeteiligung.“ Wirtschaftswunder 2.0 wurde als Narrativ aufgegriffen, initiativ mit einer Wirtschaftswundertour von Birgit Eschbach, die sechs Wochen lang durch deutsche Provinzen zu Akteuren der lokalen Wirtschaft führte.
War das Modell der Solo- Selbständigen lange eher eine Randerscheinung, konnten gerade in den Digitalisierungsschüben Freelancer/Solopreneure Wissens- und Kompetenzvorsprünge technischer, kultureller, sozialer Art aufbauen und weiterentwickeln. Von der Krise sind sie oft besonders hart getroffen. Zum einen in Branchen, die seit fast sechs Monaten stillgelegt sind, zum anderen haben zahlreiche Unternehmen Aufträge an Dritte komplett storniert. Johannes Ceh, Social Entrepreneur, hält “die Corona Unterstützung für Solo-Selbstständige für PR Stunt und Farce: Der Öffentlichkeit wurde vermittelt: Solo-Selbstständigen wird umfassend geholfen. Das ist schlichtweg falsch”.
Es gibt die Suche nach neu auszuhandelnden, kulturellen Grundwerten für einen gesellschaftlichen Konsens in einem Neuen Normal, nach Aktivierung von Potentialen und sie kommen aus breiteren politischen Spektren. Dazu kommt der Bedarf an einer Grundversorgung der Infrastruktur für Bildung, Gesundheitssorge, Mobilität, öffentlicher Sicherheit etc. – eine Struktur von Verlässlichkeit. Dass diese vom Markt geliefert wird, wird kaum erwartet. Spätmoderne Gesellschaften umfassen eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensformen, nicht nur von Migranten. Vergemeinschaftung verläuft nur noch selten über die traditionellen Blöcke bzw. Milieus. Oft findet sie mehr in den Mustern von #Consozialität – Übereinstimmung einzelner Merkmale und Interessen – statt. Was an soziokulturellen Milieus (z.B. Sinus) beschrieben wird, ist oft eine Zusammenfassung von aussen, es sind weniger in sich geschlossene Milieus.
vgl. auch die Übersicht zu den Post- Corona Szenarien im Blog
Andreas Reckwitz: Die Neuerfindung von Staat und Gesellschaft durch Corona. Aufzeichnung FES, 12.08.2020. Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019. 304 S. Thomas Sattelberger: Ein neues Wirtschaftswunder – Gastkommentar im Handelsblatt, 25.05.20 ; Birgit Eschbach: Wirtschaftswundertour 2020; Gunnar Sohn: Recht auf Homeoffice – ein Schlupfloch im Bürokäfig der Gehorsamkeit. Diskussion im Nexttalk 17.08.20. Johannes Ceh: In: Facebook- Gruppe CORONA: Was wir jetzt tun müssen (OurJobToBeDone). Eco Umfrage: Arbeit in Pandemiezeiten wird digitaler – Fast 75 Prozent der Beschäftigten spürt positive Effekte. 25.08.20; Bilder aus dem Home Office: Johannes Mirus (Bonn Digital), Birgit Eschbach (Rheintöchter), Gunnar Sohn (Sohn & Sohn), Klaus Janowitz; * FES= Friedrich- Ebert- Stiftung