Mediengenerationen und Digitale Biographie

prägen Medienrealitäten ein Leben lang? – Bildquelle: photocase.de/herr_specht

Digital Natives, Digital Immigrants, Generationen X, Y, Z, Golf, dazu kommen immer wieder Neuschöpfungen wie Generation Selfie oder Generation Burnout,  sind oft und gern gebrauchte Begriffe – fast inflationär werden sie benutzt, um damit Trends (+ vermeintliche) zu beschreiben. Zuerst war wohl die Vorstellung, dass Mediennutzung und -aneignung eine Frage der Generation sei, und dass es Generationen sind, die Medieninnovationen vorantreiben. Mit einem Begriff werden Alterskohorten umfasst, denen man dann bestimmte gemeinschaftliche Erfahrungen und Kompetenzen zuschreibt bzw. unterstellt. Was als Aufhänger o.k. und evtl. unterhaltsam war, wird befremdlich, wenn damit gesellschaftliche Debatten geführt und Kriterien zur Mitarbeitersuche entwickelt werden. Mit sozialwissenschaftlicher Erklärung, mit dem Verstehen unterschiedlichen Medienhandelns hat das nichts zu tun (vgl. dazu Beck, Büder, Schumann: Mediengenerationen, S. 8).
In der Zeit  konstatiert der Marburger Soziologe Martin Schröder, dass es die besonderen Unterschiede zwischen diesen Generationen nicht gibt. Bisherige Studien zu Generationen basieren auf fragwürdigen Annahmen und Methoden und enthalten  Formulierungen wie in Horoskopen (z.B. sie  – die Generation – lege viel Wert auf Emotionen und wolle die Strategien der Zukunft neu definieren).

Ein weniger plakatives Modell Digitaler Generationen stellte Kai Heddergott aus Münster auf dem Media Camp NRW vor. Dabei werden nach dem Personas– Ansatz prototypische Vertreter von Mediengenerationen (1960 bis 2020) mit der zur jeweiligen Zeit vorherrschenden Medienrealität entworfen. Medienrealität umfasst dabei alle zu Information, Unterhaltung, technischen Umsetzung und der Aufrechterhaltung sozialer Netzwerke verfügbaren Medien (incl. des pers. Gesprächs) – und diese prototypischen Medienrealitäten werden schließlich auf einer Zeitschiene als ebenso prototypische  Medienbiographien gegenübergestellt (vgl.. Medienzeitreise mit Medienwolken, Slide 15).
Bei diesem  Modell geht es v.a. um die Einbindung der vorhandenen digitalen Kompetenz von Mitarbeitern aller Generationen in Unternehmen. Darüber hinaus bringt das Konzept der Medien- bzw.  Digitalbiographie eine neue Sicht auf Mediengenerationen mit sich. Digitale Biographien beginnen mit den Einstiegspunkten in digitale Medien, vom Betriebssystem  zu Bild, Ton, Video und Games.

Jeder “state of the art” von Medienrealitäten ist irgendwann überholt

Wer heute 35, 40, 50 oder 60 Jahre alt ist, hat mehrere Jahrzehnte von Medien- bzw. Digitalem Wandel hinter sich – und es ist nicht abzusehen, dass sich Medienrealitäten nicht weiterhin wandeln. Medienkompetenz beinhaltet kommunikative, technische, performative Fähigkeiten und zählt in einer zunehmend – kommerziell – medialisierten Welt zu den beruflichen Schlüsselqualifikationen wie zu den zentralen kommunikativen Kompetenzen im Alltag. Und sie wird biographisch erworben – es gibt keine finale Kompetenz – Aus- und Fortbildungen sind in der Regel schnell überholt. Was vor einigen Jahrzehnten noch Medienprofis vorbehalten war, wird mehr und mehr  zu einer Voraussetzung der Teilnahme an der Gesellschaft.
Medienrealitäten sind immer mit  einer Kultur verbunden. Die Medienrealität der Nachkriegsjahrzehnte  war von der Verbreitung von TV und Telefon geprägt. Fernsehen brachte die Welt ins Haus, aber so, wie sie von den Programmverantwortlichen gestaltet worden war. Das Telefon erweiterte den Radius der Kommunikation, aber ausserhalb des Ortstarifs tickte der Zähler. Beide waren stark reglementiert, so sehr, dass etwa die Einführung des Tastentelefons als Veränderung wahrgenommen wurde.
Das Aufbrechen dieser Medienrealität seit den 80er Jahren war wohl ein entscheidender Anstoß im Wandel. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre dann die Durchsetzung des Internet, gleichzeitig mit der Mobiltelefonie und der Integration von Bild, Ton, später Video (damals Multimedia genannt). Gut 10 Jahre später der Durchmarsch des SmartPhone und der Social Media, wie wir sie heute kennen. Die Verbindung  über eine technische Plattform, wie dem Internet, erleichtert immer wieder die Verbreitung  neuer  Funktionalitäten

Sicher gibt es  kollektive Erinnerungen jeder Generation, etwa an TV- Serien, an Formen der Medienpraxis, wie der Zusammenstellung von Musikkassetten, an den C 64, Updates von Betriebssystemen oder das Geräusch des Einwahlmodems. Aber es sind eher die anheimelnden Ach- Effekte von Mediennostalgie, vergleichbar mit den Erinnerungen an Popsongs, Moden, Frisuren und dem Design von Konsumgütern.
Dass dieselben Medientechniken auf die jüngeren Generationen grundlegend andere Auswirkungen haben als auf andere Generationen, zeigt sich nicht.

vgl. auch: Klaus Beck, Till Büser, Christiane Schubert : Mediengenerationen. Biografische und kollektivbiografische Muster des Medienhandelns. UVK Verlag  2016, ISBN: 978-3-7445-0882-7;  202 S. 



Öffentliche Meinung in der Digitalen Welt – Zur Diskussion

Res publica – die öffentliche Sache. Bildquelle: rarrarorro/photocase.de

Die Vorstellung von Öffentlichkeit ist oft von Bildern begleitet – von der Agora und der res publica, vom Caféhaus, dem Salon, dem Boulevard und der Piazza. Orte einer gleichzeitig visuellen  wie diskursiven Kultur. Blickkontakt, das Sehen und Gesehenwerden, fordern Stil und Habitus, im Diskurs entwickelt sich eine – öffentliche – Meinung zu dem, was schön ist, was richtig und angemessen. Öffentliche Meinung ist seit dem 18. Jh. ein Begriff. Eine bürgerliche Öffentlichkeit in der Bildung Voraussetzung war und nicht von zentraler Herrschaft und Religion bestimmt. Soweit zum Ursprung.  Wir brauchen solche Orte, die eben nicht in erster Linie funktional sind. Sie werden immer wieder zitiert und – mehr oder weniger gelungen – inszeniert.

In der modernen Gesellschaft wurde Öffentlichkeit zur Medienöffentlichkeit. Das Berufsbild von Journalisten mit einer Verpflichtung zu Objektivität und der Prüfung von Tatsachen hat sich daran herausgebildet. Es gibt zwar Vorgänger, das Zeitalter der Massenmedien begann aber erst dann, als sie auch die Massen erreichten. Und es waren lange Zeit nach “Stand” und Bildung getrennte Öffentlichkeiten.  Erstes wirkliches Massenmedium war das Radio, später das Fernsehen, dazu die sich stärker differenzierende Presselandschaft. Schließlich wird das Wissen und die Meinung von der Welt ganz überwiegend über Massenmedien vermittelt. Medienmacht konzentriert sich bei wenigen Akteuren,  den öffentlich- rechtlichen Anstalten und Medienhäusern mit zwar unterschiedlichen Ausrichtungen, aber ähnlichen  wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Verflechtungen.
Neben die dominierenden Massenmedien, die oft als Meinungskartell verstanden wurden, treten später sich selbst so verstehende Gegenöffentlichkeiten.  Mit einer Reichweite wenig mehr als der eigenen Szene, aber mit dem Anspruch wesentliche, in der veröffentlichten Meinung nicht vertretene Sichtweisen zu verbreiten, haben sie zur Entwicklung von Zivilgesellschaft beigetragen.  Medienmacht wurde aber auch durchgesetzt: Noch die Bundespost der 80er Jahre verteidigte ihr Fernmeldemonopol mit strafrechtlichen Mitteln gegenüber Freien Radios.

Öffentliche Meinung

Von Ferdinand Tönnies stammt die Beschreibung der Öffentlichen Meinung als einer mentalen Dimension des Zusammenhaltes.
In den Diskussionen der letzten Jahrzehnte hatten v.a. drei theoretische Modelle Bedeutung:  Das von Habermas (Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962, 1990) als ein normsetzendes Idealmodell, das Offenheit des Zugangs für alle gesellschaftlichen Gruppen einfordert. Öffentliche Meinung ist hier das Produkt der Diskussion, der Aushandlungsprozesse. Nach Luhmann (Die Realität der Massenmedien, 1998) strukturieren Massenmedien  die Aufmerksamkeit, sie geben der öffentlichen Meinung ihre Form. Wie die Wirtschaft sind sie ein in sich geschlossenes System.  Die Realität, die sie täglich verbreiten, erzeugen sie selber. Während die Öffentlichkeit als der Spiegel der Gesamtgesellschaft angesehen wird, stellt die öffentliche Meinung einen Spiegel für Politik dar. Nach Noelle-Neumann (Die Schweigespirale) ist die Bereitschaft, die eigene Meinung auch zu vertreten abhängig vom Meinungsklima. Öffentliche Meinung hat die Funktion zur Integration der Gesellschaft, die durch empirische Sozialforschung/Demoskopie  überprüft werden kann. Die These der Schweigespirale der Anpassung an eine (evtl. vermeintliche) Mehrheitsmeinung wird  mittlerweile obsolet sein, die des doppelten Meinungsklimas – dass tatsächliche und vermeintliche Mehrheitsmeinung auseinanderfallen, nicht.

der Cyberspace bot einen Freiraum

Das Internet bedeutete zunächst einen gewaltigen Freiraum der Publizität. Erstmals war der Zugang zu Medienöffentlichkeit nicht von Gatekeepern oder durch allzu großen finanziellen Aufwand beschränkt.  Der Cyberspace  bot allen Gegen- und Subkulturen (Tribes), Nerds  und Jungakademikern eine Heimstatt, neue Kommunikationsstrukturen konnten ausgelotet werden. In der entstehenden Netzkultur (bzw. Netzszene) entwickelte sich ein Anspruch als Öffentliche Meinung eben dieser sozialen Umgebung aufzutreten. Das Web 2.0, Blogs, die Piratenpartei, Konferenzen wie die re:publica und Barcamps sind bzw. waren allesamt Erscheinungen einer sich formierenden Netz- Sozialität.

Die neue Digitale Medienöffentlichkeit entstand mit der Verbreitung des Social Web als eines “formatierten” Internet. Erst damit wurde es massentauglich, erreichte die gesellschaftliche Breite. Die Struktur ist von Intermediären, den Zuträgern zu Information und Meinung, Inhalten und Angeboten, bestimmt. Das sind in erster Linie Google als Suchmaschine, Facebook als Social Network, youtube, im Handel haben Preisfinder Bedeutung. Die Timeline, das Suchergebnis sind Ausgangspunkt der Mediennutzung.  Im Marketing spricht man von Touchpoint und Customer Journey – parallele Begriffe dazu zu entwickeln, böte sich an.
Meinungsmacht der Intermediäre ist nicht dadurch gegeben, dass sie offensive Meinungen vertreten. Sie folgen geschäftlichen Interessen, sowie einem ausgeprägtem Behaviorismus. Einfluß erfolgt durch Gewichtungen und insbesondere Strukturmacht. Relevanz von Inhalten wird durch den Intermediären eigene Algorithmen strukturiert, Nutzerdaten sind Handelsware auf dem Werbemarkt.
So treffen im Social Web sehr unterschiedliche Strukturen aufeinander: In personalisierten Öffentlichkeiten konkurrieren private Kommunikation, redaktionelle Medienangebote und Angebote der Unterhaltungswirtschaft um Aufmerksamkeit. Redaktionelle Medien sind zu einem großen Teil bekannte Medienmarken, die Meinungsführerschaft/ Deutungshoheit beanspruchen, auf dem Pressemarkt aber an verkaufter Auflage verloren haben. Ausgenommen sind die öffentlich-rechtlichen Medien, deren Finanzierung durch Gebühren gesichert ist.

In personalisierten Öffentlichkeiten werden strittige Themen anders bewertet und gedeutet als in redaktionellen Massenmedien und in politischen Institutionen. Die Dynamik sozialer Netzwerken ist weniger von tradierten Hierarchien und Rollenmustern geprägt, sondern von den kurzfristig aufsummierten Handlungen vieler Menschen (Axel Maireder). Ein plurizentrisches Meinungsklima kann sich entwickeln. Ein Auseinander-Driften von Bevölkerungsmeinung und Medientenor kommt immer häufiger vor.  Was bedeutet der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit und was bringt er mit sich?

Öffentliche Meinung war historisch aus einer bürgerlichen Öffentlichkeit gewachsen, später wurde sie von den Massenmedien verkündet.  Im Netz ist sie zunächst volatil. Wahrscheinlich zeigt sich die Öffentliche Meinung am klarsten von der anderen Seite: dann,  wenn etwas nicht gegen sie durchzusetzen ist.

vgl: Frank Lobigs & Christoph Neuberger: Meinungsmacht im Internet und die Digitalstrategien von Internetunternehmen. Schriftenreihe der Landesmedienanstalten 51.; Gunnar Sohn: https://ichsagmal.com/   Konrad Lischka & Christian Stöcker: Digitale Öffentlichkeit – Wie algorithmische Prozesse den gesellschaftlichen Diskurs beeinflussen



Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (Rez.)

727 Seiten – davon >100 Anmerkungen und Register – das ist Schwergewicht, von Umfang wie Thema. Das Cover erinnert an Thomas Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert, Zufall? Jedenfalls liegt hier ein, wenn nicht das Standardwerk zum Digitalen Kapitalismus vor.
Vorangestellt ist eine Definition bzw. Beschreibung des Überwachungskapitalismus, in acht  harsch formulierten Thesen. Im Kern geht es um eine neue Marktform, die menschliche Erfahrung als kostenlosen Rohstoff für ihre kommerziellen Operationen nutzt. Es bleibt nicht allein dabei, die neue Logik der Akkumulation überschreitet den engeren Rahmen kommerzieller Aktivität und bildet die Grundlage einer neuen instrumentären Macht
Daran entzündet sich eine massive und überraschend radikale Kritik. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Zunächst geht es um die Grundlagen, die Genese des Überwachungskapitalismus, dann um seine Durchsetzung und Verbreitung, die Verdatung von Erfahrung, schliesslich die Etablierung einer instrumentären Macht in einer Dritten Moderne.

Überschusssinn bedeutet ein Reservoir neuer Möglichkeiten, für die es zunächst keine Verwendung gibt. Bild: kallejipp/photocase.de

In der vorderen Reihe der Kritik steht Google als Pionier (Facebook, Microsoft und Amazon nicht zu vergessen!). Mit der Entdeckung des Verhaltensüberschusses (96) beginnt der Überwachungskapitalismus.
Überschusssinn bedeutet im weitesten, dass mit neuen Medien/Techniken Möglichkeiten zur Verfügung stehen, für die es zunächst keine Verwendung gibt. Kontrollüberschuss (vgl. Dirk Baecker) verweist auf die Kontroll- Möglichkeiten in den elektronischen und digitalen Medien.
Verhaltensüberschuss ist der Anteil der gewonnenen Verhaltens- Daten, der nicht zur Verbesserung von Diensten notwendig ist. Dieser Überschuss versorgt ein neues Produktionsmittel, das Vorhersagen aus Nutzerverhalten produziert (120/121). Daten, die einst ungenutzt blieben, werden zu Aktiva (191). Der Beginn der Vermarktung in der (personalisierten) Werbung ist eher zufällig, die neuen Vorhersagesysteme lassen sich auf andere Branchen übertragen, die sensibler sind: Finanzplanung, Bildung, Gesundheit. Entwicklungen wie das Internet der Dinge lassen ganz neue Dimensionen erwarten. Selbst Staubsauger und Matratzen liefern damit Daten aus ihrer “natürlichen Umgebung“.
Das Internet war zunächst der grösste unregulierte Raum der Welt (129) – das Bild der last frontier, des wild wild web (Tim Cole) passt. Das bot zum einen Freiraum für experimentelle Subkulturen jeder Art, zum anderen Internet- Unternehmen den Spielraum zum Aufbau von Imperien nach neuen, eigenen Regeln – angetrieben durch die Dynamik des Wettbewerbs. Das Internet wurde dadurch mehr und mehr zum Ort kommerzieller Überwachung in Echtzeit, die möglichst jedes Detail der Online-Aktivitäten registriert. Alles, was zur Überwachung genutzt werden kann, wird auch dazu genutzt.

Geht es in den ersten beiden Teilen des Buches gut nachvollziehbar um die Genese und Verbreitung, beginnt der dritte Teil verstörend: Big Other nennt die Autorin die zentrale Metapher instrumentärer Macht. Eine rechnergestützte und vernetzte Instanz, die menschliches Verhalten rendert, überwacht, berechnet und modifiziert (437). Ideologische Basis ist ein Konglomerat aus Neoliberalismus Hayek’scher Prägung und einem radikalen Behaviorismus nach B. F. Skinner, das formale Gleichgültigkeit der neoliberalen Weltsicht  mit der beobachtenden Perspektive des radikalen Behaviorismus verbindet (437). Letztendlicher Sinn wäre eine Art automatisierte Perfektionierung von Markt und Gesellschaft: Wir könnten wahrscheinlich eine Menge der Probleme lösen, die wir Menschen so haben, so Larry Page 2014 (464). Politisch ist das Modell indifferent, sammelt seine Kräfte aber ausserhalb der Demokratie (590). Unternehmen des Datenkapitalismus stellen oft eine technologische  Unvermeidbarkeit hervor. Technologie besteht aber nie unabhängig von Wirtschaft und Gesellschaft. Letztlich ist der Überwachungskapitalismus nur eine Form der Informationsgesellschaft, nicht unabwendbar.
Bei aller zur Schau getragenen Innovations- Hipness und heroischer Selbstinszenierung unterscheidet sich die Haltung kaum von dem Motto der Weltausstellung von Chicago 1933: “Science Finds – Industry Applies – Man Conforms” (31) (Die Wissenschaft (er)findet – Die Industrie wendet an – Der Mensch passt sich an).

Bleibt zu sehen, welche längerfristige Wirkung von diesem Buch ausgeht. Die Diskussion zur Digitalen Zukunft wird damit eine andere. Unmut an der Ausformung des Digitalen Kapitalismus, an den Datenkraken, hat sich mehr und mehr verbreitet, mal dezent als Ausdeutung (C. Kucklick.- Die granulare Gesellschaft),  mal als dramatischer Rant (Brandrede) (J. Lanier) oder als Appell zur Wiederinbesitznahme/Reconquista des Internet (Tim Berners-Lee).
In diesem Umfang, mit solcher Detailfülle und einer solchen Radikalität wurde der Digitale Kapitalismus bisher nicht beschrieben. Die Kritik steht nicht im leeren Raum. Sie ist analytisch mit allen akademischen Qualitäten, die Genese von Machtstrukturen ist nachvollziehbar. Sie ist eingebettet in Bezüge zu den maßgeblichen Hintergründen und Ideologien – sie wird begleitet von Diskursen u.a. zu Hanna Arendt, nicht nur Piketty kommt vor, u.a. auch Polanyi.  Es geht letztlich um die Verteilung von Macht in einer neuen (dritten) Phase des Kapitalismus – um Metamorphosen der Macht in einer Umgebung,  die in wenigen Jahren zur bestimmenden Größe geworden ist. 
In den Feuilletons wird Zuboffs Werk positiv bis begeistert besprochen. Zur FAZ gibt es besondere Beziehung, wohl deshalb erschien die deutsche Ausgabe noch vor der amerikanischen.
Man sollte den Kapitalismus nicht roh geniessen. Er gehört gekocht, und zwar von einer demokratischen Gesellschaft und ihren Institutionen (63).All das bedeutet nicht, auf die Segnungen des Netzes zu verzichten, Programm wäre eine Zivilisierung.

Sicher sind 727 Seiten viel, eine detaillierte Gliederung und ein umfangreiches Register machen es zumindest einfacher, darin zu  navigieren

Shoshana Zuboff (Übs: Bernhard Schmid): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus Verlag, Frankfurt/New York 10/2018 (orig.: The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power.  727 S. ISBN: 978-3-593-50930-3



Digitale Zivilisation

auch Texte zur Digitalisierung erscheinen doch meist als gedrucktes Buch; Quelle: kallejipp/photocase.de

Ein Zwischenschritt: Nach einer Reihe von Rezensionen, nun ein Entwurf dazu, Ansätze und Begriffe in eine Perspektive zu richten.
In den Debatten zur Digitalisierung heisst es immer wieder “In Wirtschaft und Gesellschaft“, es geht dann um Digitale Transformation um Disruptionen,  viel agile und manchmal fällt der etwas seltsame Begriff Gesellschaft 4.0 (4.0 bei Dirk Baecker ist übrigens etwas völlig anderes) der so klingt, als sei Gesellschaft ein weicher Standortfaktor aus dem Aktenkoffer von Unternehmensberatern. Hinter dem Bild des Update steht die Ableitung der Gesellschaft von der Industrie. Letztlich geht es dann zumeist um die Kontinuität von Organisationen in einer veränderten Umgebung, um die Effizienz einer Volkswirtschaft,  um Managementaufgaben.

Warum jetzt Zivilisation? Kultur und Zivilisation überschneiden sich in ihrer Bedeutung und haben einen weiten Bedeutungsspielraum. Zivilisation kann man als das Dach bzw. Fundament einer Gesellschaft verstehen, als das, was sie zusammenhält:  die unverhandelbaren Werte ebenso, wie der Konsens zu Konfliktlösungen und zur Aushandlung sich wandelnder Werte, die akzeptierten Umgangsformen und die  individuellen Spielräume.
Zivilisation ist im ständigem Wandel. Angelehnt an Norbert Elias geht es um Gesellschafts – wie auch Persönlichkeitsstrukturen, das sich immer wieder verändernde und neu prägende Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, die Ausformung des Habitus. Zentral ist dabei das Konzept der Interdependenz, bestimmt durch Machtbalancen.

Kontrollüberschuss in der Digitalen Gesellschaft; Bild: kallejipp/photocase.de

Kontrollgesellschaft löst Disziplinargesellschaft ab – die Begriffe gehen auf Gilles Deleuze und Michel Foucault zurück. Disziplinargesellschaft (Foucault) erinnert an das Stahlharte Gehäuse der Hörigkeit (Max Weber), sie bedeutet(e) die Einbindung des einzelnen in sich anschliessende, hierarchisch organisierte geschlossene Systeme: (patriarchalische) Familien, Schulen, Kasernen, Fabriken etc.; Religion bzw. parareligiöse Weltanschauungen sorgten für eine Überhöhung.  Macht wurde persönlich und strukturell von oben nach unten ausgeübt. Menschen wurden geschliffen, um eine vorgesehene Funktion zu erfüllen. Disziplinargesellschaften gipfelten in den Phantasien der Formation eines Neuen Menschen in totalitären Systemen und wurden in den Reform- und Konsumgesellschaften gemildert. Sie brachten aber auch Ausgleichs- und Gegenbewegungen hervor.  Der Gestus des Rebellischen und sein Zeichenrepertoire zählen seitdem zum Fundus der Alltagskultur.
In der Kontrollgesellschaft ist Macht nicht mehr in den hierarchischen Stufen personalisiert, in ihrer Wirkung aber ebenso präsent. Selbstkontrolle ersetzt Außenkontrolle. Jeder wird selbst zu seinem eigenen, kleinen Unternehmen. Die Eroberung des Marktes geschieht durch Kontrollergreifung und nicht mehr durch Disziplinierung … der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch” (Deleuze, 1993).
Deutlicher wird das Konzept mit der These vom Kontrollüberschuss in der Digitalen Gesellschaft (Dirk Baecker, Luhmann folgend). Die Struktur der Gesellschaft wird auch auf den Möglichkeiten der elektronischen Rechner. Wir müssen uns eine Kultur zurechtlegen, die nicht mehr nur kontrolliert, was wir hören und sagen, aufschreiben und lesen, verbreiten und rezipieren, sondern auch kontrolliert, welche Art von Daten zu welchen unserer Praktiken alltäglicher und beruflicher Art Zugang erhält  (Baecker 2014).

Eines der anschaulichsten Bilder zur Digitalen Gesellschaft ist das der Granularität von Christoph Kucklick (Die Granulare Gesellschaft, 2016). Granularität bedeutet ein Maß der Neuvermessung von Gesellschaft in feinkörniger Auflösung. Mehr und mehr Details werden vermessen und ausgedeutet. Im Online- Marketing sind wir mittlerweile an personalisierte Werbung gewöhnt – das stört die meisten Menschen nicht weiter.
Ausdeutung beschränkt sich nicht auf Konsumpräferenzen. Das Wesen des Digitalen ist die Übersetzung aller verfügbaren Informationseinheiten in miteinander verrechenbare Daten und deren Steuerung durch Algorithmen. Das schließt die Ausdeutung menschlichen Verhaltens ein, Identitäten lassen sich rasch entschlüsseln. Die Verteilung von Chancen wird wesentlich beeinflusst. Wirklich gefährlich wird die Verfügung über Daten in der Verbindung mit ausführender Macht in  einer einzelnen Hand.
Den Begriff der Datenreichen Märkte (Ramge & Mayer- Schönberger) setzt eine positive Perspektive der Datenwirtschaft – unter der Bedingung einer politischen und gesellschaftlichen Gestaltung der Datenökonomie und ihrer Rahmenbedingungen. Man kann den Begriff um den der “Datenreichen Gesellschaft” ergänzen. Der Gewinn darf nicht allein den großen Datenmonopolisten zugute kommen, Zielvorstellung ist eine digitale soziale Marktwirtschaft.

Vom Bild der Granularität ist es nicht weit zum Begriff der SingularisierungDas bedeutet weder Vereinzelung/ Atomisierung noch einen überbordenden Individualismus, sondern im wesentlichen ein neues Ordnungsprinzip. Einst sehr wesentliche Mechanismen der Vergesellschaftung haben an Einfluß verloren. Der einzelne ist weniger Teil einer organisierten Gruppe oder eines gegliederten Milieus, als über die Vielzahl seiner Merkmale# vernetzt – darüber ist er als Individuum adressierbar. Es sind v.a. die großen Organisationen mit Funktionärsapparat, die an Einfluß verlieren. 

Sind es die Techniken und Medien, die gesellschaftlichen Wandel verursachen? – Oder bringen die Gesellschaften die ihnen gemässen Techniken und Medien hervor? Eine Henne & Ei Frage. Der Begriff Technogenese soll die parallele Entwicklung von Technologie und Gesellschaft verdeutlichen. Die Verbreitung neuer Techniken und Medien führt immer wieder zu Schüben von Veränderungen. Keine Renaissance, keine Reformation ohne Buchdruck, keine Arbeiterklasse ohne Industrielle Revolution, keine Globalisierung ohne die entsprechenden Medien.
Über die direkten Effekte hinaus verändert Digitalisierung die Textur, die Granularität der Gesellschaft.  Digitalisierung findet global statt und trifft auf ganz unterschiedliche Gesellschaften mit unterschiedlichen  Wertvorstellungen. Weltweit gibt fast keinen Ort mehr, der nicht von digitalen Medien ausgeleuchtet wird,  keine last frontier auf diesem Planeten. Die Macht ist fluide, ob sie eher oligarchisch in den großen Unternehmen des Datenkapitalismus verbleibt oder immer wieder neu ausgehandelt wird, ist die Frage.  Die Ausformung einer Gesellschaft, die dem allen Rechnung trägt, könnte man Digitale Zivilisation nennen.

 

Dirk Baecker: 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt.. Merve Verlag, Leipzig 2018.  272 S. Felix Stalder, 2016: Kultur der Digitalität. edition suhrkamp 2679; 283 S., 18 €; Christoph Kucklick:  Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst. 2016,. 268 S.   Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Oktober 2017, 480 S. ; Victor Mayer- Schönberger  & Thomas Ramge: Das Digital -Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus. Econ Verlag, München 2017, 304 S.  Timo Daum:  Das Kapital sind wir. Zur Kritik der Digitalen Ökonomie. Edition Nautilus, Hamburg 09/2017.  268 S.



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