Aufbruch, Pose und Diskurs – Über Pop-(Musik) – Rezension

didi_pop“Über Pop-Musik” erschien im März dieses Jahres, d.h. seitdem wurde bereits eine Menge dazu gesagt bzw. geschrieben. Zwar heisst es im Titel -Musik, es geht aber nicht über Musik als solche. Pop ist (hier) weniger Musikstil als eine Form des Erlebens. Thema ist das gesamte Ereignis-, Erlebnis- und Erfahrungsfeld Pop und dazu zählen nicht nur Songs incl. Texten und Cover + Moden, Frisuren etc. und ihr Entstehen, auch die damit verbundenen ästhetischen, sozialen und sexuellen Erfahrungen.

Diedrich Diederichsen hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten den deutschsprachigen Diskurs zu Pop geprägt, in Zeitschriften wie Spex, Büchern wie Sexbeat oder Musikzimmer, in unzähligen Plattenkritiken und Feuilletontexten, und nun als Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Unverkennbar die mit semiotischen und soziologischen Bezügen verdichtete, manchen elaboriert erscheinende Sprache. Über Pop-Musik ist so etwas wie die Summe all dieser Texte: ein Werk von 474 Seiten, gegliedert in fünf so bezeichnete Teile und knapp hundert Abschnitte, in denen wohl ebenso viele Einzelthemen als Diskurseinheiten behandelt werden. Es stützt sich auf eine enzyklopädische Kenntnis des Feldes, enthält im Rückgriff auf eigene Erlebnisse auto-ethnographische Elemente und bezieht sich auf die Kulturtheoretiker des 20. Jahrhunderts. So auf Adornos Kulturindustrieverdacht, den Subkulturalismus von Foucault und Pierre Bourdieus Begriff der Distinktion. Luhmann kommt genauso vor wie Bob Dylan und David Bowie, wie Punk, HipHop und Techno, es geht um Camp und Queerness. Das Zusammenwirken dieser Ebenen bestimmt Diskurs und Analyse, dabei zeigen sich erhellende Gedankengänge, von denen manche sich aber nicht sofort erschliessen.
Dahinter wird eine Geschichte erzählt: die von der Welterfahrung, der Sozialisation und Individuation über Pop-Musik, persönlich und typisch für diese und direkt nachfolgende Generationen. Pop-Musik vermittelte “emotionale und atmosphärische Neuheiten” (S. 249), Erfahrungen, die in der Herkunftskultur nicht gemacht werden konnten. Es ist die Entwicklungsgeschichte einer Generation von den Jugendzimmern und Schulhöfen, durch Clubs, Seminare und Redaktionen, mit einigen radikalen Schlenkern, in die Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Mich selber erinnert DD immer etwas an Sascha Lobo (oder umgekehrt). Zumindest wissen sich beide in der wahrgenommenen Rolle als szeneinterne Durchblicker mit Anspruch auf Deutungshoheit zu inszenieren.

Zu Pop gehört die Pose
Zu Pop gehört die Pose

Zu Pop gehört die Pose. Zunächst denkt man an so bekannte wie Zappa auf dem Klo und den Stinkefinger der Stones. An die Inszenierung von Punk, Rap oder HipHop. Pose bedeutet hier eine Haltung als Einheit von Auftritt, Stimme und Stil einzunehmen, mit der man im Leben besteht (bzw. will), und das bedeutet auch Selbstermächtigung.Was ist das denn für ein Typ (bzw. wat is’n dat für’n Typ)? Was für ein Lebensentwurf wird uns denn da präsentiert? Wie sieht der denn aus? (S. 139) und ‘was finde ich denn gut an dem/der’? sind die Fragen, die an Performer von Pop gestellt werden. Nicht der musikalische Wohlklang – Verstärker boten auch schwachen Stimmen eine Bühne -steht im Vordergrund, sondern die möglichst überzeugende, in sich stimmige Haltung. In dieser Weise vermittelt Pop jeweils subjektive Weltsichten und das gilt nicht nur für Hipster (in der ursprünglichen Bedeutung), sondern für praktisch jede subjektive Sichtweise (vgl. S.412 ff), auch wenn sie ganz und gar nicht in das Bild gesellschaftlich fortschrittlicher Pop-Musik passt, wie etwa neo-patriarchale HipHopper, oder gar Neo-Nazis. Der für Diederichsen entscheidende Maßstab ist die Vermittlung des Pop-Erlebnisses in die reale soziale Welt als vielversprechender Aufbruch, und er macht auch deutlich, daß er sich nur für Pop interessiert, der diese Erlebnisse vermittelt (S. 419) – idealerweise als subkulturelles Gemeinschaftserlebnis.

Pop zählt zu den stärksten kulturellen Strömungen der letzten Jahrzehnte mit kaum zu unterschätzenden Wirkungen auf die Alltagsästhetik. Eine wesentliche Errungenschaft ist es, Stimmungen, als eine Art atmosphärische Wahrheit, auf einprägsame Weise in den Alltag überführt zu haben, etwa in dem Sinne “How do you think it feels?“. Erlebnis und Erfahrung Pop waren einst an eine Revolte gegen die Disziplinargesellschaft (etwa das, was Max Weber als das stahlharte Gehäuse bezeichnet hatte) und den von ihr ausgeübten normativen Druck gekoppelt. Lange Zeit blieb Pop gegenkulturellen Szenen verpflichtet. Kaum eine soziale Bewegung, kaum eine eigenständige Szene der letzten Jahrzehnte ohne den entsprechenden Sound. Auf die (von DD so genannte) heroische Phase des Pop folgten weniger heroische Zeiten. Mittlerweile ist Pop allgegenwärtig, in allen Schattierungen: mit Liebhaberszenen nahezu aller Genres aus allen Epochen, allzeit abrufbar aus digitalen Archiven. Es gibt kaum noch eine Generation, die nicht mit Pop aufgewachsen ist. Allerdings ist Pop-Musik immer weniger Aufbrüchen des Lebensgefühls verbunden, wie es jahrzehntelang in immer neuen Schüben – von Bob Dylan und Jimi Hendrix, Punk und New Wave, Grunge, bis Techno, Dub etc. – gewesen ist.
Pop lässt sich auch aus zivilisationsgeschichtlicher Perspektive (nach N. Elias) betrachten. Dabei geht um die langfristig gerichtete Veränderungen von Mentalitäten und Verhaltensstandards. Der niederländische Soziologe Cas Wouters hatte 1991 einen Prozess der Informalisierung beschrieben, der eine bis dahin formulierte Unterwerfung des Verhaltens unter straffere Regulierungen der zunehmenden in der Richtung veränderte.

Es bleiben weiterführende gesellschaftliche Fragen: “Wie bildet Pop-Musik soziale Einheiten, Gangs, Szenen, Milieus, Subkulturen und Gegenkulturen, wie generiert sie das, wofür sie mehr als für ihre ästhetischen oder kulturellen Meriten studiert zu werden verdient verdient: soziale Tatsachen und -so glaubten ja einst Gegner wie ihre Unterstützer – Gefahren?” (S. 375) – und damit bin ich beim Thema des nächsten Blogbeitrages, bei dem es um diese posttraditionellen Vergemeinschaftungen geht.

Diederichsen, D. “Über Pop-Musik”, Köln 2014, 474 S, ISBN: 978-3-462-04532-1, 39,90 €

Vin naturel

Wein ist ein besonderes Getränk: Genuß- und manchmal auch Rauschmittel, mit Kultur und Zivilisation, mit Landschaftsbildern und Geschmackserlebnissen so verbunden, wie kein anderes. Anbau und Ausbau verweisen oft auf uralte Traditionen  –  und  genauso oft werden moderne Technik und Zusatzstoffe eingesetzt, um erwünschte Geschmacksbilder zu erreichen. Wein erzählt die Geschichten davon und diese Vielfalt macht ihn zu einem nahezu unerschöpflichen Thema.
Wein kann ein industriell standardisiertes Produkt sein, oder auch ein ganz individuelles, das den spezifischen Ausdruck der Traube, des Bodens, des Terroirs mit der Handschrift des Winzers verbindet – und vieles dazwischen.

bei der Gärung entwickeln sich “wildere” Aromen

Vin naturel* geht über ökologischen Anbau hinaus.  Vor allem bei dem, was im Keller nicht gemacht wird: Vins naturels werden spontan mit den natürlich vorkommenden Hefen vergoren (d.h. ohne Einsatz von Reinzuchthefen), sie sind ungefiltert und weitgehend ungeschwefelt, es gibt insgesamt möglichst wenig Eingriffe bei der Gärung.
SO2 wird in der Regel eingesetzt, um Weine zu stabilisieren, d.h. in einem einmal erreichten Zustand zu konservieren. Der Verzicht darauf bewirkt, dass der Wein sich – v.a. bei der Zufuhr von Sauerstoff weiterentwickelt. Man kann Vin naturel mit Rohmilchkäse vergleichen: hier wie dort wird ein natürlicher, mikrobiologischer Reifungsprozess begleitet – und es gibt einen optimalen Zeitpunkt der Genußreife. Für die Qualität sind gesunde, ausgereifte Trauben und eine sorgfältige Steuerung der Gärung verantwortlich.

spontanvergoren, ungefiltert, ungeschwefelt

Bei der Gärung entwickeln sich ganz andere, wildere Aromen – manchmal auch unerwartete. Ein Grolleau von der Loire zeigte zunächst ein Bouquet dunkler Kirschen – dann überwogen fleischige, animalische Aromen, im Abgang kräuterwürzig und ein leichter Eindruck von Gärungskohlensäure. Während die meisten roten vins naturels den erwarteten Geschmacksbildern   in etwa entsprechen, treten bei den weißen oft ungewohnte, manchmal sogar zunächst irritierende Eindrücke hervor: auch Weißweine werden oft mit der Schale vergoren, dadurch nehmen sie Farbstoffe und Tannine (Gerbstoffe) auf. Durch Sauerstoffeinfluß entstehen oxidative Noten. Solche Weine sind geschmacklich weit entfernt von gängigen Weinen mit betonten Fruchtaromen (z. B. von Sauvignon Blanc). Auch der derzeit öfters erwähnte orangene Wein entsteht so, ist aber nicht zwingend vin naturel.
Bisher sind Vins Naturels zumeist französischer (oder auch spanischer, italienischer und slowenischer) Provenienz. Weniger aus dem deutschsprachigen Raum.  Zu nennen wäre das badische Weingut Enderle & Moll mit eindrucksvollem Pinot Noir. Vermisst wird noch ein Moselriesling mit filigraner Mineralität als vin naturel zum Alltagspreis. 
Was haben Vins naturels mit dem Internet zu tun? Genauso viel oder wenig, wie viele andere Themen auch. Manche Erzeuger haben nicht einmal eine Website. Das Internet und Social Media bietet aber mit Blogs und Foren, mit Video- Degustationen etc. die Infrastruktur der Kommunikation. Wahrscheinlich zählt die Weinszene zu den online am besten und professionellsten vertretenen Branchen: das interessierte,  fachkundige, und auch kaufkräftige Publikum ist zahlreich genug. Vins naturels zählen dabei zu einem häufigeren Thema. Ähnliche Tendenzen gibt es auch beim Bier: Mikrobrauereien stellen individuelle, nach vergleichbaren Kriterien hergestellte Biere abseits der Vertriebsketten von Großbrauereien her.

probieren und kaufen kann man Vin Naturel in der Vincaillerie von Surk-ki Schrade in Köln-Ehrenfeld

Ein Lebens- und Konsumstil genußorientierter Nachhaltigkeit zeigt sich bei verschiedenen Themen, die deutliche Gemeinsamkeiten zeigen: so bei Kaffee, Schokolade, Bier oder auch Pfeffer. Erzeuger, Handel und Konsumenten sind meist online und offline in regen Diskussionen vernetzt und verstehen sich als Gemeinschaft, die die Begeisterung für ein Produkt,  dessen Geschichte und spannende Geschmackserlebnisse teilt, die Vertriebswege verlaufen in direktem Kontakt, ohne alternative Nischen zu bilden. Man muß nicht unbedingt das Modell der Consumer Tribes bemühen, aber einiges davon lässt sich erkennen, es sind Beteiligte einer Wechselbeziehung, die eine gemeinsame Kultur teilen.
Vins naturels sind auch in der kulinarischen Hochkultur angekommen (bzw. diese wird immer mehr von genußorientierter Nachhaltigkeit bestimmt): In den derzeit weltweit höchstbewerteten Restaurants, wie Noma (Kopenhagen) und Celler de Can Roca im katalanischen Girona stehen sie auf der Karte.

 

* der deutsche Begriff Naturwein wird selten verwendet, so wurden lange Zeit Weine bezeichnet, bei denen lediglich auf Chaptalisierung bzw. Anreicherung mit Süssreserve verzichtet wurde (Trocken- bzw. Nasszuckerung); mehr Informationen zum Thema: u.a.  http://www.la-vincaillerie.de/vin-naturel/ und http://www.nulldosage.com/biodynamiknaturwein/was-ist-naturwein

Zivilkapitalismus

Auf der diesjährigen re:publica im Mai in Berlin bin ich bei dem Vortrag des brandeins Autors Wolf Lotter auf den Begriff Zivilkapitalismus gestossenEine griffige Wortverbindung, die die Werkzeuge der Ökonomie in die Zivilgesellschaft holen soll. Das Buch ist Ende August 2013 erschienen.

Lotter geht es um einen neuen Gebrauch der Möglichkeiten des Kapitalismus und um die Entrümpelung des Begriffs von angesammeltem Ballast. Die Botschaft lässt sich einfach auf einen Punkt bringen: Die Zivilgesellschaft soll auch ihre ökonomischen Belange in die eigenen Hände nehmen und die (vermeintliche ?) Scheu vor dem Kapitalismus ablegen.  Aus volkswirtschaftlicher Sicht gilt Kapitalismus als das Wirtschaftssystem, welches “am besten geeignet ist, die Produktivpotenzen der Gesellschaft zu entwickeln*.” Kapitalistische Wirtschaftssysteme fanden und finden sich in den unterschiedlichsten Gesellschaftssystemen, in demokratischen, in oligarchischen, und in autoritären. Im Gegensatz zu Marktwirtschaft ist der Begriff mit negativen Konnotationen behaftet. Meist ist damit die Vorstellung eines Systems verbunden, dem der einzelne ausgeliefert ist, so der klassische Industriekapitalismus, die große Maschine, den Max Weber als stahlhartes Gehäuse bezeichnet hatte – oder aktueller die Finanzindustrie. Lotter stellt dem einen nüchtern-neutralen Begriff des Kapitalismus (nach dem Historiker Fernand Braudel) entgegen, als ein Instrument, ein Werkzeug, das man sich nutzbar machen kann. Gestaltbar, wie jedes andere Werkzeug und jede andere Technik.

Kapitalismus normiert, zerstört, tötete - solche Sprüche gehen Herrn Lotter auf die Nerven
“Kapitalismus normiert, zerstört, tötet” – solche dämonisierenden Sprüche gehen Wolf Lotter auf die Nerven

Zivilkapitalismus ist keine Analyse und kein Programm, eher ein Leitbild. Die Essenz des Buches ist abschließend in 10 Punkten zusammengefasst, die man als ein Manifest verstehen kann: Erwachsene der Moderne nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand, verlassen sich nicht auf die Abhängigkeit von bürokratischen Systemen, ihr Ziel ist Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung in größtmöglicher Eigenverantwortung. Gesellschaftlich steht die Entwicklung der persönlichen Talente und Fähigkeiten der Bürger, die Sicherung der Zugänge zu Bildung und Information im Vordergrund. Eine offene Gesellschaft lebt nicht von Anpassung und Mainstream, sondern den Unterschieden – soweit in etwa die Botschaft.
Thematisch erinnert Zivilkapitalismus an Richard Sennett Die Kultur des Neuen Kapitalismus – und an Wir nennen es Arbeit (Friebe & Lobo, 2006). Sennett bedauert aber eher die Verluste, die mit dem Ende des Industriekapitalismus, des stahlharten Gehäuses mit seinen ausgeprägten normativen Zwängen, einhergehen. Immerhin sicherte der klassische Industriekapitalismus in seiner sozialstaatlichen Variante breiten Schichten Einkommen, Teilhabe und soziale Absicherung. Friebe & Lobo wendeten sich 2006 an einen engeren Kreis der Gesellschaft, die eigene popkuturell geprägte Szene als sog. digitale Bohème, die endlich ihre Scheu vor Technik und Marketing ablegen soll, um ihre Chancen zu ergreifen. 
Lotter sieht Zivilkapitalismus in der Nachfolge der Alternativbewegungen der 70er und 80er Jahre. Strebte man damals nach Freiräumen selbstbestimmter Lebensstile außerhalb des Systems, steht Zivilgesellschaft für eine Gesellschaft, in der sich die Bürger selber um das Gemeinwohl kümmern – weitgehend unabhängig vom Staat. Zivilkapitalismus wäre dann eine ökonomische Emanzipation, die zweite Achse der Selbstverwirklichung. Lotters Kritik richtet sich v.a. gegen einzwängende und bevormundende Systeme der Machterhaltung: Monopole, Trusts, Kartelle und Lobbies (vgl. S. 72) –  und gegen einen – aus meiner Sicht sehr diffusen – Antikapitalismus. Darunter fasst er die unterschiedlichsten Strömungen und Haltungen zusammen, greift auf historische Wurzeln bis hin zu Aristoteles, den Pietismus und Rousseau zurück, und wettert geradezu gegen dessen ‘moralische Lufthoheit in Politik, Kunst und Medien‘ (vgl. S. 220) – als ob Antikapitalismus eine gesellschaftliche Pathologie wäre, wie etwa Antisemitismus oder Homophobie. Was ist an Radical Chic antikapitalistisch? Er trägt zu modischer Erneuerung bei, wie Punk, HipHop und alle anderen Trends der letzten Jahrzehnte – die radikale Pose soll möglichst sexy sein. Es gibt endlos viele Gründe zur Kritik an den Folgen gewinnorientierten Handelns, an der Politik von Unternehmen – ohne dass sich daraus ein ideologisch-konsistenter Antikapitalismus ableiten liesse.

Was bleibt von der Lektüre? Ein einprägsamer Begriff, der Zivilgesellschaft und ökonomische Bildung miteinander verbindet,  ein Leitbild für Wissensarbeiter, dass für einen Teil der Gesellschaft wohl Lebenswirklichkeit ist – und das keine schlechte. Zumindest mich irritiert allerdings die Konstruktion eines ideologisch-dominanten Antikapitalismus, der in dieser Form nur noch als Folklore existiert. Von Wolf Lotter selber mehr zum Thema in einem  Video-Interview im Blog von Gunnar Sohn.

*Quelle: Lexikon zur Soziologie, Wiesbaden 2007. S. 324. Wolf Lotter: Zivilkapitalismus. Wir können auch anders.Pantheon Verlag. 8/2013 209 S.

Das Riesling Netz

Wein ist ein beliebtes Gesprächsthema, über wenig andere Themen lässt sich derart detailliert und genußvoll fachsimpeln. Wissen über Anbau und Ausbau, Produzenten und das Terroir sind kulturelles Kapital. Der Beschreibung subtiler Geschmackserlebnisse dient eine eigene Sprache mit einem reichen Fundus geschmacklicher Assoziation, der über Früchte und Mineralien bis hin zu Katzenpisse (bei Sauvignon blanc), Schweiß & Leder (bei Syrah) und Petroleum (beim reiferen Riesling) reicht. Wein wird sowohl als standardisiertes Produkt in hoher Auflage (Markenwein), wie auch als Produkt mit Herkunftsgarantie, das Rebsorte, Lage und Erzeuger erkennen lässt, vermarktet.

Rieslingtraube
reife Rieslingtraube

Wie wird über Wein im Social Web kommuniziert? Das Thema bot sich an für den Test von Radarly, einem Social Media Monitoring Tool des französischen StartUps linkfluence, das erst seit neuem auf dem deutschen Markt ist.  Als Ganzes wäre das Thema Wein zu umfangreich, von daher die Beschränkung auf Riesling. Speziell Riesling ist ein kulturelles bzw. kulinarisches Aushängeschild Deutschlands und seiner Nachbarn Österreich und Elsaß und genießt seit einigen Jahren ein verstärktes internationales Interesse.
Radarly war in einem aktuellen Test der Agentur Goldbach als Neueinsteiger auf dem deutschen Markt sehr positiv bewertet worden. In Frankreich schreibt Linkfluence Gründer Guilhem Fouetillou bei Le Monde  eine Kolumne zu aktuellen Themen aus dem Netz.

Der Recherchezeitraum war auf einen Monat festgesetzt, auf Beiträge in deutscher, englischer und niederländischer Sprache: Wie international ist das Thema Riesling? Radarly deckt unterschiedliche Quellen ab: Foren, Websites (dazu zählen auch die Presseartikel in den Online-Ausgaben von Zeitungen), Blogs, Medienformate wie youtube oder das in Frankreich stark verbreitete dailymotion und die Social Media Standards Twitter, Facebook und Google+. Innerhalb eines Monats gab es ca. 11.600 Nennungen, von denen allerdings fast zwei Drittel auf die Kurznachrichten von Twitter (62,4%) entfallen.

Verteilung der Quellen
Verteilung der Quellen (nach Medientypen)

Die Verteilung der Sprachen überrascht: Englisch überwiegt, genauer mit ca. 85 %. Weitgehend ist dies wohl  in der umfangreicheren Nutzung von Social Media, insbes. Twitter begründet, verweist aber ebenso auf internationale Popularität. Das Interesse gilt nicht nur dem Riesling der Alten Welt. Anbaugebiete der Neuen Welt, wie die Finger Lakes (Upstate New York), Washington State und Cool Climate Regionen in Kalifornien und Australien (Clare Valley) werden ebenfalls häufig genannt. In den Recherchezeitraum fällt u.a. der Summer of Riesling – A love affair with the greatest grape expressed in full technicolor – eine USA-weite Serie von Events in Weinbars und anderen Orten mit beachtlicher Resonanz. Die Faszination des Rieslings besteht in seiner Vielseitigkeit, die Böden und Klima wiederspiegelt: “As you move from one country to another, from one region to another, and even one vineyard to another, you get a completely different expression of the varietal”* – als besonderer Vorteil wird auch der – relativ – niedrige Alkoholgehalt gesehen:  Wine you won’t get drunk from.   

Riesling Marketing in den USA
Dachshund – Riesling Marketing in den USA

Die einzelnen Medienformate werden unterschiedlich genutzt und jedes hat seine spezifischen Vorteile: bei Twitter überwiegen situative Bemerkungen zum Weinerlebnis und Linkverweise, Facebook ist eher marketingorientiert. Ein passendes Beispiel für Facebook-Marketing ist Dachshund-Riesling, ein Markenwein mit nur 9° Alc. und immerhin 30gr Restsüsse. Kunden posten dort spassige Bilder ihres Dackels/Dachshunds mit einer oder mehrerer Flaschen dieses Rieslings – eine neue Form der internationalen Vermarktung deutscher Markenweine, im Zeitalter nach der Liebfrauenmilch.
Blogs werden sowohl von professionellen Wein-Journalisten, wie von engagierten Amateuren geführt. Einige davon kann man, neben den Websites mancher Winzer als Knotenpunkte im Wein-bzw. Riesling-Netz sehen. Eine Besonderheit des Wein-Netzes sind Verkostungen als VideoBlog.
Foren sind stärker im deutschsprachigen Netz verbreitet. Sie haben den Vorteil, dass jederzeit, auch langfristig, an ein einmal gepostetes Thema angeknüpft werden kann. Persönliche Verkostungsnotizen stehen oft im Mitttelpunkt – und Riesling spielt dabei eine herausragende Rolle. Es geht meist weniger um klassische Spitzenweine, als um die Entdeckung handwerklich erzeugter authentischer Weine, oder besser von Autorenweinen. Dabei spielt der gelegentlich überstrapazierte Begriff des Terroir und die Handschrift des Erzeugers eine große Rolle. Wein-Marketing knüpft daran an.

Radarly bietet, wie auch andere aktuelle Social Media Monitoring Tools, eine komfortable Oberfläche mit zahlreichen Recherchemöglichkeiten in der öffentlichen Online-Komunikation. Innerhalb der Recherche lassen sich die verschiedenen Auswahlfunktionen miteinander kombinieren und damit gelangt man schnell zu den jeweils interessierenden Quellen. Zudem bietet Radarly Engaging-Funktionen. Bei allen Möglichkeiten der Recherche und der Auswahl sowie der Identifizierung geeigneter Quellen bedeutet es nicht, dass die Software bereits Ergebnisse bietet. Forschung im Netz geht von einer jeweils spezifischen Fragestellung aus – abhängig vom jeweiligen Interesse. Es gibt viele Möglichkeiten, in diesem Feld weiterzuforschen, das Thema Wein und speziell Riesling bietet eine Fülle von Quellen, die wirtschaftliche, kulturelle, touristische und u.a. Fragen des Konsumstils berühren.

* s. http://www.sacbee.com/2013/08/13/5647108/wine-buzz-summer-of-riesling-hopes.html



Klaus Janowitz (klausmjan)

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