Krisen und der Zukunftsdiskurs – #Corona #Klima

Ist Corona ausgestanden? Bild: Guido Hoffmann. unsplash.com

Ob Corona im Herbst 2021  ausgestanden ist, lässt sich noch nicht abschliessend sagen. Manches spricht dafür und mit der Impfkampagne  sind die spürbarsten Einschränkungen aus dem Alltag verschwunden.
Gesellschaftliche Folgen bzw. Auswirkungen lassen sich aber resumieren, zumindest  einschätzen – nach gut anderthalb Jahren ist die Zeit dazu, Schlüsse zu ziehen. Übrigens auch auf der subjektiven Ebene der Empfindungen, wie ein Blick in die literarischen Neuerscheinungen in den Auslagen der Buchhandlungen zeigt.

Corona- Erfahrungen – nach Klick in voller Auflösung auf neuer Seie

Gleich zweimal wurden die Zukunftsannahmen aus den 2017 vorgestellten Szenarien von D 2030 auf ihre Gültigkeit überprüft.  Zu Beginn der Pandemie und im Sommer 2021. Die letzten Auswertungen waren im September abgeschlossen. Grundlegende Fragestellung war Wie weit hat die Pandemie unsere Zukunftserwartungen beeinflusst?
Bei den Befragten zeigt sich ein deutlicher Wunsch nach einer Nachhaltigen Transformation (25) – bzw. der positiven Zukunftserwartung der Neue Horizonte – Szenarien. Im Vergleich zur frühen Phase der Pandemie fielen die Einschätzungen im Sommer 2021 dazu pessimistischer aus. Erlebt wurde oft eine schnelle Rückkehr zu alten Routinen, einer (manchmal) hohen staatlichen Lösungskompetenz steht ein Mangel an Teilhabe gegenüber. Deutlich werden Wertekonflikte zwischen  konträren Positionen, wie etwa Digitalisierungsschub vs. Mangelhafte Digitalisierung; Corona hat Veränderungsfähigkeit gezeigt vs. Corona hat Beharrungstendenzen aufgezeigt (4).
Zu den zentralen Erfahrungen der Pandemie zählt, dass Ereignisse, die  gesellschaftliche Änderungen in großem Maßstab zu Folge haben jederzeit möglich sind. Wer hätte etwa 2019 einen Lockdown für möglich gehalten? Erlebt wurden die Chancen, manchmal auch die Grenzen der Digitalisierung: flexibles, mobiles Arbeiten, Online- Konferenzen, die Mobilität einsparen, der Boom des Online- Handels. Andere Auswirkungen treffen unterschiedlich hart: ein Lockdown im Haus mit Garten wird anders erlebt als in beengten Verhältnissen. Das soziale Leben wurde erschüttert, incl. der damit verbundenen Branchen: Kunst und Kultur in ihren Live- Events, Gastronomie, Tourismus.
Übereinstimmung herrscht in zwei Punkten: 1. Die Klimakrise war zwar zwischenzeitlich in den Hintergrund gedrängt, wird aber das beherrschende Thema der PostCoronaZeit sein. 2. Die Veränderung der Arbeitswelt ist durch Corona beschleunigt worden. Hier wird sich eine Neue Normalität einstellen. — Bildung, Klima und Nachhaltigkeit, Soziale Gerechtigkeit, Partizipation, aber auch Deutschlands geopolitische Rolle werden als vordringliche Themen eines öffentlichen Zukunftsdiskurses genannt.  Soweit ein zusammenfassender Einblick, mehr im Ergebnisdokument CoronaStresstest 2 .

Armin Nassehi war als Mitglied der Leopoldina-Expertengruppe während der Pandemie der wohl medienpräsenteste Soziologe und  äusserte sich in verschiedenen Phasen der Krise dazu, wie Corona unsere Gesellschaft verändert. Seine Positonen standen immer wieder im Gegensatz zu den  Haltungen, die in der Krise die Chance zur Veränderung sehen: «Gesellschaften sind träge, sie ändern sich in und nach Katastrophen nicht grundlegend. Die Routinen werden sehr schnell wiederkommen, wenn diese Krise vorbei oder zumindest leichter beherrschbar ist» meinte er im April 20 in der NZZ – und das trifft seine Haltung ziemlich gut.
In seinem neuen Buch Unbehagen- Theorie der überforderten Gesellschaft (9/21) ist die Pandemie nicht direkt das Thema, sondern neben der Klimakrise – aufs allgemeingültige herausgehoben – Referenzkrise.  Nassehis Blick darauf ist theoriegeleitet, das heisst bei ihm systemtheoretisch.  Der Gegensatz Sachdimension vs Sozialdimension  (vgl. 106-109) zieht sich durch die Argumentationen. Die Sozialdimension erzeugt eine Art Überzeitigkeit des Gemeinsamen,  die Sachdimension eine Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem (123). Sozialdimension beschreibt Gesellschaft als integrierte oder integrierbare Einheit von Kollektiven, ihre Öffentlichkeit als Arena aufeinandertreffender Strömungen. Ordnungsaufbau findet über die Sachdimension statt, dem System unterschiedlicher sachlicher Bedürfnisse und Interessen, der Eigendynamik  der Funktionssysteme Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Recht  und zahlreichen anderen Teilbereichen der Gesellschaft. Funktionssysteme reagieren entsprechend ihrer eigenen Logik.
Nassehis grundlegendes Thema ist die Frage, warum Gesellschaften darin scheitern, wenn sie sich kollektiv verändern wollen. Die Eigendynamiken von technisch aufgerüstetem Wirtschaftssystem, auf Gleichheitsversprechen und Inklusion ausgerichtetem Rechtssystem, flächendeckendem Bildungssystem, das sowohl ungleiche Positionen zuweist als auch Aufstiegschancen moderieren kann, Mediensystem etc. entzieht sich zentraler Koordination (312). In der Gesellschaft bilden sich Handlungsmöglichkeiten daraus.
Krisen unterbrechen den Ablauf des Gewohnten, es gibt für sie keine Routinen. Krisen sind disruptiv, gesellschaftliche Veränderung verläuft aber evolutionär.  Zu erreichen ist sie über die Veränderung von Organisationsroutinen.
Nassehis Buch enthält zahllose Beobachtungen, Beschreibungen und Detailanalysen, und auch einige abschliessende Erfahrungen, die Erkenntnisse in der (Post-) Corona- Diskussion vermitteln, aber es ist sicher nicht lösungsorientiert im Sinne eines Transformativen Zukunftsdiskurses. Das war aber auch von vornherein klar.

In der ersten Phase der Pandemie beeindruckte v.a. die Akzeptanz und das Tempo der Durchsetzung von Home-Office und digitaler Kommunikation. Home Office setzte den Pendlercircuit zumindest temporär aus – damit einen bedeutenden Teil des Mobilitätsaufkommens. Die Graphik links zeigt eindrucksvoll den steilen Rückgang im  Frühjahr 2020.  Ein Ereignis gesellschaftlicher (incl. staatlicher) Einhelligkeit. Die späteren Lockdowns im Winterhalbjahr 20/21 bilden sich deutlich schwächer ab – sie pendelten sich     spätestens in der zweiten Hälfte des  Sommers 2021 wieder auf das Niveau der Zeit vor Corona ein. Etwas anders entwickelte sich die Mobilität auf kürzeren Distanzen (<5km) die bis dahin  weniger zurückgegangen war.
Noch deutlicher lässt sich dieselbe Entwicklung  an der nebenstehenden Übersicht zum Verkehr auf Autobahnen sehen: Der markante (disruptive?) Knick im April 20, die leichte Abschwächung zum Jahresende und die Annäherung an die Prä- Covid Ära  bis zum Sommer 2021.
V.a. am Rückgang der Pendlermobilität und den Möglichkeiten der dezentralen Arbeit/Remote Office hatten sich Erwartungen eines mit der Krise beschleunigenden Wandels festgemacht. Entsprechend enttäuschend wird diese Entwicklung wahrgenommen, gesellschaftliche Lernschleifen werden nicht gesehen. Reaktionen auf die Pandemie allein machen keine Transformation, das Modell des örtlich (und zeitlich) gebundenen Arbeitsplatzes mit Pendelverkehr bleibt bestehen. Ein wesentlicher Schlüssel zu einer Verkehrswende liegt in der Arbeitsorganisation.

Corona- Krise und Klimakrise werden zwar oft nebeneinander gestellt, unterscheiden sich aber grundlegend. Corona brach plötzlich in eine globalisierte, funktionsteilig organisierte Welt ein und man wusste wenig davon.  Die Sachzusammenhänge der Klimakrise (+ Folgen der Zerstörung von Lebensräumen, wie das Artensterben) sind seit langem bekannt. Die Klimakrise ist menschengemachte Folge gesellschaftlichen bzw. wirtschaftlich- industriellen Handelns und sie hat dystopisches Potential. Wenn man es so ausdrücken will: Entfesselte Funktionssysteme. Von einem Krisenmanagement ist zu erwarten, sie einzuschränken. Wie, ist die Aufgabe eines Transformativen Zukunftsdiskurses. Demokratische Gesellschaften  sind nicht zu führen wie Organisationen.

Deutschland 2030+: Corona Stresstest 2 – Ergebnisse.  – Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. 9/ 2021 384 S. –Interview mit Armin Nassehi: Wie verändert Corona unsere Gesellschaft?  12.07.21.  Untere Graphiken aus:  Statistisches Bundesamt: Mobilitätsindikatoren auf Basis von Mobilfunkdaten.  und Bundesanstalt für Strassenwesen: Verkehrsbarometer: Monatliche Entwicklungen des Strassenverkehrs 2020/2021.  Ifo- Institut: Home Office im Verlauf der Corona- Pandemie.   Juli 2021—
Zu den Graphiken: (obere): Veränderung der Mobilität 1/20 bis 9/21 nach Distanz- nach Klick in voller Grösse auf neuer Seite. Quelle: Statistisches Bundesamt; (untere: Monatliche Entwicklungen des Straßenverkehrs auf Bundesfernstraßen und Auswirkungen der Corona-Pandemie. Verkehrsbarometer).



Future(s) Lounge

Zukunft hat vlele Möglichkeiten und Zukunft wagen klingt gut. Aber welche Zukunftserwartungen haben wir? Und wie sind sie umzusetzen?  Dazu braucht es öffentliche Diskursräume.

Future(s) Lounge ist ein neues Format, ein offener Gesprächsraum als jour fixe. Jeden ersten Mittwoch im Monat um 18.30 h. Ohne vorhergende Anmeldung könnt Ihr Euch direkt einloggen (Zugangscode unten).  Moderieren werden Klaus Burmeister vom foresightlab D 2030 und ich. Sicher ist die Future(s) Lounge nur ein kleiner Ausschnitt eines grossen öffentlichen Diskursraumes bzw. Common Meeting Grounds. Zoom- Formate lösen zwar manchmal eine fatigue aus, sie sind aber eingeübt – und bieten die grossartige Möglichkeit ortsunabhängig  interessierte Menschen zusammenzubringen.  Start war am Mittwoch, dem 6. Okt., noch ohne vorgegebenes Thema.

Überblick zu den Szenarien – nach Klick in voller Auflösung auf neuer Seite

Ein Anknüpfungspunkt sind die im September veröffentlichten  Ergebnisse einer zweiten Aktualisierung des Corona-Stresstests  (pdf) zu den seit 2016 von der Initiative D2030 entwickelten Szenarien.
Grundlegende Fragestellung war  Wie weit hat die Pandemie unsere Zukunftserwartungen beeinflusst? Im Sommer 2021 fielen die Antworten etwas anders, sogar pessimistischer, aus als im Frühjahr 2020. Man kann es unterschiedlich interpretieren. Zu Beginn war die Pandemie v.a. etwas Neues, bis dahin nicht Erlebtes, ein Bruch mit dem Gestern, der aber auch mit positiven (Zukunfts-) Erwartungen verbunden war. Anderthalb Jahre mit schwankenden, zeitweise stark spürbaren Massnahmen, hinterlassen ihre Spuren.  Klar erkennbar ist, dass Krisen und ihre Bewältigung unsere Zukunft weiter begleiten werden.
Mehr Zukunft wagen nimmt das schon 50 Jahre zurückliegende Zitat von Willy Brandt Mehr Demokratie wagen auf (vgl. auch Gerhart Baum auf spon), das wohl eine Art zweite Gründungslegende der Bundesrepublik bedeutet.
Am nächsten ersten Mittwoch, dem 3. November – wieder um 18.30 Uhr – geht es um die Zukunft der Arbeitswelten. Ein oft diskutiertes Thema, das aber immer wieder neu technologische, ökonomische, soziale und kulturelle Fragen spiegelt.
Wie wird sich die Arbeit unter neuen Bedingungen verändern? Zeigen sich Neue Horizonte? Können Unternehmen selbst zu offenen Innovationsökosystemen werden und wird es es einen KI-getriebenen Produktivitätssprung geben? Welche Rolle spielt dabei die Kultur und der respektvolle Umgang miteinander? Wie halten wir unser Gemeinwesen offen, damit es nicht zu einem von Algorithmen gesteuerten Datenuniversum, in dem jeder vereinzelt seinen Weg sucht, transformiert? Unsere Verhaltensmuster in Arbeit, Konsum, Besitz stammen oft noch aus anderen Zeiten – stehen sie einer besseren Zukunft im Wege?
Das alles und noch viel mehr kann diskutiert werden … und wir sind dabei offen für alle, die sich einklinken wollen….   Dass Arbeit nicht zwingend an den festen Ort zur festen Zeit gebunden ist, wurde vielen in den letzten Jahren bewusst. Die sich im Stau treffende Pendlerrepublik ist nicht die einzige Option. Es fällt auch auf, dass die Vision Neue Arbeit wieder öfter am Original von Frithjof Bergmann diskutiert wird – und nicht an den von Consulting- Unternehmen propagierten Modellen.

Es geht um das grosse Bild einer Gesellschaft – und um die kleinen Ausschnitte darin.  Um gesellschaftliche Entwicklungen, politische Weichenstellungen, ökonomische und ökologische Erfordernisse, und darum, die persönliche Lebensgestaltung aller einzelnen damit  in Einklang zu bringen.

auf in die #Zukunft Bildquelle:photocase.de/kallejipp

Zukunft boomt. Selten wurde so viel davon gesprochen. Kaum eine politische Erklärung, kaum ein PR- Text kommt ohne einen Bezug zur Zukunft aus. Bücher, Podcasts,  und ganz sicher zahllose Zeitungs- und Blogartikel erscheinen dazu. Think Tanks/ Denkwerkstätten werden gegründet. Der Bezug zur  Zukunft unterstreicht die Bedeutung des eigenen Projekts.
Der Hype  hat Gründe, ist auch ein Zeichen dafür, dass Zukunft als gestaltbar erlebt wird und nicht eine Verlängerung des einmal bewährten. In den aktuellen Zukunftsdiskussionen bündeln sich mehrere Stränge, die lange Zeit oft unabhängig voneinander diskutiert wurden: Nachhaltigkeit, Wettbewerbsfähigkeit, Digitalisierung, kultureller und sozialer Wandel.
Der Begriff Transformation tritt immer öfter in den Vordergrund.  Grosse Transformation des 21. Jahrhunderts verbindet diese Stränge (vgl. Polanyi). Gesetzt sind die Vorgaben: Krisen wie Corona, und die von Menschen verursachten Störungen der natürlichen Systeme (Klima, Meere, Artenvielfalt) müssen von der Weltgesellschaft bewältigt werden.
Weitere Themen für folgende Abende  sind bereits angedacht, mal mehr auf Input von Experten angelegt, dann wieder offen für ganz subjektive Einwände. Genannt wurden u.a. „Was würde ein Kollaps des Finanzsystems bedeuten?“, “Tourismus nach dem Overtourismus“, „Mobilität, die den Verbrauch an Raum, Zeit und Energie schont“.

Nächste Termine:   Mi, 1. Dez 18.30 h   Arbeitswelten der Zukunft: Die Systemfrage —  Impulsbeiträge  von Leonie Müller, Alu Kitzerow, Jan Groos und Walter Ganz

Meeting-ID: 987 5905 5468
Kenncode: 039088

 



Die Neuerfindung des Unternehmertums (Rez.)

Die Neuerfindung des Unternehmertums  – Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution (2021) Themen, die in den Zukunftsdiskussionen eine zentrale Rolle spielen der lange Titel ist bereits eine kurze Inhaltsangabe. Auf das Buch  wurde ich durch einen Livetalk aufmerksam – und es ist das erste aus den Wirtschaftswissenschaften, das ich hier bespreche.
Reinhard Pfriem, emeritierter Prof. der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Oldenburg,   Mitbegründer (1985) des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung,  ist seit langem mit dem Themenfeld befasst – das Buch ist sein Opus Magnus und lässt sich durchaus als Zusammenfassung seines Lebenswerkes lesen. Es  geht um die zukunftsfähige Neuverbindung von Ökonomie und Politik, um unternehmerische Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Gleich zu Beginn knüpft Pfriem an die Great Transformation von Karl Polanyi (21) an – und setzt damit  einen Rahmen. Great Transformation bedeutete letztlich Industrialisierung, Marktwirtschaft und grenzenlose Wachstumsökonomie als gesellschaftliche Organisationsprinzipien. Vor dem Hintergrund ökologischer Risiken und Katastrophen, sozialer Verwerfungen und ökonomischer Krisen stellt sich die Frage nach einer lebenswerten Zukunft,  einem guten Leben für alle, neu.
Pfriem geht es um eine Transformation vergleichbaren  Ausmasses, bei der ausgerechnet Unternehmen als wichtigste Organisationskörper moderner kapitalistischer Gesellschaften (21) eine besondere Rolle zukommt. Vom Unternehmertum gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen, klassisch ist die des mittelständischen Eigentümers, neuerdings auch die der oft wie Popstars gefeierten Entrepreneure. Pfriem hält sich wenig mit diesen Ausformungen auf, er fasst zehn Merkmale und Wissensdimensionen transformativer Unternehmen  (281 ff) zusammen.
Übergreifendes Postulat ist Enabling, das Möglichmachen – die Gestaltung von Gesellschaft durch unternehmerisches Handeln.  Bereits vor einigen Jahren hatte Pfriem den Begriff der Ökonomik als Möglichkeitswissenschaft in die Welt gesetzt. In diesem Kontext sind Transformative Unternehmen Akteure des Wandels, einer Systemwende zu gemeinschaftsorientierten Formen des Wirtschaftens.   Das Teilsystem Wirtschaft ist dominant. Eine derart von ökonomischen Kalkülen bestimmte Gesellschaft ist nur transformierbar, wenn die Ökonomie transformiert wird.
Die einzelnen Themenfelder werden in 15 übersichtlich angelegten Kapiteln behandelt. Es geht um transformative Unternehmen, Nachhaltigkeit, solidarische Ökonomie, radikale Demokratie, bis zum Entwurf einer  Neuausrichtung der Wirtschaftswissenshcaften und als Ziellinie die Bausteine einer zukunftsfähigen Politik (415 ff). Darunter finden sich so oft diskutierte Themen wie  Mobilitäts, – Energie-  und Ernährungswende und ein Kurswechsel auf soziale Gerechtigkeit.

Zentral ist die Kritik an den aktuellen Wirtschaftswissenschaften, an ihrer  Herauslösung aus gesellschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen, insbesondere einer Mathematisierung der BWL. Pfriem bezeichnet die BWL, immerhin sein eigenes Fach,  als implizite Rechtfertigungswissenschaft kapitalistischer Marktwirtschaften (128). Gegenentwurf ist eine Transformative Wirtschaftswissenschaft (369 ff), die den bestehenden Mainstream der Wirtschaftswissenschaften, der auf subjektunabhängige Objektivität, Identifikation von Gesetzmässigkeiten und Messbarkeit/Quantifizierbarkeit zielt (370; vgl. Pfriem 2000), ablöst, zumindest ergänzt: Eine Handlungswissenschaft, die Beiträge zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme leistet, Zukunft für die Menschen zu einem erstrebenswerten Projekt macht.   

Genau wie die zeitgenössische BWL steht  auch die aktuelle Soziologie, der er eine Ökonomievergessenheit attestiert, in der Kritik. Im Kapitel Gesellschaftstheoretische Sackgassen werden soziologische Autoren der letzten Jahre, das waren v.a. Hartmut Rosa mit dem Konzept der Resonanz  und Andreas Reckwitz mit der Gesellschaft der Singularitäten, auf ihr Potential abgeklopft. Beide Bücher hatte ich hier im Blog rezensiert (Rez. Rosa; Rez. Reckwitz).  So sinnvoll und eingängig das Konzept Resonanz grundsätzlich erscheint, so wenig überzeugt es als Grundlage einer Gesellschafttstheorie. Reckwitz stellt den im Konsum differenzierten singularistischen Lebensstil der Neuen Mittelschichten in den Vordergrund – Pfriem nennt es eine  Engführung – und vernachlässigt gesellschaftliche Ungleichheiten.  Allenfalls in später veröffentlichten Aufsätzen relativiert er eine an Konsumstilen ausgerichtete gesellschaftliche Schichtung.  Nebenbei: unter dem Titel Spätmoderne in der Krise: Was leistet die Gesellschaftstheorie? erscheint im Oktober ein von beiden Autoren gemeinsam verfasstes Buch, dazu hier dann mehr.
Weiteres Feld der Auseinandersetzung ist Ulrich Bröcklings Das unternehmerische Selbst (2007), dem er einen sehr einseitigen Blick auf das Unternehmertum – allein ausgerichtet auf Markterfolg – vorhält. 

Polanyi ist epochaler Bezugsrahmen,  die Analysen von Thomas Piketty zu Ungleichheit und der Vertiefung der Spaltung zwischen arm und reich werden herangezogen. Auf Schumpeter geht der Blick auf die Rolle des Unternehmers incl. der Erkenntnis, dass unternehmerischer Erfolg und gesellschaftliches Wohlergehen auseinander treten können, zurück. Mit deutlicher Sympathie  verweist Pfriem auf Frithjof Bergmanns Neue Arbeit, Neue Kultur: die wunderbare Formulierung “was sie wirklich, wirklich wollen” (57). Etwas wundert mich, dass die in den letzten Jahren oft  diskutierten Arbeiten von Maja Goepel,  die sich ebenso mit einer Transformativen Ökonomie befassen, nirgends  erwähnt werden.

Die Neuerfindung  des Unternehmertums ist ein programmatisches, oft erstaunlich radikal- utopisch, nicht durchgehend analytisch gehaltenes Buch – der Autor nennt es selber eher wissenschaftlich gehalten. Er setzt sich mit bestehenden Wissenschafts- bzw. Gedankengebäuden auseinander um einer Handlungswissenschaft zur Gestaltbarkeit von Zukunft den Weg zu bereiten. Weitere Umsetzung ist stark von einer Aufbruchsstimmung in der Gesellschaft (444) bestimmt.  Und manches scheint, dass jetzt der Zeitpunkt dazu ist.
481 Seiten sind per se eine Menge Material, die wahrscheinlich selten in einem Durchgang gelesen werden. Man kann das Buch als ein Compendium, eine Art Handbuch zu einer Transformativen Wirtschaftswissenschaft sehen und nutzen. Ein übersichtliches Inhaltsverzeichnis erleichtert das Auffinden der  Themenstränge, macht sie den laufenden Zukunftsdiskussionen zugänglich.

Zum Schluss der Gedanke der  Co- Evolution von Wissenschaft und Gesellschaft (könnte man das etwa Scientogenese nennen?), der ganz sicher an das Konzept Technogenese erinnert.  In den Gesellschaftswissenschaften lassen sich immer Phasen und Epochen finden, in denen  Forschungsfragen einmal eingefahrenen Mustern folgen. Hier ist ein Werk, das neue Wege beschreite will – dem kann man zustimmen bzw. sich damit auseinandersetzen.

Den Titel  des Einbands ziert übrigens ein Werk von Otto Freundlich (1878-1943), ein zu unrecht weniger bekannter Pionier abstrakter Malerei, der wie so viele andere von den Nazis ermordet wurde.

Reinhard Pfriem: Die Neuerfindung des Unternehmertums  – Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution – 2021. 481 S.  Metropolis Verlag, 38 € –  Livestream- Interview mit Reinhard Pfriem  vom 28.07.2021



Innovation und Technogenese

War Pepper  eine Innovation? Oder mehr eine Attraktion für Events? (auf der re: publica 2018)

Innovation ist das wahrscheinlich beliebteste Buzzword von allen: The Most Important and Overused Word schrieb Wired bereits 2013. Innovationen gelten als der Schlüssel zur Zukunft, stehen  für Wettbewerbsfähigkeit und sind die verbreitete Antwort auf die Frage, was notwendig ist, um erfolgreich zu sein. Die heute gängige Verwendung folgt der Definition Joseph Schumpeters, nach der nicht allein die technische  Neuerung, sondern erst  deren erfolgreiche Durchsetzung Innovation bedeutet. Die gleichsam heldenhafte Figur des   Entrepreneurs als kreativen Zerstörers**  beruht darauf.
In diesem Sinne ist der Entrepreneur die ausführende Gestalt des Innovators der den Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung mit der Einführung neuer Produkte, neuer Märkte und Vertriebswege in Gang hält. Unternehmer wie Steve Jobs oder Elon Musk werden weltweit als Innovatoren gefeiert und haben Fans wie Popstars. Sicher stehen SmartPhone und E-Mobilität oft im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit, Felder der Innovation reichen in ihrer Bedeutung aber von  der Krebsforschung bis zum Snackriegel – zudem schmückt der Begriff zahllose Werbekampagnen. Innovation als dauerhafte kreative Anstrengung und systematische Durchsetzung des Neuen gilt als Kerninstitution moderner Wirtschaft (W. Rammert, 2015).

In der öffentlichen Wahrnehmung, den Medien und in der Politik ist die Verbindung technologische Innovation/ ökonomischer Fortschritt ein zentraler Gedanke. Ein Satz wie Deutschlands wirtschaftliche Stärke hängt von der Innovationskraft der Unternehmen ab* ist allgemeine Überzeugung – und Ausdruck der Identität als führende Industrienation. Schon etwas älter (2006) ist die Broschüre Deutsche Stars: 50 Innovationen, die jeder kennen sollte, u.a. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung herausgegeben. Buchdruck, Computer, der Dübel, Aspirin, Sozialversicherung und mp3, zur Auflockerung sind auch Currywurst und Haribo- Goldbär dabei, werden als Früchte des nationalen Erfindergeistes vorgestellt – eine positive Stereotypisierung im globalen Wettbewerb um wirtschaftliche Innovationskraft, mit der das Land nach innen und aussen Identität vermitteln bzw. darstellen will.  Ob auch die Jeans, das Bier, das Telephon national zu vereinnahmen sind, ist eine andere Frage.

Die Dynamik technischer Innovationen besteht seit der industriellen Revolution und ist seitdem nicht mehr abgeebbt. Sie ging immer mit institutionellen – rechtlichen und organisatorischen – Innovationen einher, die die Führung effizienter Betriebe ermöglichten. Innovatives Handeln bedeutet  die Veränderung eingespielter Gleichgewichtszustände – bei Produkten, Prozessen, der Marktaufteilung u.v.m. Erfolgreiche Innovationen finden Nachahmer, verdrängen innovationsschwache Unternehmen, es bilden sich neue Markt-, Preis-, Qualitäts- und Produktionsgleichgewichte.   (vgl. Rammert, 2015).
Die Innovationen der letzten Dekaden wurden – in mehreren Schüben – von Digitalisierung angetrieben. Entsprechend der Theorie der langen Wellen (Schumpeter u. Kuznets), erneuert sich etwa alle 50 Jahre die technologische Produktionsstruktur grundlegend. Die aktuelle von Computer- und Netztechnik geprägte Phase wurde von der Halbleitertechnologie ausgelöst, die in diesem Rahmen als Basisinnovation gilt  (Rammert 2015).
Soziale Innovationen wurden als solche erst in den letzten Dekaden thematisiert. Von einem EU- finanzierten Forschungsprojekt wurden sie folgend definiert: „New approaches to addressing social needs. They are social in their means and in their ends. They engage and mobilise the beneficiaries and help to transform social relations by improving beneficiaries’ access to power and resources” Oft haben sie einen Hintergrund in Emanzipationsbewegungen und zur Nachhaltigkeit;  Open Source, CoWorking zählen dazu – in etwa das, was auch unter Social Entrepreneurship diskutiert wird. Was sie von anderen gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungen unterscheidet ist ein gewisser institutioneller Rahmen. Dennoch gingen sie oftmals aus informellen Zusammenhängen, bzw. auch oppositionellen Teilkulturen hervor, bis sie irgendwann in einem institutionellen Rahmen als Innovationen sichtbar werden.

nicht alle Innovationen setzen sich in der technischen Evolution durch

Technogenese meint die evolutionäre Verbindung von technischem und gesellschaftlichem Wandel, fortlaufendes Ergebnis ist die Herausbildung der materiellen Zivilisation. Bislang ist der Begriff weniger geläufig, er wurde 2012 zuerst von dem franz. Medientheoretiker Bernard Stiegler formuliert und seit 2015 im Forschungsprogramm Netnographie aufgegriffen. Technogenese steht parallel zu den Konzepten Psychogenese und Soziogenese bei Norbert Elias, der langfristigen Herausbildung von Gesellschafts – und Persönlichkeitsstrukturen, wie sie von Elias anhand historischer Prozesse herausgearbeitet wurde. Mit Technogenese  schliesst der Prozess der Digitalisierung an den Prozess der Zivilisation an.
Prozesse der Psycho- und Soziogenese lassen sich ebenso beobachten wie manchmal auch ablesen, ein Beispiel:  Innovators DNA etwa ist eine Formulierung wünschenswerter Fähigkeiten und Eigenschaften, Skills von Innovatoren,  darunter  Empathievermögen und die Fähigkeit scheinbar unverbundene Gedanken zusammenzuführen- ein Leitbild für Führungspositionen wird abgesteckt.
Technologische Innovationen entstehen in einem sozialen Umfeld und setzen sich in einem meist grösseren Umfeld durch.  Sie bewähren sich in der gesellschaftlichen Adaption. Im besonderen Interesse stehen derzeit E- Mobilität, 3D- Druck und der Einsatz künstlicher Intelligenz.  Leitbilder dazu sind im Wandel bzw. werden neu ausgehandelt.

Beliebtes Beispiel zu Umsetzung technischer Innovation ist immer wieder mP3, bei Fraunhofer entwickelt, aber anderswo verwertet. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre eine Kompressionstechnik von Musikdateien kaum der Rede wert gewesen, aber damals  überwand sie das Hindernis der schmalen Bandbreite und ermöglichte so  nacheinander die so unterschiedlich verfassten Plattformen Napster, iTunes und Spotify.  Die technische Innovation mp3 bekam erst in diesem Kontext Bedeutung. Michael Seemann hat in Die Macht der Plattformen  Napster als eine Urform der Plattformen, wie wir sie heute kennen, dargestellt. Wegweisend war das Verfügen über die Informationen darüber, wer sich für welche Musik interessiert, darüber verfügt und wer sie teilt – Wissen über Verhalten und Verbindungen der Nutzer wurde fundamental für die entstehenden Plattformen.   Sozialer Graph von Napster war die Gruppe der Popmusik – Nerds, die sich an einer plötzlichen Verfügbakeit eines globalen Soundarchivs begeisterte.  Andere und neue Plattformen bildeten sich um andere soziale Graphen, wie dem Kauf von Gebrauchtwaren, der Suche nach Sex oder professioneller Vernetzung – Durchsetzung von Technik oder sozialer Prozess? Beides, in co- evolutionären Prozessen.

Digitalisierung bedeutet – neben vielem anderen – Produktivitätsfortschritte durch Automatisierungsprozesse, die menschliche Arbeitskraft freisetzen. Die digitalisierte Arbeits-  und Lebenswelt lässt einen grossen Spielraum zur Neuorganisation und damit für soziale und kulturelle Innovationen. Manchmal sind es Konsumentscheidungen, die über den Markt geregelt werden – fundamentaler sind aber Fragen der Gestaltung von Arbeitsprozessen und von sozialer Absicherung, der von urbanen und anderen Umgebungen, der Bewältigung von Mobilität, allgemein neuen Ansätzen zu sozialen Bedürfnissen, zusammengefasst in der Frage wie wollen wir leben?  Das rückt  soziale   Innovationen in die vordere Linie politischer Entscheidungen.
Der Begriff und das Konzept Technogenese können hilfreich sein, technologischen und gesellschaftlichen Wandel gemeinsam und als gestaltbar zu denken.

Werner Rammert: Technik und Innovationen: Kerninstitutionen der modernen Wirtschaft Technology Studies Working Papers TUTS-WP – 4 – 2015. 36 S. –   – Die Innovationen der Gesellschaft. In:   Jan-Hendrik Passoth & Werner Rammert: Fragmentale Differenzierung und die Praxis der Innovation: Wie immer mehr Innovationsfelder entstehen    Wired: Innovation: The Most Important and Overused Word in America.   * Axel Novak: Innovation. Digital und mit Begeisterung. —  Benoît Godin: The Invention of Technological Innovation: Languages, Discourses and Ideology in Historical Perspective (2020). vgl auch Innovation und Gesellschaft, 2019. ** auf den Hintergrund der Zuschreibung der “kreativen Zerstörung” wies mich Schumpeter- Kenner Gunnar Sohn hin: Link



Klaus Janowitz (klausmjan)

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