Digitale Renaissance, Digitale Diktatur, oder was?

Blick durch ein Freiheitsfenster? Bild: unplash.com unlimited

Die Zeiten, in denen digitaler Fortschritt mit gesellschaftlichem Fortschritt gleichgesetzt wurde, sind passé.
Es gab die Zeit, in der digitale Techniken ein Freiheitsfenster öffneten: Demokratisierung des Wissens, neue Möglichkeiten von Kreativität und Kreation, Freiheiten der Publikation, die Bildung von Netzwerken und neuen Gemeinschaften.
Digitale Techniken und neu entstehende digitale Öffentlichkeiten unterliefen die Kontrollgewalt von Gatekeepern und brachen das bestehende Mediensystem auf.

In gewisser Weise bestehen die Freiheiten weiter, sind aber durch ein neues Machtsystem überdacht. Im digitalen Kapitalismus wird der mediale Raum durch Algorithmen kontrolliert. Ein Thema, das in den Diskussionen der letzten Jahre, auch in diesem Blog, im Vordergrund stand. Stichworte sind die Macht der Plattformen, Landnahme, Überwachungskapitalismus und in den letzten zwei Jahren Digitale Oligarchie.

Renaissance meint die Wiedergeburt alter Ideen in einem neuen Kontext  und steht für eine Zeit künstlerischer Innovationen und kultureller Blüte. Historisch sind Renaissance und Humanismus eng miteinander verbunden. Metaphorisch wurde die Bezeichnung von der italienischen Renaissance des 15. und 16.Jh. immer wieder auf andere Epochen übertragen – vom imperialen Rückgriff der  karolingischen Renaissance Karls des Großen bis zur Harlem Renaissance afroamerikanischer Kultur in den 1920er Jahren.

Digitale Renaissance tauchte als Begriff bereits in den 90er Jahren auf und ist seitdem mit dem Autor Douglas Rushkoff verbunden. Rushkoff nutzt und prägt seitdem den Begriff Digitale Renaissance als Leitmetapher für die kreative, partizipative und transformative Kraft digitaler Technologien. Seine Deutung ist bis heute zentral für die Verwendung des Begriffs im Kontext der digitalen Kultur.
Nach Rushkoff war die digitale Revolution nur scheinbar disruptiv – sie ersetzte lediglich die alte Elite durch eine neue crew of mostly male, white, libertarian technologists. Die Regeln von Startups und Venture Capital blieben weitgehend dieselben wie zuvor und unterstützten die gleichen Ungleichheiten und deren kulturellen Werte.
Digitale Renaissance bedeutet für Rushkoff die kreative Wiederbelebung menschlichen Potentials in einer vernetzten Welt. Menschen sollen durch Technologie ermächtigt, nicht kontrolliert werden. Seine Einsichten sind in den Essays The Digital Renaissance (2002) und Renaissance Now (2017/2021) übersichtlich zusammengefasst.

Die Matrix zu Systemstabilität und – disruption (Felser und Wagner, 2025) – volle Auflösung nach Klick

Marc Wagner und Winfried Felser haben den Begriff der Digitalen Renaissance kürzlich in einem  (LinkedIn) Beitrag mit dem überlangen Titel Digitale Renaissance oder “Digitale Diktatur und “Digitale Anarchie” – die Zukunft hängt von unserem Bild vom Menschsein in Zeiten der KI ab!  aufgegriffen. Rushkoff wird zwar nicht erwähnt, die Begriffsverwendungen lassen sich aber vereinbaren. Erklärte Absicht ist es, nicht von der Technologie auszugehen, sondern umgekehrt vom neu gedachten Zielbild, die Autoren nennen es ein neues Menschsein in Zeiten der KI.

Was den Text interessant macht, ist seine Eignung als Basis für weiterführende Diskussionen und Gedankenspiele. In der Matrix mit den Achsen System-Stabilität vs. System-Disruption und Technologische Dominanz vs. Menschlich-kooperative Balance werden vier 4 Zukunfts- Szenarien sichtbar. Es sind Denkmodelle, die man in der Reinform nicht für realistisch halten muss.

Die verwendeten Begriffe gehen auf mehrere Quellen zurück, so Homo Deus auf das gleichnamige Buch von Yuval Harari (2015), ein technikverstärkter optimierter Menschentypus, der überflüssig gewordene  Homo Obsoletus geht auf den norwegischen Autor Anders Indset zurück. Der Homo Eco Economicus/ Transformans ist der bewusst gestaltende ökonomisch denkende Akteur. Capokratie, angelehnt an die Capos der Mafia, eine Demokratie im Abstieg, Ecokratie im Wieder- Aufstieg.

Eine digitale Diktatur würde sich in vielem von den ideologischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts unterscheiden. Der neue Autoritarismus kommt ohne Ideologie aus, aber mit imperialem Anspruch. Machtbasis wäre in erster Linie die Kontrolle der digitalen Infrastruktur, damit über Kommunikation, Handel, Arbeit, Gesundheitswesen und grundlegende Dienstleistungen, sogar soziale Kontakte. Daten und KI werden zur neuen Governance, obsolete Menschen zu Datenschatten. Digitale Diktatur breitet sich aus in einer schleichenden Machtergreifung durch eine Oligarchie, langsam, mit einer Erosion demokratischer Normen.

Ein origineller Gedanke ist der des Homo Furens, des wütenden Menschen.  Sinnverlust und Systemverachtung sind die Antriebskräfte. Dieser Homo Furens ist nicht nur der Abgehängte, sondern oft der Hochgebildete, nicht nur der Abseitige, sondern eben auch der scheinbar Integrierte (Felser).  Radikalisiert und technologisch ermächtigt stellt er eine Gefahr dar, mit ideologischem und physischem Terror. 

Der Text steht nicht allein, sondern in einer Serie von Beiträgen derselben Autoren, die sich von einer betriebswirtschaftlichen Optimierung (Fokus auf den Wirtschaftsstandort) hin zu einer gesellschaftlichen Systembetrachtung (Matrix mit Gesellschaftsbildern) bewegen. Rushkoff und sein Konzept der Digitalen Renaissance werden nirgends erwähnt (unbekannt?), obgleich sich die Texte zum Ende hin diesem Konzept nähern.

Der erste der Reihe  (01/25) der den Titel Digitale Renaissance verwendet bezieht sich auf Darron Acemoglu mit seinen beiden Werken Why nations fall/ Warum Nationen scheitern und Power and Progress. Im ersteren geht es um den Erfolg oder Misserfolg von Nationen im historischen Wandel, der zweite Titel räumt mit der Vorstellung Technology-equals-progress (vgl. Rez.) auf. Acemoglu, Wirtschafts- Nobelpreisträger 2024, hatte den Gedanken, dass technischer  Fortschritt nicht zugleich gesellschaftlichen  Fortschritt bedeutet, auch in der Wirtschaftspresse verbreitet.
Der erste Text knüpft an ein Deutschland als führender Industrienation und Land des Wirtschaftswunders an. Das Narrativ des
Deutschland, in dem alles funktioniert – in dem die Gesellschaft der Wirtschaft folgt, wird so wachgerufen. Kulturelle und gesellschaftliche Dimensionen werden zwar angesprochen, sie dienen aber dem Zweck einer Company Renaissance.
So bleibt dieser Text Unternehmensberaterprosa.
Im Ernst: Wäre ein kultureller Rückbezug auf die Zeit des Wirtschaftswunders attraktiv? Es wäre nicht Renaissance, sondern Restauration. Wirtschaftswachstum ja – aber mit einer patriarchalen  Gesellschaftsstruktur: autoritär, mit nur formellen Frauenrechten, homophob, voller Altnazis in Führungspositionen.

Nimmt man den Begriff Digitale Renaissance ernst, ist eine kulturelle und intellektuelle Umwälzung damit verbunden. Eine echte Digitale Renaissance bedeutet eine kulturelle Transformation, nicht technische Effizienzsteigerung. Alte und neue Ideen sollten sich so verbinden, dass Menschen mit den neuen technischen Möglichkeiten zu aktiven Gestaltern und Autoren ihrer kulturellen Umgebung werden, nicht nur zu Nutzern oder Zielgruppen. Es geht um Teilhabe, demokratische Gestaltung, kreative Selbstermächtigung und kulturellen Pluralismus.

Die entscheidende Frage ist heute nicht, was Technologie kann, sondern wie wir sie nutzen. Felser & Wagner nennen es schließlich – etwas pathetischwas Menschsein in Zeiten der KI heißen soll. Rushkoff hatte seit den 90ern das Konzept einer Digitalen Renaissance geprägt. Dahinter steht der Gedanke, das kreative, partizipative und transformative Potential digitaler Technologien als Grundlage auch des wirtschaftlichen Handelns zu sehen. Der Gedanke ist grundsätzlich naheliegend und tritt in solchen oder anderen Bezeichnungen vielfach hervor.

Technischer Fortschritt hatte lange Zeit gesellschaftliche Entwicklung angetrieben, zumindest weitgehend unsere Handlungsspielräume erweitert. Mittlerweile sind auch digitale Diktaturen vorstellbar, nicht nur als SF- Dystopie. Digitale Oligarchien gibt es bereits.  In einer beschleunigten Welt mit mächtiger KI, ökologischen Kipppunkten und gesellschaftlichen Brüchen brauchen wir tragfähige Bilder vom Menschsein mit Individualität und Gemeinsinn, auch als Gegenentwürfe zu einer Verbindung von technischer Innovation und restaurativem Denken.

Die aktuellen gesellschaftlichen und zunehmend auch politischen Verwerfungen folgen den Digitalisierungswellen der 2010er Jahre: Digitaler Plattformkapitalismus, Smartphone-Durchdringung, algorithmische Medien.
KI steht noch in einer frühen Phase – gesellschaftliche, kulturelle und politische Wirkungen sind noch begrenzt. Machtverschiebungen und die  Möglichkeit KI- basierter Formen politischer Kontrolle und Manipulation lassen sich bereits abschätzen.
Erkennbar sind vorerst z.B. Arbeitsplatzveränderungen in Wissensdienstleistungen, aber auch das breite Ausloten der kreativen Nutzung. Es geht um Interaktion statt Automation. Die entscheidende Frage lautet: Welche Art von digitaler Zivilisation entwickeln wir?

Douglas Rushkoff: The Digital Renaissance 29.03.02  – Renaissance Now! 5 .08. 2017 The Model Isn’t the Territory, Either Digital complexity doesn’t mean it’s reality. Darren Acemoglu: Power and Progress, Winfried Felser & Marc Wagner:Digitale Renaissance” oder “Digitale Diktatur” und “Digitale Anarchie“. – The Digital Renaissance: How Companies Can Become Future-Ready Through New AI and Company Rebuilding. Drucker-Forum 



Who is building a brain for the world?

Sam Altman,  der CEO von Open AI, hat einen programmatischen Text mit dem Titel The Gentle Singularity  online gestellt. Kurz darauf gab er seinem Bruder Jack Altman ein Videointerview: The Future of AI. 

Wenn der CEO eines BigTech– Unternehmens, wie Open AI, seine Zukunftsvisionen teilt, kann man davon ausgehen, dass Inhalt und Rhetorik strategisch auf ihre Wirkung hin durchdacht sind.

Das Interview zeigt Sam Altman im vertrauten Gespräch mit seinem Bruder auf dessen YouTube-Kanal. Moderne PR lebt davon, Entscheidungsträger von ihrer menschlichen Seite zu zeigen – als nahbare Persönlichkeiten. In diesem Fall verbindet sich ein persönlicher Gesprächsrahmen – eine Art familiäres Kamingespräch – mit einer maximalen globalen Öffentlichkeit.
Der Podcast A World with AGI*  in der Reihe Uncapped with Jack Altman #13 überschneidet sich inhaltlich mit dem Video-Interview, hebt jedoch einige Aspekte hervor, so etwa Altmans Meinungen zum Konkurrenten Meta.

Im Blogpost The Gentle Singularity geht es um nichts weiter als den Übergang zu einem neuen Zeitalter – dem einer Digitalen SuperintelligenzSam Altman beginnt mit Pathos, kündigt die Überschreitung eines Horizontes an, der sich der Menschheit eröffnet.  Er schreibt im  pluralen Wir – und dieses Wir steht für die Menschheit – der er die Furcht vor diesem Zeitalter nehmen will.
Es soll  ein sanfter/ gentle Wandel sein, eine allmählich entstehende Superintelligenz, die nicht plötzlich, sondern schrittweise Realität wird. Versprochen wird viel:  Intelligenz und Energie, Ideen und die Fähigkeit diese umzusetzen, werden im Überfluss vorhanden sein. Wissenschaftlicher Fortschritt beschleunige die Produktivität, KI lasse die Lebensqualität enorm steigen. Die KI soll für jeden leicht zu bedienen sein und bis in Details an persönliche Bedürfnisse angepasst werden können.

Wer aber diese Ressourcen kontrolliert bzw. verteilt, wird nicht genannt.  Im Kontext von KI bezeichnet Singularity eine maschinelle Intelligenz, die menschliche Intelligenz übertrifft – grundsätzlich ein radikaler Bruch, in den Auswirkungen alles andere als sanft. Das Adjektiv gentle/sanft stellt diese potenziell disruptivste Technologie als einen weichen Übergang, als sanfte Evolution dar –  ein Widerspruch in sich.

Der Text liest sich als Entwurf eines Cyber- Utopia: This is how the singularity goes: wonders become routine, and then table stakes.
Ein weichgespülter Techno- Utopismus, der die Risiken und die Fragen von Machtverteilung und -ausgleich auslässt. So ungebrochen habe ich schon lange nicht mehr von der Gleichsetzung von digitalem und gesellschaftlichem  Fortschritt gelesen.
Im Gespräch der beiden Brüder geht es um persönliche Einstellungen, v.a. aber um die Haltung zu den Mitbewerbern – in erster Linie Meta.  Altman plaudert von dessen Versuch, Mitarbeitende mit hohen Prämien abzuwerben und nennt dies ein schlechtes Zeugnis einer Unternehmens- und Innovationskultur.
Für  OpenAI spräche das beste Kompliment, das er je gehört habe. Es sei die einzige Tech Company, die den User nicht nervt und manipuliert: Google versuche, Nutzern schlechtere Suchergebnisse und Werbung zu zeigen, Meta versuche, das Gehirn zu manipulieren und Nutzer zum Doom-Scrolling zu bringen, Apple bombardiere Nutzer mit Benachrichtigungen. 

Die Kernaussage von Blogpost und Interview: Die Entwicklung einer digitalen Superintelligenz ist unvermeidlich – und das ist gut so. Altman präsentiert OpenAI als Forschungsunternehmen für Superintelligenz, sich selbst als einen Anführer der guten Sache. Im Vergleich zu anderen CEOs von BigTech-Unternehmen wirkt er wie der Hobbit unter den Oligarchen.

The Brain for the World? (steve-johnson-KI .unsplashed+)

We are building a brain for the world – ein Satz, der mit dem imperialen Wir anmassend erscheint und erschreckt.  Gemeint ist die gesamte Branche, nicht Open AI allein.
Ist die Tech- Branche dazu ermächtigt, Wissensgewinn, Kreativität und Kommunikation für uns alle neu zu gestalten?  Es geht um einen exponentiellen technologischen Wandel, um eine Landnahme. Letzteres bedeutet die Einnahme und Monopolisierung des durch die Wirkung neuer Technologien entstehenden Raumes.
Vorgestellt wird es uns als eine  natürliche Entwicklung, der wir vertrauensvoll folgen, die sanft genug ist, uns ihr problemlos anpassen zu können. Es klingt, als sei diese Entwicklung natürlich und notwendig und dass ihre Führung in guten Händen liegt.

In einem früheren Blogpost (2/25) heisst es, dass die Mission darin bestünde, sicherzustellen, dass AGI- Artificial General Intelligence* der gesamten Menschheit zugute kommt. Was die Tech-Industrie plant, wird als zwangsläufiger Fortschritt dargestellt.
Verstehen lassen sich diese Sätze als Ausdruck eines dominanten Gestaltungsanspruchs der Tech-Industrie. We are building a brain for the world ist eine solche archetypische Aussage aus dem Silicon Valley – eine klassische Aneignung von Zukunft, futures appropriation. BigTech betreibt World-Building und stilisiert sich als Vollbringer des menschlichen Fortschritts.

Gesellschaftlicher Wandel ist niemals, technologischer Wandel selten  kontinuierlich oder monokausal. Beide sind miteinander verbunden und es gibt eine Reihe von Erklärungsmodellen, darunter das der Technogenese (der Prozess, in dem technologische Innovationen nicht isoliert, sondern immer in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Strukturen und Kräften entstehen).
Eine Innovation, wie die von AGI bzw. einer Superintelligenz löst zwangsläufig  gesellschaftliche und politische Dynamiken von unbestimmten Ausmass aus.

Das Herauswachsen des Internet von experimentellen Inseln zu einer globalen Infrastruktur brauchte einige Jahrzehnte, verlief in mehreren Schüben und war von vielfältigen Diskussionen begleitet.
Mit dem Internet war lange Zeit die Vorstellung von Dezentralisierung und Demokratisierung verbunden, zu Recht, vorhergehende Machtverhältnisse wurden gelockert.
Es brauchte  20 oder mehr Jahre zur Herausformung der spezifischen, auf algorithmischer Kontrolle beruhenden Machtverhältnisse, die oft Überwachungskapitalismus genannt oder unter digitaler Oligarchie zusammengefasst werden. KI ist jetzt schon oligarchisch dominiert.
Superintelligenz ist immer noch Speculative Future. Die heutige KI, die sich etwa seit der Jahreswende 22/23 verbreitet hat, ist archivbasiert. Sie funktioniert durch Mustererkennung und die Rekombination trainierter Daten. Daten, die oft genug geklaut sind – d.h. ohne Zustimmung von Produzenten und Rechteinhabern verwendet werden. In den allermeisten aktuellen Diskussionen geht es um diese archivbasierte KI.
Die Resonanz reicht von fundamentaler Kritik zu oft abwägender Zustimmung. Die Nutzung ist zum einen effizienzgetrieben, zur Erledigung stark formalisierter Aufgaben – oft aber auch zur Konzeptentwicklung in etwa als  Sparring- Partner.

Altmans Postings und das Interview lassen sich als eine Image-Kampagne für die Positionierung von OpenAI in einem zukünftigen, technokratisch- geführten System lesen. Sie zielen darauf ab, eine hegemoniale Kontrolle über die Entwicklung von KI als unvermeidlich, unbestreitbar und gentle darzustellen. Allerdings stoßen diese Visionen auf starke Widerstände – werden teils als ein Pitch to the entrepreneurial class¹ beschrieben, als Versuch,  unternehmerische Eliten für diese Zukunftsvision zu gewinnen. Ein wenig erinnern sie an Googles Motto dont’be evil in der Vergangenheit.

Im Jahre 2025 liegen jedenfalls Erfahrungen zurück, die uns gegenüber gross angelegten Zukunftsvisionen von BigTech Unternehmen skeptisch machen. Es geht auch um  Machtverschiebungen. Das Recht der Stärkeren – wir tun es, weil wir es tun können –  ist wieder vermehrt Teil unserer Wirklichkeit, zu Lasten einer breiten Aushandlung.

Sam Altman: The Gentle Singularity:  (Blog 10.06.25) – KI-Training ist Urheberrechtsverletzung. ¹Virginia Backaitis: Why Sam Altman Is One of the Most Dangerous Men Alive,  11.06.25  David Golumbia: Cyberlibertarians’ Digital Deletion of the Left.  * AGI: Artificial General Intelligence- eine Form künstlicher Intelligenz, die nicht nur auf spezifische Aufgaben beschränkt ist, sondern über allgemeine kognitive Fähigkeiten verfügt – also Probleme in unterschiedlichsten Bereichen flexibel, selbstständig und auf menschlichem Niveau oder darüber hinaus lösen kann.

 

 



Neoliberal – ein Epochenbegriff im Vergehen

Selbstwahrnehmung: A Legacy of Efficiency, Freedom, and Prosperity

Die Diskussion zum Begriff neoliberal im Anschluss an Hayek’s Bastards von Quinn Slobodian hat sich ausgeweitet – deutlich wird eine lange Bedeutungsgeschichte, tief verbunden mit zeitgeschichtlichen Strömungen.

Von Neoliberalismus spricht man seit mehr als 80 Jahren. Zunächst  eine Neu- Konzeption von Liberalismus, später der ideologische Kern eines Marktfundamentalismus, der immer mehr zum politischen Kampfbegriff wurde, bis hin zum Schimpfwort. Neoliberal kennzeichnet zudem eine ganze Epoche – the ideology of neoliberalism has ruled the globe for more than forty years now ¹.

Der Blick zurück: Das Walter Lippmann Colloquium (WLP) 1938 in Paris hat in der Ideengeschichte der Ökonomie einen geradezu legendären Status – ein Zusammenkommen liberaler Denker in einer Zeit nach der Weltwirtschaftskrise und der Bedrohung durch totalitäre Regime. Gesucht wurde ein dritter Weg zwischen Laissez-faire-Kapitalismus und staatlicher Planwirtschaft. Themen, die damals behandelt wurden, prägten das wirtschaftspolitische Denken der folgenden Jahrzehnte.
Neoliberal  meinte damals eine Ordnung, die Monopolisierungen und damit Machtkonzentration entgegenwirkt – Vermachtung nannte man es.  Individuelle Freiheit im Kontext eines geregelten Marktes wurde betont. Sowohl Soziale Marktwirtschaft wie auch der  Neoliberalismus, wie er sich seit den 80er Jahren verbreitet  hat, lassen sich bis damals zurückführen.

Zum 80. Jahrestag des Colloquiums 2018 gab es eine gewisse journalistische Aufbereitung, dennoch hatte sich die Bedeutung von neoliberal längst verschoben zu einem Wirtschaftssystem in dem die Kräfte des Freien Marktes das Sagen haben und der Rest folgen muss.

Ging es beim WLP um eine ausgewogene Kombination von Marktmechanismen und staatlicher Verantwortung stand in der fortsetzenden Mont Pelerin Society (seit 1947) Marktwirtschaft als selbstregulierendes System mit besonderer Betonung der unternehmerischen Freiheit im Vordergrund. Hayek und andere Mitglieder der MPS waren davon überzeugt, dass staatliche Eingriffe in die Wirtschaft der Wettbewerbsfähigkeit und der Effizienz des Marktes schaden. Dahinter stand die Idee eines Minimalstaates, der nicht in die wirtschaftlichen Prozesse eingreift, sondern lediglich für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und einigen Grundrechten sorgt.
Abgelehnt wurde nicht nur jegliche Form von Sozialismus, ebenso sozialdemokratische bzw.  keynesianische Wirtschaftspolitik. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft würden zwangsläufig zu ineffizienten und bürokratischen Systemen führen. 

Zum Zuge kam diese Form des Neoliberalismus mit dem Ende des keynesianisch‐wohlfahrtsstaatlichen Konsens, mit den Wahlsiegen  von Thatcher und Reagan. Deregulierung, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, ein wirtschaftlich definierter Freiheitsbegriff standen  nun im Vordergrund  und wurden mit radikaler Entschlossenheit umgesetzt.

There’s no such thing as society – die kämpferische Rhetorik Margaret Thatchers kennzeichnet diese erste militante Phase des Neoliberalismus.  Es war auch eine kulturpolitische Auseinandersetzung. Der Wohlfahrtsstaat, die Gewerkschaften wurden als Feinde individueller Freiheit und des wirtschaftlichen Fortschritts angegriffen.
Neben Thatcher stehen die Namen von Friedrich von Hayek, dessen Hauptwerk The Road to Serfdom die neoliberale Denkweise maßgeblich prägte, von Milton Friedman und Ronald Reagan. Galt Hayek als eine  Art Doyen des Neoliberalismus, hatte sein Schüler Milton Friedman größeren Einfluss auf die praktische Wirtschaftspolitik.
Es war der Beginn von Umbrüchen auf mehreren Ebenen: einer neuen globalen Wirtschaftsordnung, die auf von staatlichen Eingriffen befreiten Märkten beruht, in der Wettbewerb die letztentscheidende Instanz für den Austausch materieller und auch immaterieller Güter wurde. Der dezentrale Preis- und Wettbewerbsmechanismus eines freien Marktes sollte als wesentliche  Quelle des Informationsaustauschs dienen.

Der Neoliberalismus dieses Verständnisses beanspruchte universelle Geltung. Seine Prinzipien sollten auch in bisher vom Wettbewerb ausgenommenen Bereichen wie Kultur, Wissenschaft oder in Systemen der Daseinsvorsorge wie Gesundheit, Infrastruktur bis hin zur Wasserversorgung gelten. Alle Bereiche des öffentlichen und persönlichen Lebens sollten durch  Marktmechanismen organisiert sein und so der Logik des freien Marktkapitalismus entsprechen. Der Neoliberalismus der 80er Jahre wirkte polarisierend, die Rhetorik seiner Botschaft war triumphal: A Legacy of Efficiency, Freedom, and Prosperity.

Gesellschaftspolitisch waren Protagonisten wie Thatcher und Reagan selber  reaktionär. Es war die Marktlogik an sich, die zu einem Vehikel kultureller Transformation wurde. Der Markt lockerte traditionelle Bindungen mit kollektiven Identitäten, manche Milieus wurden regelrecht zerschlagen, wie etwa traditionelle Arbeitermilieus.

Weitere gesellschaftliche Veränderungen wurden in einer zweiten Phase erkennbar. Als solche lässt sich die Ära  Blair (New Labour)/ Clinton/ Schröder (Neue Mitte) bezeichnen. Wirtschaftlicher Neoliberalismus verband sich mit kulturellem Liberalismus, Leitgedanke war die Verbindung von Marktlogik und sozialer Modernisierung. Übernommen wurde die neoliberale Grundstruktur, aber mit neuem Anstrich: Aktivierender Staat, Workfare statt Welfare, Flexibilisierung mit sozialer Abfederung. Der Neoliberalismus wurde entschärft, indem er seine harten Kanten verlor – zumindest oberflächlich.

Der gesellschaftspolitische Liberalismus liess u.a. neue Formen einer Kreativwirtschaft entstehen. Kreative Leistungen, auch solche, die bis dahin als eher subkulturell galten, waren nun kommerzielle Ressourcen.  In Grossbritannien war Cool Britannia das Schlagwort. Zeittypisch sind etwa die Arbeiten von Richard Florida zum Aufstieg der kreativen Klasse.
In diese Zeit fällt mit der Verbreitung des Internet eine wesentliche Phase der digitalen Revolution.  Das Internet war gleichzeitig ein von Zwängen befreiter Raum wie eine neue Strukturierung von Märkten. Auch der digitale Kapitalismus ist aus den Bedingungen des neoliberalen Zeitalters hervorgegangen. Die neoliberale Politik seit den 1980er Jahren – Deregulierung, Privatisierung, Marktöffnung – schuf die Voraussetzungen für den späteren Aufstieg der digitalen Plattformunternehmen wie Google, Amazon oder Facebook. 

Es war diese Epoche, in der sich Neoliberalismus und postmoderne Kulturformen trafen. Zwei Begriffe mit erstaunlich parallelen Bedeutungs– und Wirksamkeitsverläufen. Die Bezeichnung der Postmoderne als das Kulturprogramm oder die kulturelle Logik des Neoliberalismus tauchte schon damals, früh in den 90er Jahren, auf. Auch die Bezeichnung einer progressiven Neoliberalisierung knüpft daran an.
Was beide Begriffe miteinander verbindet, ist ihre Verbreitung zu einem Zeitpunkt der Auflösung gewachsener Gewissheiten. Zugehörigkeiten lösen sich auf, an die Stelle sozialer Klassen treten individuelle Marktpositionen. Beide Begriffe verbreiten sich als Deutungsangebote für neue, individualisierte Gesellschaften, in denen sich feste, konkret verankerte Strukturen wie soziale Klassen, Milieus und ästhetische Traditionen auflösen. Neoliberalismus und Postmoderne sind nicht nur zeitgleich, sondern reagieren auf dieselbe gesellschaftliche Transformation – Individualisierung und Auflösung kollektiver Strukturen.

An die Stelle treten fluide, flexibilisierte, marktförmige oder diskursive Verhältnisse. Das kann gleichermassen als befreiend wie als Verlusterfahrung erlebt werden.
Consumer-Culture bedeutete eine neue Form gesellschaftlicher Teilhabe durch   Marktteilnahme – Konsumstile als Ausdruck gesellschaftlicher Diversität. Consumer Tribes sind eine dementsprechende Form von Vergemeinschaftung durch Konsum.
Postmoderne formulierte den Verlust von Gewissheiten, die Auflösung von Sicherheiten und gewachsenen Identitäten, während der Neoliberalismus das Individuum der Marktfähigkeit unterwarf. Einfaches Beispiel: Der Arbeiter wurde vom  Arbeitnehmer zum Humankapital und zum Unternehmer seiner selbst.

Mit der Finanzkrise 2008 lässt sich ein Zeitpunkt benennen, an dem diese Phase in eine dritte, direkt in den Digitalen Kapitalismus übergeht.  Die neoliberalen Paradigmen sind allgegenwärtig und hegemonial, gleichzeitig  ist aber auch die Kritik daran omnipräsent.
Die Regelsysteme des Neoliberalismus durchdringen zahlreiche Lebensbereiche, von der Selbstoptimierung über Dating-Apps bis zur Quantifizierung persönlicher Daten. Gleichzeitig sind die in den vergangenen Jahrzehnten gewachsenen Kritikpunkte – soziale Ungleichheit, Bereicherung von Reichen auf Kosten von Armen, Prekarisierung, Klimakrise – nicht mehr zu übersehen. Der früher öfters genannte Trickle-Down-Effekt, das Durchsickern des Wohlstands nach unten, gilt heute als Blendwerk. 

Wie auch postmodern dient neoliberal oft als Containerbegriff für eine Vielzahl von Entwicklungen, die mit Globalisierung, Marktlogik und der Schwächung sozialstaatlicher Elemente assoziiert werden. Beide Begriffe werden heute zunehmend in der Rückschau, oft mit einer Betonung von Überdruss, verwendet. Neoliberalismus fungiert heute eher als Schimpfwort denn als Eigenbezeichnung – selbst überzeugte Marktliberale meiden den Begriff.  

Im Digitalen Kapitalismus bildet sich die Plattformökonomie, die wir heute kennen, heraus. Sie radikalisiert und transformiert die Marktlogik, indem sie Märkte privatisiert, Monopole schafft und neue Formen von Macht und Kontrolle etabliert, die sich in einer allgegenwärtigen Hegemonie zeigen.
The neoliberal era is ended heisst es immer öfter. Neoliberalismus wird somit zur Vorgeschichte ´des Digitalen Kapitalismus.
Die Parallele zur Postmoderne wäre noch eine eigene Geschichte, die sich auszuarbeiten lohnt. Der gesetzte Fortsetzungsbegriff Metamoderne scheint sich noch nicht signifikant zu verbreiten. 

Zurück zum Ausgangspunkt, Gunnars Kritik an dem Bezug von Slobodian und sein Verweis auf einen konstruktiven Liberalismus, der die sozialen Zumutungen der Marktwirtschaft auffängt, ohne in Etatismus zu kippen  hat Berechtigung: der ursprünglich so bezeichnete Neoliberalismus,  inspiriert von Lippmanns The Good Society, hatte eine ganz andere Zielsetzung. Es ging gerade auch darum, Monopolisierungen und damit Machtkonzentration entgegenzuwirken, wie wir sie heute im grossen Masstab wieder erleben. Gedanken, die sich lohnen, wieder aufzugreifen. Das damals verwendete, altmodische Wort Vermachtung passt heute wieder – mein Vorschlag zur Wiederbenutzung!

Quinn Slobodians Bezug auf die neoliberalen Wurzeln der populistischen Rechten in Hayeks Bastards ist ebenso berechtigt, auch wenn eine direkte Verantwortlichkeit Hayeks und seiner Zeitgenossen nicht behauptet wird. Die verschiedenen Spielarten des v. a. in den USA wirksamen Libertarismus lassen sich genealogisch von seinem ökonomischen Freiheitsbegriff ableiten – auch wenn sie seine ursprünglichen Intentionen radikalisieren, oft vulgarisieren und anti-demokratische, anti-egalitäre Ordnungsvorstellungen, eine  Verbindung von Libertarismus und Autoritarismus entwickeln.

Begriff und Konzeption des Neoliberalismus standen über fast 80 Jahre in oft sehr unterschiedlichen Kontexten. Begriffe sind Werkzeuge gesellschaftlicher Selbstverständigung – ihre aktuelle Bedeutung und Wirkung entsteht durch Gebrauch, Konflikt und Deutungskämpfe.

Die aktuelle Weltlage ist schwer überschaubar. Sie ist zum einen bestimmt durch die globale Zunahme populistischer und rechtsextremer Strömungen, aber auch durch die Monopolisierungen und Machtkonzentration bei BigTech. Gerade in den letzten Jahren und Monaten verbreiten sich von dort oft bizarre, schwer nachvollziehbare Denkansätze, die sich unter Cyberlibertarismus zusammenfassen lassen.

How free market ideas mutated into the far right –ist eine ernst zu nehmende Entwicklung. Ein Kapitalismus ohne Demokratie ist eine ernst zu nehmende Gefahr.

Karen Horn  : Der Neoliberalismus  wird 80, FAZ 24.08.2018; -*Interview mit Marcus Pindur, DLF 18.08.2018  Gunnar Sohn: Neoliberalismus 1938: Kein Erbe Rothbards, sondern Rüstows Gegenerzählung. Ichsagmal.com 27.05.2025. Jurgen Reinhoudt & Serge Audier: The Walter Lippmann Colloquium: The Birth of Neo-Liberalism. Stanford & Paris 2018. 209 S.  Quinn Slobodian: Hayek’s Bastards – Die neoliberalen Wurzeln der populistischen Rechten 4/25 (Rezension) Jurgen Masure: The Anatomy of Neoliberalism..- Medium 6/2022 ¹: Ronald Labonté: Neoliberalism 4.0: The Rise of Illiberal Capitalism. 11/2019 Peter Geoghegan: How free market ideas mutated into the far right. democracyforsale.substack.com/. 16.04.2025 Meneleo Litonjua:  Commodification and Consumerism under Neoliberalism:From Citizen to Consumer 5/24.  Researchgate.com: 



Der Leninismus der Populisten

Strategie
Strategisches Modell nach Murray Rothbard – 1992 – nach Klick in voller Auflösung

Beim Lesen von Hayek’s Bastards: The Neoliberal Roots of the Populist Right von Quinn Slobodian stösst man auf einige bemerkenswerte Parallelen und Wirkungszusammenhänge. Strategische Modelle mit einem enormen Einfluss auf den aktuellen Rechtspopulismus werden deutlich.

Murray Rothbard  (1926- 1995) war Vordenker einer Allianz, die bis heute etwa  im Handeln von Donald Trump und Javier Milei weiterwirkt. In dem 1992 erschienenen Strategiepapier Right-Wing Populism: A Strategy for the Paleo Movement – formulierte  er die sog. Paleo-Koalition. Rothbard war ihr Ideologe und ihr Stratege. Absicht war, den bis dahin akademisch/elitär als Idee verbreiteten Libertarismus  in  einer Koalition mit real people den Weg zur Macht aufzuzeigen. Als real people identifiziert wurden v.a. die Rednecks des middle America – die möglichst direkt angesprochen werden sollten:  Outreach to the Rednecks. 
Rothbard verband ideologisch und strategisch Einflüsse, die weit auseinander liegen. Im Nachhinein betrachtet liest sich sein Strategiepapier wie eine Blaupause für den rechtspopulistischen Aufschwung des letzten Jahrzehnts – und beleuchtet dabei einige oft schwer verständliche Zusammenhänge.  Outreach to the Rednecks fand so eine Fortsetzung in Trumps Appell an die weisse Arbeiterklasse und der Befürwortung traditioneller Werte, die  Social-Media-Kampagnen und populistischen Slogans zum Ausdruck kommen.

Paleo meinte eine Referenz an ein Ideal des ursprünglichen – alten/paleoAmerika der individuellen Freiheit, des Privateigentums und minimaler Staatsstruktur. Ein Amerika, das mit staatlicher Zentralisierung und dem Wohlfahrtsstaat verdrängt worden war. Einschneidende Ereignisse dazu waren Roosevelts New Deal und der Civil Rights Act von 1964.
Der Begriff Right Wing Populism – dt. Rechtspopulismus – war zwar nicht neu, wurde aber von Rothbard erstmals als Selbstbezeichnung verwendet – und aktiv von ihm geprägt. Vieles von dem, was wir heute beobachten, nahm er  vorweg.  Der Slogan America First kommt bereits vor, im Sinne eines Rückzugs aus internationalen Verpflichtungen.

Murray Rothbard – Stratege der Paleo- Koalition

Rothbard propagierte eine bewusste Abkehr vom etablierten Konservatismus zugunsten einer populistischen Mobilisierung, die gezielt anti-elitäre Ressentiments nutzen sollte. Libertäre, marktradikale Ideen wurden mit nationalistischen und traditionell- konservativen Strömungen und autoritären Strategien verbunden, mit dem Ziel mehrheitsfähige politische Kräfte zu bilden. Als Klammer dienten kulturelle Identitätsfragen, die sich leicht emotionalisieren lassen – ein Brückenschlag, der den Weg für die spätere Tea Party und den Trumpismus ebnete.

Rothbards Einflussgeber scheinen zunächst extrem divergent: Neben die akademischen Marktfundamentalisten Mises und Hayek tritt Joseph McCarthy, der seinerzeit  berüchtigte Kommunistenjäger.
Rothbard schätzte McCarthy nicht nur wegen seiner antikommunistischen Haltung, sondern vor allem wegen seiner Fähigkeit Massen direkt zu erreichen und emotional aufzuwühlen.
Lenin
überrascht  zunächst in der Reihe der Einflussgeber. Als Machtstratege weist er aber in seiner Bedeutung über den direkten historischen Kontext hinaus. So sind Rothbards Strategien in vielen Punkten erstaunlich leninistisch. Gemeinsam ist beiden die Vorstellung der radikalen Umgestaltung der Gesellschaft durch den Sturz bestehender Machtstrukturen. Besonders in Bezug auf Kaderbildung, Polarisierung und Massenmobilisierung, in der Bereitschaft, radikale Mittel einzusetzen.
Rechtspopulismus sollte mitreißend und spannend sein, Politik und Entertainment miteinander verbinden. Die von den Eliten betriebenen Medien sollten umgangen, die Massen direkt angesprochen werden – Möglichkeiten die sich später mit den Social Media verwirklichten.

Seit den 70er Jahren setzte Rothbard direkte Bezüge zu Lenin: Leninist goals are the opposite of ours. But from Leninist strategy and tactics, we have much to learn.
In dem Strategiepapier Toward a Strategy for Libertarian Social Change (1977) werden verblüffend offen Übernahmen leninistischer Taktiken für einen libertären Umsturz genannt. Lenin arbeitete stets mit den realen Bedingungen der Massenbewegungen. Seine Fähigkeit, in einer revolutionären Phase gleichzeitig die Massen zu mobilisieren und in Phasen der Reaktion die Taktiken anzupassen, wird als entscheidend angesehen.
Rothbard übertrug leninistische Grundsätze auf eine rechtspopulistische Agenda. Er setzte auf Elitenkritik, Massenmobilisierung, negative Kampagnen, eine geschulte Kaderelite und charismatische Führungsfiguren.

Ideologisch entfernt – taktisch verbunden.

Nicht nur Rothbard, auch Trumps vormaliger Chefberater Steve Bannon nahm Bezug auf Lenin: I’m a Leninist. Lenin wanted to destroy the state, and that’s my goal too. I want to bring everything crashing down, and destroy all of today’s establishment (Bannon, 2016). Solche Aussagen waren wohl eher eine Provokation, um seine radikale Haltung und seine Ablehnung des politischen Mainstreams zu unterstreichen.

Erst Krisensituationen die aus der Schwäche des bestehenden Systems resultieren und denen dieses nicht gewachsen ist, ermöglicht es der radikalen Bewegung, ihre Stärke zu steigern und möglicherweise den Sieg zu erringen. Bewegungen brauchen einen harten Kern aus Aktivisten, die nicht nur die Ideen verstehen, sondern fähig sind, diese in die Praxis umzusetzen. Ohne eine solche Avantgarde bleibt der Massenprotest ziellos.
Lenin sah den Staat als Werkzeug der herrschenden Klassen – in diesem Sinne galt ihm seine Gegnerschaft. Rothbards finales Ziel war die  Zerschlagung staatlicher Strukturen und des diese stützenden Establishments,  hin zu einer ausschliesslich durch Märkte regulierten Gesellschaft.
Als Establishment bzw. Eliten standen zunächst die staatliche Bürokratie, ganz bes. die Zentralbanken, Medien, internationale Institutionen, darunter die europäische Integration (auch aus US- Perspektive),  ein sog. globalistisches Netzwerk im Vordergrund. Aber auch die Abgrenzung gegenüber moderaten Republikanern bzw. Konservativen zählte dazu.

Die Begriffe, und damit das Feindbild, wurden in den letzten Jahren ausgedehnt auf eine woke Kulturelite. Woke – ursprünglich ein Begriff, der Wachsamkeit gegenüber  Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen bedeutet- wurde zum übergreifenden Feindbild ausgebaut – bei Trump und MAGA, wie auch bei der AfD.  Damit auch Identitätspolitik, politische Korrektheit, Diversität, selbst  Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und die Thematisierung des Klimawandels.
Rechtspopulisten gehen davon aus, dass die Linke nach einer kulturellen und ideologischen Hegemonie strebt, um die Grundpfeiler der kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft zum Einsturz zu bringen.  Kulturmarxisten haben sich zu diesem Zweck in den Institutionen eingenistet. Selbst der Klimawandel ist demnach ein kulturmarxistisches Kontrollins­trument.

Rothbards Strategiepapiere zählen zu einer Art Grundausstattung für Rechtspopulisten. Seine Ideen und Strategien werden als wegweisend und vorausschauend für den globalen Rechtspopulismus eingeordnet und explizit als intellektuelle Grundlage. der neuen Rechten genannt.
Bei  dem argentinischen Präsidenten Javier Milei finden sie sich ausdrücklich wieder, bei Donald Trump schlagen sie sich nieder. Wirkungen auf die deutsche Neue Rechte incl. der AfD sind eher indirekt. Während Rothbards Libertarismus einen minimal state forderte, strebt die AfD eher einen starken, aber ethnisch- definierten Nationalstaat an. Die ideologische Basis liegt in nationalkonservativen bis ethnisch- völkischen Vorstellungen. Ein genuin libertäres Fundament gibt es kaum.
Eine gewisse Rolle spielen der dezidiert anti- demokratische Ökonom Hans- Hermann Hoppe und der in Madrid lehrende Volkswirt Philipp Bagus. Letzterer hebt z.B. in einem Buch zu Milei hervor, dass sich dieser furchtlos gegen Egalitarismus, die Idee des struk­turellen Opfertums, Antidiskriminierung, soziale Gerechtigkeit, Relativismus, Nihilismus, Atheismus, Klimahysterie, Ultrafeminismus, Identitäts­po­li­­tik, Transgenderismus, Agenda 2030 und politische Korrektheit entgegen stellt. 

Rhetorische und strategische Anleihen (der AfD bei Rothbard) sind allerdings deutlich erkennbar. Die Taktik der bewussten Tabubrüche, der kalkulierten Provokation und der Instrumentalisierung von Empörung. Die Anti-Woke-Rhetorik wurde massiv aufgegriffen und dient als Weiterentwicklung bisheriger Strategien. Das Feindbild einer Woke-Bewegung übersetzt den politischen Kampf in kulturelle und gesellschaftliche Kategorien.

Eine finale Realisierung von Rothbards gesellschaftlichen Vorstellungen, dem Anarchokapitalismus, ist schwer vorstellbar. Es gibt darin keine Idee von sozialem Wandel. Am ehesten in uramerikanischen Siedlergemeinden oder in Gated Communities – also in Gesellschaften von Eigentümern, die ihre Angelegenheiten autonom und ohne staatliche Einmischung regeln.
Trotz aller ideologischen Sprünge lesen sich seine Texte strategisch durchdacht, in diesem Sinne in sich stimmig, stringent. Grundlage ist ein radikaler, aber ebenso kulturkonservativer Antietatismus, der in seiner Konsequenz zu einem  oligarchischen  Marktautoritarismus führt.

Die leninistischen Anleihen in Bezug auf Kaderbildung, Polarisierung und Massenmobilisierung sind die wohl wirkungsmächtigsten. Libertäre sollten eine harte Kerntruppe aufbauen, ohne sich in Isolation zu verlieren. Sie müssen ihre Ideen popularisieren und gezielt Allianzen eingehen, solange diese nicht zu einem Verrat an den Kernprinzipien führten. Was sie als Eliten verstehen, soll möglichst schnell und wirksam ausgeschaltet werden.
Rothbards Strategie zeigt sich besonders in der Fähigkeit, taktisch flexibel zu bleiben, ohne jedoch das Endziel der radikalen Umgestaltung der Gesellschaft aus den Augen zu verlieren. Rothbard verteidigte Demagogie als politisches Mittel, um eine Wahlbasis zu mobilisieren, wohl wissend, dass sie auch von anderen politischen Akteuren als Werkzeug eingesetzt werden kann. Diese strategische Nutzung von Demagogie ist eines der kontroversesten, aber zugleich wirksamsten Instrumente in seiner politischen Strategie der Mobilisierung von Massen.

Murray Rothbard: Right Wing Populism  1/1992 –   Toward a Strategy for Libertarian Social Change – April 1977   Quinn Slobodian: Hayek’s Bastards: The Neoliberal Roots of the Populist Right , 4/25., RezensionDavid Bebnowski: Murray Rothbard’s Populist Blueprint:Paleo-Libertarianism and the Ascent of the Political Right. In: Journal of the Austrian Association for American Studies. vol. 6, no. 1, 2024, pp. 35–53 Ulrike Herrmann : USA: Von Lenin lernen heißt siegen lernen. taz 20.10.2017.Philipp Bagus: Rechter Populismus als erfolgreiche Strategie. Javier Milei. mises.de.org. 8.09.23



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