Technogenese – technische Innovation und gesellschaftlicher Wandel

Treibt Technik gesellschaftlichen Wandel an? Bild: Andrew Reshetov on Unsplash

Was war zuerst – technische Innovationen oder gesellschaftlicher Wandel? Die Wechselwirkung – Interdependenz –  von Gesellschaft und Technik ist ein immer wiederkehrendes und zentrales Thema.
Dass Innovationen in Technik und Medien weitreichende, oft nicht voraussehbare, unabschätzbare Wirkungen haben, ist unbestritten. Historische Wendungen werden mit der Verbreitung neuer Techniken und Medien verbunden. So wird immer wieder gern erzählt, dass die Erfindung des Buchdrucks die Ausbreitung von Renaissance und Reformation erst ermöglicht hat.
Manche Entdeckungen versandeten aber auch ohne weitere Resonanz. Letztlich  setzen sich Techniken nur dann durch, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen (Nassehi).

Technik – materielle Zivilisation – ist integraler Bestandteil von Gesellschaften. Ihre Nutzung macht Gesellschaft erst zu einer solchen.  Man könnte schon mit dem Faustkeil anfangen, spätestens seit dem Neolithikum,  mit dem Beginn von Ackerbau und Viehzucht, Keramik, Textilherstellung und Hausbau, leben Menschen in einer menschengemachten Umgebung, deren Fortbestand und Weiterentwicklung von der Beherrschung der entwickelten Techniken abhängt. Innovative Sprünge mit weitreichenden Folgen gab es immer wieder in der Historie*.

Technik ist nicht nur menschengemachte Umwelt einer Gesellschaft, sie ist auch konstitutiv für die Entstehung, Gestaltung und Erhaltung gesellschaftlicher Formen.
Technikgeneseforschung klingt schon fast wie Technogenese. Sie befasst sich mit der gesellschaftlichen Konstruktion von Techniken, den Entstehungsbedingungen von Innovationen. Frage ist, welche gesellschaftlichen ‚Logiken’ und strategischen Akteure beobachtet werden können, die die technische Entwicklung mit ihren Ressourcen organisieren und in ihrer Richtung orientieren? (Rammert 2006)  Vorherrschend sind ökonomische, politische und kulturelle Logiken, oft miteinander vermengt. Anschauliches Beispiel wäre etwa die Geschichte der Elektromobilität: Gleichzeitig mit dem Verbrennungsmotor entwickelt, dann in Nischen verdrängt. Der Ausbau der Infrastruktur folgte dem einmal durchgesetzten Pfad des Verbrennungsmotors –  bis dann wieder Elektromobilität gesellschaftlich erwünscht ist und mit staatlicher Förderung angeschoben wird  – alle drei genannten Logiken sind zu erkennen.

Technikdeterminismus sieht eindeutig Technik als den Motor des Geschehens an. Eine Sichtweise, die heute als überholt gilt, in den 50er und 60er Jahren aber dominant war. Grob: die Beherrschung komplexer Technik in der maschinenbasierten Großindustrie setzte Regeln und forderte Anpassung. Sachzwänge dienten der Legitimation, mit Auswirkungen auf das politische Handeln und die gesellschaftliche Wirklichkeit. Damit verbunden war eine eher statische, funktionale Vorstellung von Gesellschaft. Modernisierung bedeutete die Ausrichtung an den Erfordernissen technischen Fortschritts.  Der gelegentlich auftauchende, von Industrie 4.0 abgeleitete Begriff  Gesellschaft 4.0 spiegelt noch diese Haltung.
Die These des „cultural lag(W. Ogburn,1937) – die kulturelle Phasenverschiebung in der Adaption neuer Techniken, bedeutet einen abgeschwächten Technikdeterminismus. Gesellschaftlich/kultureller Wandel in Institutionen  und Werten hängt demnach der technischen Innovation  hinterher  (vgl. Remmert, 2006).
Technikfolgenabschätzung geht im Ursprung darauf zurück, hat sich aber seitdem  weit ausdifferenziert und dient der Abschätzung von Risiken und Nebenwirkungen, v.a. in der Politikberatung.

Digitale Techniken verändern Wirtschaft und Gesellschaft so schnell wie zuvor noch keine andere technische Revolution – ein Satz, wie er so oder so immer wieder gesagt wird. Manchmal heisst es zudem, Digitalisierung treibe gesellschaftliche Verhältnisse vor sich her.
Der Prozess der Digitalisierung ist allerdings kein einheitlicher Prozess, er verläuft nicht nach einheitlicher Logik. Zwar wurde/wird Digitalisierung in vielen Fällen zentral durchgesetzt, ihr Erfolg gründet sich aber in der breiten Akzeptanz in der Lebenswelt – man denke zurück an all die Stufen der Verbreitung: Textverarbeitung und Desktop- Publishing, Digitalphotographie, E-Mail, Musik u.v.m. – all diese Anwendungen erreichten eine schnelle und breite Resonanz in Arbeits- und Lebenswelt.
Ganz sicher ist die Durchsetzung an den Ausbau der Infrastrukturen gebunden: Kabelnetze, 3G, 4G, 5G Mobilfunknetze, Speichermöglichkeiten intern und in der Cloud, verbesserte Rechenleistungen etc.  Jede Steigerung von Schnelligkeit und Volumen erweitert die Möglichkeiten, erleichtert neue Formen der Arbeitsorganisation und bedingt letztlich Veränderungen von Berufs-, Branchen-  Beschäftigungsstrukturen – und Lebensentwürfen.

In Die Macht der Plattformen bezieht sich Michael Seemann auf das Konzept der Affordanz (16), das er als einen abgeschwächten Technikdeterminismus einordnet: Technik gibt nicht die Struktur vor, aber sie ermöglicht sie bzw. macht sie wahrscheinlich. Affordance Theory meint zunächst den Gebrauch von Angeboten in der unmittelbaren Umgebung, etwa einen Tisch im Strassencafé, eine Parkmöglichkeit in der Wohnstrasse oder eben die Nutzung technischer Möglichkeiten. Objekte haben einen Angebotscharakter und legen einen bestimmten Gebrauch nahe. Der Erfolg der GAFAM- Unternehmen ist damit gut zu erklären: Googles Suchergebnisse, das bruchlose Einkaufserlebnis bei Amazon, die Einfachheit, Convenience der Vernetzung bei Facebook sind Angebote, die bei aller oft in Diskussionen geäusserten Skepsis von Nutzern/Kunden angenommen werden.

Technogenese/Technogenesis bedeutet die parallele Entwicklung, die Co- Evolution  von  Technik und Gesellschaft. Evolution ist generell keine beabsichtigte Entwicklung. Der Begriff stammt von dem französischen Medientheoretiker  Bernard Stiegler (✝2020) in Anlehnung an Anthropogenese.
Genauso offensichtlich klingt Technogenese  an die Konzepte Sozio– und Psychogenese bei Norbert Elias an. Geht es dort um langfristige Wandlungen von Gesellschafts – und Persönlichkeitsstrukturen,  um die Herausbildung eines Habitus, kann man Technogenese als Herausformung  der jeweils spezifischen technischen/materiellen Zivilisation verstehen.
Technogenese richtet den Blick auf die Interdependenz technischer und gesellschaftlicher Entwicklung. Im Forschungskontext Netnographie wurde  Technogenese seit 2015 aufgegriffen. 2019 im Essential Guide to Qualitative Social Media Research (116) als ontologische Grundlage von Netnographie bezeichnet.  Technogenese ist ein Schlüsselbegriff für die Verbundenheit gesellschaflicher, medialer und technischer Entwicklung – der so auch Social Media in die Perspektive historischer Prozesse stellt. Eine Assemblage menschlich/technisch/medialer Umgebung. Derzeit als digitaler Konsumkapitalismus beschreibbar – der an einer Richtungsänderung steht.
Digitale Lebenswelt bedeutet eine fortwährende Adaption neuer Techniken, Dienste und Produkte. Zivilisation evolviert mit ihrer technischen Ausstattung. Politische, ökonomische und kulturelle Chancen sind damit verbunden.  Technische Neuerungen können oft das freisetzen, was in einer Gesellschaft längst vorhanden ist.

Parallel zur Digitalen Transformation wird die kulturelle Transformation von der industriellen Moderne zur postindustriellen Spätmoderne diskutiert. Wahrscheinlich ist es v.a. die Feinstruktur der Digitalität, die sie an die Prozesse der Individualisierung anschliesst und von der vorhergenden unterscheidet: so etwa die Adressierbarkeit jede/s/r einzelnen  im Gegensatz zur  Ansprache über  Massenmedien.

Kozinets, Robert V.: Netnography Redefined. SAGE Publications Ltd; Second Edition edition (July 24, 2015),  S. 49 ff – Netnography. The Essential Guide to Qualitative Social Media Research.. Third Edition 2020, S. 113 ff. Niklas Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaften, Kap.  IX. Technik, S. 235 ff  Michael Seemann: Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten,
Werner RammertTechnik, Handeln und Sozialstruktur: Eine Einführung in die Soziologie der Technik. 2006

*Ein Beispiel von vielen: Neue Techniken der Schiffskonstruktion brachten Stämmen am europäischen Rand, den Wikingern, einen Vorsprung, den sie militärisch (d.h. plündernd) und im Ausbau eines Handelsnetzes über bis dahin kaum verbundene Weiten, nutzten.

 


Amazon and the Invention of a Global Empire – (Rez. zu Amazon unaufhaltsam )

Der Titel Amazon unaufhaltsam (von Amazon unbound) klingt etwas spröde  übersetzt – passender ist der amerikanische Subtitel Jeff Bezos and the Invention of a Global Empire – wie die Landnahme eines strategisch denkenden Konquistadoren. Passend dazu das Siegerlächeln (oder –grinsen) auf dem Titel. Autor Brad Stone ist Wirtschaftsjournalist bei Bloomberg News, schrieb auch für Newsweek und die New York Times.
Das Buch ist die Geschichte des Aufstiegs, von 2010* bis zur (teilweisen) Übergabe an Andy Jassy im Februar 2021. Dazwischen liegen die Phasen des Wachstums (im Volumen wie der Breite), der Perfektionierung, einzelne Flops (so das Fire Phone), und die immer stärker werdende öffentliche Beachtung. Eine Langzeitreportage zu einem Unternehmen und ein Stück Zeitgeschichte bis zu den Trumpjahren und zur Pandemie. Nicht unkritisch, aber mit Bewunderung.

Das Bild eines Globalen Imperiums passt wohl zu allen fünf GAFAM- Unternehmen. Allen gemeinsam ist eine Strategie der Monopolisierung sozialer Graphen, wie es Michael Seemann in seinem kürzlich (5/21) erschienenen Buch Die Macht der Plattformen herausgearbeitet hat. Amazon startete mit einem sozialen Graphen im Online- Buchhandel, dehnte seine Handelsaktivitäten immer weiter aus  und verfügt nun im weitesten Sinne über den Konsumptionsgraph** – das Netzwerk aller Produkte und ihrer möglichen Käufer. Produkteinführungen wie der Kindle (2007) und später Echo (2015, mit Alexa) waren  v.a. auf die Nutzung eigener Angebote, wie E- Books, Musik- Streamings etc. angelegt. Die Verkaufsplattform Marketplaces erschliesst den Handel über eigene Angebote hinaus.

Von den übrigen vier unterscheidet sich Amazon durch den Handel mit überwiegend physischen Gütern und steht damit mit einem Bein in der  stofflichen Wirtschaft. Google und Facebook bauten ihre Imperien ausschliesslich in der neuen, noch unbewirtschafteten  Welt des Internet auf. Google erschloss diese Welt erst wirklich, Facebook kanalisierte das Social des Web in seine Formate. Apple hat eine lange Geschichte, positionierte sich seit iTunes und als Pionier des SmartPhones neu. Microsoft dominierte in der ersten Phase der Digitalisierung, geriet zeitweise in den Hintergrund.

Der Erfolg von Amazon beruht auf mehreren Faktoren, insbesondere auf dem  Leverage/Hebeleffekt: Die Umwandlung des Einzelhandelsgeschäfts in eine einfach zu bedienende Plattform, die mit minimaler menschlicher Unterstützung Gewinne generiert (197). Einzelne Fragen standen dabei immer im Vordergrund: Wie können die Kosten der Betriebsabläufe bei  gleichzeitiger Umsatzsteigerung gesenkt  werden? Wo können Automation und Algoritmen  menschliche Arbeitskraft reduzieren?
Get big fast war das erste Motto, KI und Machine learning, automatisierte Generierung von Wissen aus Erfahrung, von Beginn an zentrale Disziplinen. Das Wissen über Kunden, was sie interessiert und was sie schliesslich kaufen,  plus die Kontrolle der Wertschöpfungsketten sind entscheidend – und damit trat Amazon in immer mehr  Geschäftsfelder.

Das Image von Amazon ist gespalten: auf der einen Seite das innovative Unternehmen mit absoluter Orientierung am Kundenerlebnis incl. schneller Liefergarantie.  Alles,  von der Waschmaschine bis zu den Gewürzen, Cloud- Services, Streaming und Amazon Studios. Bezos ist gefeierter CEO und Hardcore- Chef, Apostel  des Einsparens, Investor, Innovator, kindlich begeistert für die Raumfahrt  und schliesslich Celebrity.
Kritik fährt Amazon einmal bei der Politik nach Innen ein: eine beinharte Unternehmenskultur  incl.  Stack Ranking – Angestellte unterliegen einem regelmässigen Ranking – unterhalb einer gewissen Position werden sie automatisch gefeuert. Der Vorwurf des achtlosen Umgang mit der Belegschaft (465), der das Personal in Lager und Auslieferung nicht vor der Pandemie schützt.
Man erfährt noch viel zu Amazon: zum Eintritt in den Markt Indien, zum Engagement bei der Washington Post, zu einem  Nachhaltigkeits-management, zu Ungleichbehandlungen während der Pandemie u.v.m.

Im Stil erinnert das Buch an andere, die es zu CEOs der Digitalbranche gibt, so zu Facebook bzw.  Marc Zuckerberg. Steve Jobs und aktuell Elon Musk haben noch mehr Starpotential. Treiber von Innovationen sind nicht Funktionalitäten, sondern charismatische Leader. Bei aller kritischen Distanz geht es immer um den gelebten American Dream.  In derselben Weise könnte man auch über Stars aus Hollywood schreiben. Das Buch ist detailreich recherchiert, mal langatmig, mal unterhaltsam und soweit anekdotisch angereichert, dass man es als Vorlage einer Verfilmung im Genre Business heranziehen könnte.
Das Buch ist übersichtlich in drei Teile und 15 Kapitel gegliedert. Die umfangreichen Quellenangaben und ein ebensolches Register machen es einfach im analog gedruckten Text auch quer zu lesen. Nichts gegen die Übersetzung, aber derlei Titel erlesen sich besser im Original.

Brad Stone: Amazon unaufhaltsam. Wie Jeff Bezos das mächtigste Unternehmen der Welt erschafft-  Ariston, München 2021.  540 S. 26,- € – Orig.: Amazon Unbound: Jeff Bezos and the Invention of a Global Empire.   *Vorausgegangen war “The Everything Store: Jeff Bezos and the Age of Amazon”, 2013 vom selben Autor   **Vgl.: Christoph Engemann: In Gesellschaft der Graphen. Warum Datenschutz mehr als das Individuum berücksichtigen muss. FAZ am Sonntag, 12.4,2020. Feuilleton, S. 40; Nachträglich ein Beitrag aus der Wired vom 19.06.2021: Matt Burgess: All the ways Amazon tracks you and how to stop it.


Die Macht der Plattformen (Rezension)

Eine Plattform ist ein Geschäftsmodell, das zwei (oder mehr) unterschiedliche Interessengruppen zusammenbringt, wie auf einem Markt. Nur wird dieser durch ein Unternehmen kontrolliert, das auch seine Strukturen vorgibt”* (24).

Die Macht der Plattformen ist als  (vorläufige) Plattformtheorie zu verstehen.  Vorläufig deshalb, da Plattformen längst keine abschliessend zu definierenden Gebilde sind. Sie sind im ständigen Wandel, somit politisch offen, gestaltbar (352). So wie wir sie heute kennen, sind sie in den beiden letzten Jahrzehnten gewachsen – weder beliebig noch zwangsläufig.
Das Buch war ursprünglich für Mai 2020 angekündigt, passend zur re:publica.  Grund für die Verspätung ist wohl die gleichzeitige Abgabe als Dissertation.

Im ersten Buch von Michael Seemann (@mspro) “Das neue Spiel – Strategie für die Welt nach dem digitalen  Kontrollverlust ” (2014)  ging es um neue Spielregeln für die Zeit danach. Kontrollverlust bedeutet, dass sich Informationen im Digitalen nicht mehr zurückhalten lassen. Niemand ist mehr Herr seiner eigenen Daten und das betrifft  alle Formen der Informationskontrolle.
Die folgende These zum Neuen Spiel lässt sich ohne weiteres einer Besprechung des vorliegenden voranstellen: Im Neuen Spiel treten Plattformen als neue, machtvolle Akteure auf den Plan. Sie bilden die Infrastruktur der kommenden Gesellschaft. Wer in Zukunft Politik machen will, muss sich mit ihnen auseinandersetzen.

Es begann mit Napster – ein Erweckungserlebnis, auf das im ganzen Buch hindurch immer wieder Bezug genommen wird. Das frühe Internet war von der Vision getrieben, Wissen und Information frei zugänglich zu machen, incl. Musik, Software.  Eine Diensteplattform für Musik- Nerds hebelte eine ganze Branche aus und führte zur  Disruption der Musikwirtschaft,  die  ein neues Paradigma des Wirtschaftens erzwang (277/78). Napster hatte die Kenntnis über die Verbindungen – wer sich für welche Musik interessiert, darüber verfügt und wer sie teilt (145). War Napster Datenpiraterie, war iTunes die folgende Legalisierung. Spotify u.a. folgten – und ist Gegenstand einer umfangreichen Plattformanalyse (340-352) – die Musikindustrie hatte aber inzwischen gelernt.

Der Untertitel Politik in Zeiten der Internetgiganten führt ein wenig auf die falsche Spur – lässt einen weiteren mahnenden Text vor der Macht der GAFAM- Giganten erwarten. Den Datensammel- und Überwachungsaspekt hält Seemann für überbewertet (404). Darum geht es zwar auch, vorrangiges Thema sind aber die grundsätzlichen Machtquellen, die Plattformen aus ihrer Funktionsweise erwachsen.  Netzwerkmacht ist hegemoniale Macht dessen, der Standardisierungen durchsetzen kann.
Plattformmacht beruht nach Seemann dazu auf Hebeln der Kontrolle, er nennt sie Kontrollregimes, insgesamt sechs.   Als erstes das Zugangsregime, in etwa ein Hausrecht, mit dem Zugang gewährt und verwehrt wird.  Im weiteren das  Query- Regime  als Instrument der Datenabfrage, eine Vorselektion potentieller Verbindungen mit erheblichen Möglichkeiten von Einflussnahme und Kontrolle.

Social Graph. Quelle:  mburpee/flickr.com

Eigentliches Machtzentrum ist – er nennt  es so  – das  Graphregime, dessen Name sich von Social Graph ableitet: Der Social Graph stellt Beziehungen zwischen einzelnen Entitäten dar – “the global mapping of everybody and how they’re related“**.  Soziale Graphen kann man sich wie Territorien vorstellen – deren Einnahme im  Plattformkapitalismus Unternehmensziel wird. Graphname klingt wie Landnahme, und bedeutet auch die Einnahme eines  bereits existierenden Beziehungsnetzwerkes oder Interaktionszusammenhanges – Amazons Graphname war etwa zunächst der (Online-) Buchhandel, Facebooks die Campi von Universitäten. Beide wären nicht erfolgreich, hätten viele der Bedürfnisse nicht bereits existiert. Gefestigte Graphnamen bedeuten gefestigte Machtquellen: Facebook hat (incl. instagram und What’s App) ein Graphmonopol der sozialen Verbindungen, Google hat den Interest Graph, Amazon den Consumption Graph, Apple und Google teilen sich den Mobilfunkgraph (159). Das Wissen über die Verbindungen ist Machtfaktor.

Die Graphname ist auch die erste Phase im Lebenszyklus von Plattformen, der Keim, aus dem alles erwächst.  Es folgen Wachstum und Konsolidierung. Wachstum erfordert maximale Offenheit- man will die Welt erobern und verbessern – Don’t be evil fällt in diese Phase.  Konsolidierung stellt dann die  wirtschaftliche Reproduktion in den Vordergrund. In Phase 4, der Extraktion kippt das Verhältnis von Offenheit und Geschlossenheit. Schliesslich der Niedergang – das öffentliche Interesse lässt nach, dennoch wird oft noch eine Rente erwirtschaftet.  Kaum jemand weiss, dass etwa MySpace und Second Life immer noch existieren. Andere, wie Ebay scheinen dauerhaft konsolidiert.

Soweit die zentralen Aussagen zur Plattformmacht, skizziert. Seemanns Arbeit berührt eine ganze Reihe weiterer Themenfelder, die Diskussionen anstossen können, etwa eine politische Ökonomie der Plattform. Oder zur Creators Economy als einer evtl.  erstrebenswerten Perspektive.
Es gibt auch Material zur boomenden Zukunftsdiskussion in Form von Zehn Prognosen (352ff).   Ob sich dabei bereits ein Ende der staatlich organisierten repräsentativen Demokratie (368 ff) ankündigt, ist eine gewagte These.  Ganz sicher verlieren die grossen, prägenden  Organisationen einer Massengesellschaft, darunter die Volksparteien,  massiv an Einfluss – Vergemeinschaftung und Interessenorganisation verlaufen oft in Mustern von Consozialität.
Die Wechselwirkung von Technologie und Gesellschaft wird angesprochen.  Seemann vertritt das Konzept der Affordanz, das meint den Angebotscharakter eines Objektes – anderswo taucht der Begriff Technogenese auf, der die parallele Entwicklung technischer und gesellschaftlicher Entwicklung betont.

War es Zufall, dass die Plattformisierung ausgerechnet von der Musikbranche ihren Ausgang nahm? Zum einen ist Musik (auf Tonträgern) zwar an ein Trägermedium gebunden, sie liess sich aber schon immer mit mehr oder weniger Aufwand  kopieren. Dazu war die Gründer- und Aufbaugeneration des Internet mit Popmusik bzw. Popkultur aufgewachsen und sozialisiert. Pop war Medium von Vergemeinschaftung und Distinktion und oft Gradmesser von  Coolness – ein sozialer Graph par excellence.

Obgleich Dissertation wirkt das Buch und sein Duktus kaum innerakademisch. Klassischer theoretischer Bezug ist das Konzept der Kontrollgesellschaft von Gilles Deleuze.  Ansonsten überwiegen in den Literaturverweisen  aktuelle Quellen bis zum Jahre 2020 – der Text ist also nicht beim zunächst vorgesehenen Erscheinungstermin stehen geblieben 😉
Die Argumentation folgt der eigenen Perspektive und spiegelt selbsterlebte Zeitgeschichte. Die Motivation, der Antrieb dazu ist gleich zu Beginn genannt:  “Diese Mechanismen sind so radikal anders als die Welt, in der ich aufgewachsen bin, dass ich alles darüber wissen muss.” Manchmal hat man etwas den Endruck, es gehe um soziale Physik.  Beim Lesen kommt man nicht aus dem Anstreichen heraus … ein wichtiges Buch.

Michael Seemann: Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten,  Berlin, Ch. Links Verlag 2021; 448    S. – auf Youtube: Napster, iTunes, Spotify und die Plattformisierung der Welt – Podcast bei Future  Histories 30.05.2021
*Jean-Charles Rochet, Jean Tirole, Platform Competition in Two-Sided Markets, Journal of the European Economic Association, Volume 1, Issue 4, 1 June 2003, Pages 990–1029,
**A. Iskold, “Social Graph: Concepts and Issues,” ReadWriteWeb, September 12, 2007



Glamour Labor und Prekarität

Das schönste Gewerbe der Welt – gemeint ist die Mode –  Hinter den Kulissen der Modeindustrie von Giulia Mensitieri erschien jetzt auf Deutsch. Die englische Ausgabe war bereits im August  2020 erschienen, das französische Original »Le plus beau métier du monde« im Januar 2018.  Aus Trainingsgründen habe ich mich für das letztere entschieden: Englisch ist omnipräsent, und verdrängt oft  andere Sprachkenntnisse, die  Gefahr laufen zu verkümmern .
Mode zählt zu den ganz grossen Wirtschaftszweigen, incl. aller verbundenen Sektoren entfallen 6 % des globalen Konsums (S. 15) auf sie. Textil- und Bekleidungsindustrie sind Stufen der Produktion, sie  liefern die materiellen Konsumgüter als Endprodukte. Modebranche im engeren Sinne zählt zu den Creative Industries: Mode ist ein kulturelles System, in dem Kleidung + entsprechenden Accessoires eine Bedeutung zugemessen wird. Naheliegend wird Mode v.a. visuell kommuniziert. Gut aussehen muss es auf den Bildschirmen. Marken investieren in ihre Präsenz, ihre Sichtbarkeit. Ganze Branchen inszenieren und verbreiten diese Sichtbarkeit – und werden mit diesen Bildern der Mode zu den Intermediären zwischen Produktion und Konsum (vgl. 36 ff), eine Form von Glamour Labor.

Die Creative Economy ist systematisch auf die Produktion neuer kultureller Güter ausgerichtet (s. Reckwitz 2017, 143). Kulturelle und singuläre Güter zirkulieren in der spätmodernen Ökonomie und prägen die Lebensstile (vgl. eda.). Prinzip von Mode ist es, immer wieder neue, immer andere singuläre Produkte – Einzigartigkeitsgüter – auf den Markt zu bringen. Diese Güter werden mit narrativen, ästhetischen, ethischen, gestalterischen und ludischen Qualitäten aufgeladen, Reckwitz nennt es Valorisierung – Begriff und Konzept lassen sich auf die von Mensetieri beschriebene Modebranche passend übertragen.  In der Luxusmode spielt zudem die statusrepräsentative Qualität, die simple Aussage, es sich leisten zu können, eine grosse Rolle.

Glamour Labor im Luxussegment. Bildquelle: Michael Lee: Unsplash.com

Le plus beau métier du monde ist eine ethnographische Studie aus einem besonderen  Ausschnitt der Modeindustrie: dem Luxussegment und seinen Arbeitsbedingungen. Die Autorin stützt sich auf Interviews mit Beschäftigten, zum Teil auch teilnehmende Beobachtung, auch setzt sie sich  selber einer prekären Beschäftigung aus. Es sind einzelne Geschichten, die sich in ihren Erfahrungen überschneiden und deutliche Muster zeigen.  Es ist nicht die Kaste der Aushilfs-, Neben- und Gelegenheitsbeschäftigten, es sind die Menschen, die  als Designerinnen, Stylisten, Models, Friseure, Verkäufer, Journalistinnen, Handelsvertreter etc., die Branche am laufen halten. Auf der einen Seite haben sie Zugang zu Privilegien, wie  Flüge erster Klasse, Luxuskleidung, renommierten Hotels etc.,  sehen sich jedoch mit einer Form der Prekarität konfrontiert, die aus den Unwägbarkeiten der Zahlungsmethoden und – fristen, zufälligen Anfragen von Sponsoren und den Lebenshaltungskosten in teuren Städten hervorgehen. Oft sind sie  gezwungen, in kleinen Wohnung zusammenzuleben und sich immer wieder über ihr berufliches Schicksal zu befragen. Gezahlt wird zudem oft mit Warengutscheinen.
Symptomatisch sind die Diskrepanz zwischen glamourösem Prestige und Prekarität, niedrige Einkommen, eine Elastizität der Arbeitszeiten, die Tendenz zur Selbstausbeutung, oft eine Abhängigkeit von Agenturen. Trotz ihres Status als Selbständige sind Modearbeiter/innen nicht nur gezwungen, den Entscheidungen ihrer Agenturen zu folgen, sondern sie dürfen selbst dann, wenn sie ihre Missbilligung zum Ausdruck bringen wollen, niemanden damit verärgern, ohne ihr Einkommen zu gefährden (241).  Networking, soziales Kapital (137),  informelle Elemente bestimmen die Beschäftigungsverhältnisse. Entlohnung findet gleichsam in  sozialem bzw. symbolischem Kapital statt, in Sichtbarkeit.

Système producteur de rêve (System Traumproduktion) lässt an die grosse Traumfabrik Hollywood, bzw. Filmbranche insgesamt denken. Es gibt einige Gemeinsamkeiten, etwa das Starsystem, Ansehen, Medienpräsenz und Schönheitsideale, Glamour, und einen verbreiteten Wunsch bzw Begehren, daran teilzuhaben.
Der Aufstieg zu einer emblematischen Wirtschaftsbranche vollzog sich spätestens in den 80er Jahren, dem Jahrzehnt der Yuppies und ihrer Obsession mit Marken. Aus der Popkultur wurde das ursprünglich  subkulturelle Konzept Coolness übernommen, ersetzte bzw. ergänzte traditionellere Vorstellungen von Schönheit: ehemals subkulturelle Werte wurden wirtschaftlich vereinnahmt. Coolness ist eine kulturelle Qualität, die Zuschreibung eines symbolischen Wertes, ein Persönlichkeitstypus, der performed werden muss. Mensitieri hebt eine tyrannie du cool hervor: Das ökonomische Überleben der einzelnen hängt davon ab, wie cool man ihn/sie findet.

Glamour Labor ist eine spezifische Form von  Arbeit – die Herstellung von Wahrnehmbarkeit und Sichtbarkeit, es ist „immaterielle Arbeit“,  die die informativen und kulturellen Aspekte eines Produkts erfordern; anderswo wird sie so beschrieben: Glamour labor is both the body work to manage appearance in person and the online image work to create and maintain one’s “cool” quotient—how hooked up, tuned in, and “in the know” one is. (vgl. Wissinger, s.u.):  Nebenbei: Es gibt wohl kaum einen verfügbaren kulturellen Code, egal, ob ethnischen oder subkulturellen Ursprungs, der nicht in der Mode verwertet wurde – kulturelle und wirtschaftliche Aneignung, die das derzeit diskutierte Blackfacing bei weitem übersteigt.
Eine Soziologie der Mode ist das Buch nicht. Die Darstellung der Lebenswelt Modebranche ist aber soweit in die  zeitgeschichtliche Entwicklung, speziell den postfordistischen Kontext,  eingebunden, dass die Linien nachvollzogen werden können. Den Bezug zur Auslagerung der Produktion (in sog. Billiglohnländer) kann man vermissen, auch teure Marken (nicht alle) lassen unter denselben prekären Bedingungen produzieren.
Die ethnographischen Studien der Autorin liegen bereits einige Jahre zurück, sind aber sehr wahrscheinlich immer noch aktuell. Mehr oder weniger ähnliche Lagen gibt es auch in anderen Creative Industries. Trotzdem kann man einige Tendenzen vermuten: Die grosse Zeit der Marken schwächt sich ab, schnelllebige Mode – fast fashion – steht zunehmend in der Kritik, ethische Valorisierung tritt zumindest häufiger hervor.

jetzt auch auf deutsch

Giulia Mensitieri: Das schönste Gewerbe der Welt. Hinter den Kulissen der Modeindustrie (dt.4/2021); Orig: Le plus beau métier du monde. Dans les coulisses de l’industrie de la mode (2018). Dt 4/2021: Das schönste Gewerbe der Welt. Hinter den Kulissen der Modeindustrie. Matthes & Seitz
Interview mit Maja Beckers »Es ist ein Geheimnis, das alle teilen und über das niemand spricht« – Spiegel +, 29.04. 2021. Vgl. auch : Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, 10/2017, 480 S.; Wissinger, Elizabeth. (2015)#NoFilter: Models, Glamour Labor, and the Age of the Blink. In J. Davis & Nathan Jurgenson (eds.) Theorizing the Web 2014 [Special Issue]. 



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