Zivilisation und Habitus in der Digitalen Consumer Culture

Vor einigen Wochen (27.09.) habe ich gemeinsam mit dem Zeithistoriker Massimiliano Livi ein von uns provisorisch so genanntes Mini-Online-Symposium zum Thema Zivilisations/-prozess in der digitalen Gesellschaft – Wandel in Technologie, Gesellschaft und dem individuellem Habitus – veranstaltet.
Sinn und Ziel der Veranstaltung war es, die auf Norbert Elias zurückgehende Zivilisationstheorie in aktuelle Diskussionen einzubringen und so Entwicklungen der letzten Jahrzehnte + der kommenden Jahre zu beleuchten. Wie sind der Wandel in Technologie, Gesellschaft und individuellem Habitus miteinander verbunden? – eine Fragestellung mit Belang für Zeitgeschichte, Zukunfts- und Transformationsdiskussion, Konsum- und Trendforschung u.v.m. In einem zweiten Beitrag ging es um die Frage, wie soziale Ordnung in der fragmentierten digitalen Gesellschaft des XXI. Jahrhunderts möglich ist.  Sind neu entstehende soziale Formationen tragfähig genug?
Zivilisation ist kein einmal erreichter Zustand, sondern im ständigen Wandel begriffen, der Zivilisationsprozess ein nie abgeschlossener, evolutionärer Prozess. Ungesteuert, aber doch von erkennbaren Faktoren beeinflusst und angetrieben. Bei Elias ging es um Wandlungsprozesse – heute würde man von Transformationen sprechen – der Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen: Soziogenese und Psychogenese, die langfristige Entwicklung von Gesellschaften.
Technogenese, die Co- Evolution von Technik und Gesellschaft, ist als Begriff ziemlich neu, tauchte erst seit 2012 auf. Technologische Innovationen sind keine isolierten Ereignisse, sie entstehen gesellschaftlich – und sind von der Kultur geprägt, die sie hervorgebracht hat. Auf Armin Nassehi geht die Aussage, dass sich Techniken nur dann durchsetzen, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen, zurück (vgl. Nassehi, 2019). Eine These, die ich seit längerem beobachte –  bisher nicht falsifiziert. Eine Frage ist, ob die erfolgreichen disruptiven Innovationen zwar ihre ökonomischen Vorgänger schnell verdrängen – aber eben deshalb erfolgreich sind, weil sie an neuere Dispositionen in der Gesellschaft anknüpfen?
Neue Technologien treffen oft auf laufende gesellschaftliche Transformationsprozesse. Sie werden (weiter-) entwickelt., wenn bereits eine Vorstellung davon vorhanden ist, was mit ihnen möglich ist (vgl. Stalder 2016, 21 ff). Warum hat sich das mobile Internet mit dem SmartPhone in kürzester Zeit weltweit verbreitet? Und warum wird es das Metaverse – zumindest in der Form, in der es gepusht wird, wahrscheinlich nicht – obschon  immersive Technologien sich stetig verbreiten?

Auf Elias, mehr aber noch auf Pierre Bourdieu (1930 – 2002; La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979, dt, Die feinen Unterschiede, 1984) geht auch das Konzept des Habitus zurück. Im jeweils spezifischen Habitus spiegelt sich die  Gesamtheit sozial vermittelter Persönlichkeit, erworben durch Herkunft,  Bildung und gesellschaftliche Rolle, erkennbar in Lebensstil, Kleidung, Sprache, Konsum, Auftreten und Verhalten. Elias beschrieb die Herausbildung des Habitus als Zivilisierung in den Oberschichten bis zum 19.Jh., Bourdieu seine Inkorporierung im franz. Bürgertum der 60er/70er Jahre und führte dabei Begriffe wie kulturelles und soziales Kapital ein. Beide beschreiben Prozesse und Muster mit exemplarischem Anspruch, deren empirischer Bezug aber schon länger zurückliegt.
Das “Mini- Symposium” – online- Seminare sind mittlerweile ein eingeführtes Format und einfach zu organisieren – war als erster Einstieg in eine Diskussion gedacht, eine Einladung an  Interessierte, wie die Konzepte von Elias und Bourdieu auf Wandel in aktuellen Gesellschaften angewendet werden können – als eine Art theoretisches Dach.

Eine Aktualisierung des Zivilisationsprozesses hatte zuerst der Amsterdamer Soziologe Cas Wouters seit den 70er Jahren  mit der Informalisierungsthese  formuliert. Gegenüber strikt regulierten Verhaltenscodes haben sich Selbststeuerung, eine Emanzipation der Emotionen, Variationsspielraum, die flexible Anwendung von Verhaltensregeln als neue Ideale einer bewußteren Steuerung durchgesetzt.
Der damals offensichtlich werdende Wandel fiel in die Spätzeit der Ära, die von Massenproduktion, Vollbeschäftigung, wachsender Teilhabe am Wohlstand geprägt war. In den Niederlanden kannte man das Modell der Verzuiling, im Deutschland der Sozialen Marktwirtschaft sprach man mitunter vom Nivellierten Mittelstand.  Grosse, stabile Organisationen prägten Wirtschaft und Gesellschaft. Medien waren v.a Massenmedien, Massentourismus hatte sich verbreitet. Diversity war noch kein Thema.

Wandel im Habitus: Verbreitung der Maxime Coolness

Der Wandel ging von den Rändern aus – Subkulturen, Counterculture, alternative Szenen. Die Wirtschaft öffnete sich zur sog. Künstlerkritik an der Entfremdung durch gleichförmige Tätigkeit. Werbung und Marketing vereinnahmten das Prinzip Coolness und Popkultur. Nicht mehr nur die legitime (Hoch-) kultur, wie bei Bourdieu, auch Popularkulturen bedeuteten kulturelles Kapital. Informalisierung ist mit Individualisierung verbunden, Selbstkontrolle wird mehr und mehr zum Selbstmanagement.

Entwicklungen, die sich über die letzten Jahrzehnte und Generationen hinzogen, bis sie die Gesellschaft durchdrungen haben. Etwas grob zusammengefasst, gingen Märkte und Selbstverwirklichungskultur eine Symbiose ein.  Das Ideal des sich selbst entfaltenden Individuums entstand, ein expressives Selbst, das nicht einfach Konventionen folgt – aber innerhalb des marktwirtschaftlichen Rahmens bleibt,  und – im Idealfalle – die  ökonomische Eigenverantwortung annimmt. Kreativität wurde als Ressource von Innovation und Fortschritt aufgewertet.

Consumer Culture wurde in den 90er und 0er Jahren formuliert: Social arrangement in which the relations between lived culture and social resources, between meaningful ways of life and the symbolic and material resources on which they depend, are mediated through markets² – eine Beschreibung von 2005, die wohl auch heute noch gültig ist, ergänzt als digital Consumer Culture in einer von einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur geprägten Lebens- und Arbeitswelt. Zwar stehen in den Diskussionen oft Nachhaltigkeit, das Maß persönlicher Autonomie und Kreativität am Arbeitsplatz, die Wahlmöglichkeiten der Lebensführung im Vordergrund – letztlich entscheidend bleiben die Märkte (auch Aufmerksamkeitsmärkte).

Allerdings kann Zivilisation auch einen Dreh nehmen: Gesamtheit der im Entwicklungsprozess erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten, die es der Gesellschaft ermöglicht, in der je spezifischen Art und Weise ihre Probleme zu lösen  – so lautet eine Definition von Zivilisation³, die Entscheidungen einbezieht – aber kaum verordnet werden kann, sondern überzeugt gelebt werden muss.

Ein entscheidender Wandel  liegt im Modell der Digitalität: Digital können Verknüpfungen viel einfacher  hergestellt werden, als in einer hierarchischen Pyramide. Digitalität ermöglicht Anschlussfähigkeit durch Adressierbarkeit, ein vielfältiges Matching. Warum nahm die sog. digitale Landnahme ausgerechnet ihren Ausgangspunkt in der Musikwirtschaft, über das Wissen  über die Verbindungen – wer sich für welche Musik interessiert, darüber verfügt und wer sie teilt? (vgl. Michael Seemann. Die Macht der Plattformen)
Soweit jetzt, Zivilisationsprozess und das Konzept des Habitus ermöglichen eine breite Sicht auf Zukunft, Wandel, Märkte und Konsum. Ich freue mich auf Feedback und eine Weiterführung der Diskussion..

Blogbeiträge mit Bezug zur Zivilisationstheorie:  Über den Prozess der Digitalisierung  – Machtbalance und Figuration Digitale Figurationen   Die grosse Transformation. Polanyi und die Digitalisierung, Digitaler Habitus, Was treibt die Zukunft an, Zivilisationsprozess continued, Zivilisations/-prozess in der digitalen Gesellschaft – ein Mini- Symposium
¹als Künstlerkritik wird die Kritik am Kapitalismus bezeichnet, die sich gegen Entfremdung im fordistischen Kapitalismus richtete, Freiheit, Autonomie, Sinn, Authentizität und Spaß einfordert; daneben steht die Sozialkritik, die sich auf Solidarität, Sicherheit und Gleichheit gründet und diese einfordert
² Eric J. Arnould, Craig J. Thompson 
In: Journal of Consumer Research, Volume 31, Issue 4, March 2005, Pages 868–882, ³ aus Lexikon der Soziologie 4. Auflage 2007

vgl.: Norbert Elias  Über den  Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und Psychogenetische Untersuchungen,  1938 u. 1969. Band 1 u. 2.  .Pierre Bourdieu: La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979, . dt: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 1984  Cas Wouters: Van Minnen en Sterven. Informalisering van omgangsvormen rond seks en dood. Amsterdam, 1990. Luc Boltanski & Ève Chiapello: Der Neue Geist des Kapitalismus. 1998 Thomas Frank: the conquest of cool. Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism. 1997. Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism. 1991/2007  Felix Stalder: Kultur der Digitalität. 2016



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