“Tribes” in der globalen Zivilisation

21/08/19 kmjan
Wenn es um neue, digitale Formen von Öffentlichkeit und Vergemeinschaftung geht, sind historische und archaische Sprachbilder immer wieder beliebt. So etwa das auf McLuhan zurückgehende Bild vom globalen Dorf, der digitale Salon und das digitale Lagerfeuer, verächtlich ist digitale Hordenbildung. Im neuen Buch von Christoph Türcke heisst es Digitale Gefolgschaft. Und immer wieder die tribale Metapher.
Neotribalismus, davon abgeleitet Digitaler Tribalismus, ist als Begriff seit längerem etabliert und geht auf den französischen Soziologen Michel Maffesoli zurück. In den Cultural Studies, von dort zu Netnographie, in die Marktforschung bis ins Tribal Marketing hat sich der Begriff verbreitet – und war hier im Blog schon mehrmals Thema (s. Stämme im Netz, Consumer Tribes, Tribes im Social Web). Darüber hinaus verbreitet sich der Begriff in einem erweiterten Sinne für gesellschaftliche und politische Strömungen auf der  Basis gefühlter gemeinsamer Identität.

Tribes? Bild: rclassen.photocase.de

Digitale Medien und die damit erweiterten Kommunikationsräume begünstigen zwar Bildung und Verbreitung solcher Tribes, sind aber nicht deren Auslöser. Grob gesagt, sind es  Formen von Vergemeinschaftung, die auf Individualisierung folgen. Letztere ist eine der Triebkräfte der nachlassenden Bindung an kollektive Identitäten und traditionelle, normsetzende Instanzen. In der industriellen Moderne dominierten grosse identitätsvermittelnde Organisationen mit einem Geflecht von Nebenorganisationen ihre Milieus – so etwa das gewerkschaftsnahe oder das katholische Milieu – oder auch grosse Unternehmen, die ganze Landstriche dominier(t)en. Bindungen an solche Milieus, Region und daran angepasste Arbeits- und Firmenkulturen prägten den Habitus. Neotribalismus füllt zumindest eine Lücke, die die schwindende Bindungskraft bis zum Substanzverlust grosser Organisationen (z. B. katholische Kirche, SPD) lässt.
Kein Zufall, dass sich gerade in popkulturellen Subkulturen, die neue öffentliche Kommunikation früh verbreitete.
Massimiliano Livi, Soziologe und Betreiber des Blog Tribes beschreibt Neotribalismus durchgehend als Metapher. Neo-Tribes sind informell, sie bestehen »in no other form but the symbolically and ritually manifested commitment of their members« (vgl. Livi, 2018). Vergemeinschaftung geschieht nicht aufgrund demographischer Merkmale, es sind “flüssige” Vergemeinschaftungen aufgrund von ästhetischen, emotionalen und manchmal auch von Konsum geprägten Bindungen. Menschen, die dieselben Lebensstrategien gewählt haben und dieselben Erfahrungen machen, suchen und leben ihre subjektive Identität in ähnlichen Mustern (Livi, 2017). 

Es gibt eine ganze Reihe von Konzepten, die sich mit dem der Neo- Tribes überschneiden.  Seit den 90er Jahren prägte Ronald Hitzler die nüchternere Bezeichnung Posttraditionale Vergemeinschaftungen und fasst sie so zusammen: “Gemeinsamkeit bzw. Übereinstimmung von Neigun­gen, Vorlieben, Leidenschaften und bestimmten, als ‚rich­tig’ angesehenen Verhaltensweisen” (2018). Cornelia Koppetsch stellt in “Die Gesellschaft des  Zorns” (162 – 168) v.a. die rechtspopulistischen  Neo- Gemeinschaften als Formen kollektiver Vergewisserung hervor.  Diese bieten einen moralischen Kompass, solidarische Bindungen und einen Gegenentwurf zur individualisierten Lebensführung (165).  Auch das wiederbelebte Konzept der Massen (Gebauer & Rücker, ) passt in diesen Rahmen, mit der Besonderheit, dass sich diese performativ – in der Aktion – zeigen.   Michael Seemann schließlich bringt Digitalen Tribalismus in Verbindung mit Fake News der Segregation der Öffentlichkeit in viele atomistische Suböffentlichkeiten und schliesst an den (eher umstrittenen) Aufsatz zu Memetic Tribes of Cultural War an. Christoph Türcke, emeritierter Philosophieprofessor in Leipzig, schlägt in eine andere Kerbe. Auch er bedient sich der Stammesmetapher: die Weltgesellschaft als Stammesgesellschaft mittels Telekommunikation. Skeptisch macht mich die These von einer suchtbasierten  Gefolgschaften globaler Plattformen (186), die  Abhängigkeit von Followern.  Google und Facebook stehen zu ihren Nutzern wie Dealer und Drogenabhängige. Da ist einiges gegenzusetzen: Plattformen haben viel Macht, aber nicht die alleinige Strukturierungsmacht. Das ist nicht alles in diesem Buch,  evtl. folgt eine Rezension.

Das Bild der Tribes/Stämme ist beliebt, lassen sich doch damit soziale Formationen in eine Perspektive bringen, die ansonsten kaum fassbar sind. Oft bestehen sie nur gefühlt.  Der Focus der Vergemeinschaftung kann ganz unterschiedlich sein: Schönes Beispiel ist etwa die Critical Mass, eine monatlich wiederkehrende Fahrraddemo, die Begeisterung für  Schokolade – genauso können es aber auch gemeinsame Ressentiments, der Glaube an Nachrichten, ob sie nun wahr oder falsch sind, sein. Menschen suchen Gemeinschaft dort, wo ihre Gedanken und Interessen anschlussfähig sind, sie emotional Resonanzen erleben können und wo sie Solidarität erleben.
Das Bild hat allerdings seine Grenzen, archaische Stämme können wohl sehr unterschiedlich, streng hierarchisch bis partizipativ  strukturiert sein, sie haben aber einen kaum beschränkten Zugriff auf die Person. Neo- Tribes sind kaum verpflichtend.  Stattdessen sind es allesamt mehr oder weniger fluide soziale Formationen innerhalb einer globalen Zivilisation mit imperialen Zügen. Das wird in der gesamten Diskussion kaum thematisiert.  Auch wenn sie diese Zivilisation ablehnen, existieren sie doch in deren technischer und sozialer Infrastruktur.  Es gibt zwar unzählige atomistische Suböffentlichkeiten, aber es sind eben nur Teil- Öffentlichkeiten.

 

Christoph Türcke: Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft    Verlag C.H. Beck, München 2019.  250 S.  –  Massimiliano Livi: Neo-Tribes und TrIBES: Eine Einführung (2018) . Neotribalismus als Metapher und Modell. Konzeptionelle Überlegungen zur Analyse emotionaler und ästhetischer Vergemeinschaftung in posttraditionalen Gesellschaften. In: Archiv für Sozialgeschichte 57, 2017,  S. 365 – 383. – Michael Seemann: Memetischer Tribalismus – atomistische Suböffentlichkeiten im digitalen Kulturkampf. Peter N. Limberg & Conor Barnes: The Memetic Tribes Of Culture War 2.0. How their rise made in-fighting the norm — and how we can navigate the resulting culture war



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