The Metaverse – And How It Will Revolutionize Everything (Rez.)

Im März hatte ich mich zum ersten Male intensiver mit dem Metaverse befasst. Einer der wichtigsten Informationsquellen (neben den weiteren unten genannten) war der Blog von Matthew Ball, eine Art Sammlung von Essays aus denen das jetzt erschienene Buch The Metaverse – And How It Will Revolutionize Everything  entstand. Der Titel setzt einen Anspruch als Standardwerk und schaffte es auf die Titelseite von Time Magazine (8/8/22).  In Kürze (30.9.) ist  eine deutsche Übersetzung angekündigt.

The Next Internet? Eine neue Stufe technischer Evolution nach dem PC,  dem Internet, dem mobilen Netz, der Cloud?  So ist die Vorstellung vom Metaverse – von dem viel gesprochen und geschrieben wird, das es aber noch gar nicht gibt. Eine  best- mögliche,  etwas sperrige Definition hatte Ball bereits vorab (vgl. Metaverse- …) vorgelegt: The Metaverse is a massively scaled and interoperable network of real-time rendered 3D virtual worlds which can be experienced synchronously and persistently by an effectively unlimited number of users with an individual sense of presence, and with continuity of data, such as identity, history, entitlements, objects, communications, and payments (29).
Synchronisierte Online- Erfahrungen/Shared Experiences (48) sind entscheidendes Merkmal, wie ein zukünftiges Metaverse erlebt werden soll. Die Bereitstellung einer ununterbrochenen Verbindung, die jedem Teilnehmer eine grosse Menge an Daten ohne spürbare Latenzen übermittelt, ist dabei die grösste technische Herausforderung. Das (heutige) Internet basiert auf dem Abruf statischer Kopien von Nachrichten und Dateien vom Server. Das funktioniert bis dahin erstaunlich gut, selbst beim  Streaming. Online- Konferenzen vermitteln  in gewissem Maße Shared Experiences, beruhen aber auf Software- Lösungen (vgl. 51).
Es gibt weitere Definitionen und Beschreibungen, mir gefällt etwa die Vision als Collective Virtual Open Space: The Metaverse is a collective virtual open space, created by the convergence of virtually enhanced physical and digital reality. It is physically persistent and provides enhanced immersive experiences¹. Carsten Rossi vom BVDW (Bundesverband Digitale Wirtschaft) nannte in einem Podcast- Interview die Vision von Metaverse als dezentrales, interoperables, beständiges, mit allen Sinnen wahrnehmbares digitales  Ökosystem mit unbegrenzter Nutzerkapazität. Einfacher ist The Sum total of all publicly accessible virtual worlds². Ganz knapp nennt es die Agentur Bandara aus Zürich das begehbare Internet.

Das Buch ist übersichtlich angelegt, gut geschrieben, dicht in Informationen, Beobachtungen und Insights. Drei Teile:  Part I und II What is/ Building the Metaverse – Part III heisst genauso wie der Titel des gesamten Buches- sind in insgesamt 15 Kapitel, diese wiederum in übertitelte Abschnitte von 2-3 Seiten unterteilt. Kapitel und Abschnitte schliessen einander an, lassen sich aber oft  wie  einzelne Essays lesen.

Es geht um so ziemlich alles, was das Metaverse betrifft: Start ins Thema ist eine History of the Future – voran dabei  die namensgebende Dystopie von Neal Stephenson (1992). Die Entwicklungsgeschichte der  digitalen Technologien wird aufgerollt, Vorläufer und Proto- Metaverses beschrieben: das zeitweilig fast vergessene, aber immer noch bestehende Second Life,  von den neueren Plattformen werden immer wieder Roblox und Fortnite herangezogen. Es geht um die Entwicklung von Hardware, die Zugang zum Metaverse ermöglicht und den Wettbewerb der GAFAM- Konzerne dabei  (141ff).  Zur Hardware kommt die Infrastruktur:  Netzwerke die Streaming, Real- Time Rendering (36) leisten können. Die aktuelle Infrastruktur wäre  gar nicht dazu in der Lage, die Anforderungen an Bandbreite und Datenmengen zu erfüllen, die im Metaverse erforderlich wären.
Web3 incl. Blockchain (207ff), NFTs (Non fungible Tokens) DAO(Decentralized Autonomous Organisations) und Smart Contracts wird oft mit dem Metaverse als Einheit gesehen.  Ball nennt beide Successor States (58) des (bestehenden) Internet, sie bedingen einander aber nicht. Web3 erfordert nicht 3D, real-time rendering und synchronisierte Experiences, das Metaverse benötigt keine Blockchain – beim Web3 geht es darum, wer das Internet der Zukunft kontrolliert, beim Metaverse darum, wie es erlebt wird.
Interoperabilität (121-140) und Persistenz (44ff) sind Schlüsselbedingungen.  Letzteres bedeutet die Dauerhaftigkeit bzw. Beständigkeit der Bereithaltung von Daten – etwa, wenn ein virtuelles Gebäude errichtet wurde, soll es auch stehen bleiben und betreten werden können. Interoperabilität meint die durchgängige  plattformübergreifende Zugänglichkeit. Im miteinander verbundenen virtuellen Raum sollen übergreifende Nutzungserfahrungen gemacht werden können. Video- Games z.B. existieren nur für sich, sind nicht miteinander integriert.
Ein Aspekt kommt höchstens am Rande vor: Der Energiehunger des Metaverse. Das Metaverse wird nur dann “das Metaverse” werden, wenn es möglich wird, dass eine grosse Anzahl von Nutzern gleichzeitig ohne grössere Nutzungseinschränkungen dasselbe Event  zur selben Zeit erleben kann (57). Real-time Interaktion, Bereitstellung dauerhafter Echtzeit-Verbindungen, hohe Bandbreite,  bringt einen immensen Energieverbrauch mit sich – dafür müssen akzeptable Lösungen gefunden werden. Bitcoin, die erste weiter verbreitete Blockchain- Anwendung, brachte ein Energieverbrauch in der Grössenordnung ganzer Volkswirtschaften,  in Verruf.

Das Metaverse wird das bestehende Internet nicht ersetzen, es baut darauf auf und wird es nach und nach transformieren. Ein Vergleich dazu, wie sich das heutige Internet zu der Infrastruktur entwickelt hat, die es heute ist, drängt sich auf. Das Metaverse wird ähnlich transformativ sein – man denke nur daran, wie sehr sich z. B. Beschaffenheit von Öffentlichkeit verschieben würde/wird.
Metaverse und Web3 sind heute in einem sehr frühen Stadium und werden wahrscheinlich ganz anders aussehen, als wir es uns heute vorstellen. Die Idee des Metaverse bedeutet für Ball an ever-growing share off our lives, leisure, time, wealth, happiness, and relationships will be spent inside virtual worlds (17). Wird tatsächlich (irgendwann) eine Dichte und Flexibilität der physischen Welt erreicht? Werden wir wirklich mit klobigen Headsets in den virtuellen Teil der Wirklichkeit eintreten? In der Frühzeit des Internet sprach man vom Cyberspace, einem von der realen Welt getrennten virtuellen Raum – heute wird das mobile Internet kaum als parallele Welt wahrgenommen, sondern als Übertragungstechnik, die Zugänge und Verbindungen erleichtert.

How it will affect the world around us and the policies we’ll need to shape its impact (289) heisst es am Ende von Chapter 14. Es liegt im Zusammenwirken von Entwicklern, Investoren, Regulierern/ Governance, aktiven Nutzern, aber auch eher passiven Konsumenten, in welche Richtung sich die Zukunft des Internet/ Metaverse entwickelt. Das Konzept Technogenese – der Prozess der  parallelen Entwicklung, der Co- Evolution  von  Technik und Gesellschaft – bedeutet, dass nicht nur technische Neuerungen gesellschaftlich verändernd wirken, genauso wirken sich gesellschaftliche Kräfte auf die Ausformungen von Technik aus. Technische Möglichkeiten werden ausgetestet, nehmen aber dann die Form an, in der sie akzeptiert werden. Techniken setzen sich nur dann durch, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen (vgl. Nassehi).
Der aktuelle Hype ist corporate driven, gefolgt von Dienstleistern + Metaverse Erklärern. Ein Wettlauf von Investoren, Ball nennt es den Coming Fight to Control the Metaverse,  in dem es  darum geht,  Standards zu schaffen.  World building, digitale Landnahme heisst es anderswo. Neben den Online- Giganten Facebook/Meta, Microsoft, Apple, Google sind Marken wie Nike, BMW, Gucci engagiert. Der Antrieb in erster Linie kommerziell, mit dem Vorreiter der Games- Industrie, gefolgt von virtuellen Flagship- Stores. Im  Kapitel Meta Businesses (250 ff) skizziert Ball  mögliche Geschäftsfelder wie Bildung / Education, Dating und Lifestyle Businesses, wie Fashion & Advertising, Entertainment, zwei Seiten auch zu Sexwork.

The Metaverse – And How … ist  wahrscheinlich ein bestmögliches Buch zum Thema. Ein kompaktes Buch um  sich einen Überblick zu den technischen Voraussetzungen und den Möglichkeiten zu verschaffen, ein Blick in den Wandel digitaler Zivilisation.  Der übersichtliche Aufbau, die ausführlichen Notes und der detaillierte Index machen es leicht, zu jedem Einzelthema nachzuschlagen, quer zu lesen. Ball setzt Marker, wie etwa Shared Experiences und hält die Balance zwischen der Begeisterung für neue Möglichkeiten, einer nüchternen Agenda und gelegentlich auftauchender Skepsis.
Wer Bücher lieber auf deutsch liest, braucht nicht lange warten, die deutsche Ausgabe ist für den 30.9. angekündigt  – und wird wahrscheinlich eine ganze Reihe von Rezensionen nach sich ziehen.
Einen Satz, der in der Diskussion zu Metamodernism fiel, will ich ans Ende stellen: We need a vision of progress and a grand narrative about why it all matters.

Matthew Ball: The Metaverse. And How it Will Revolutionize Everything, 2022, 522 S.
Dirk Songuer: Fieldnotes from the Metaverse; ² Dirk Songuer nach Toni Parisi — ¹von: gartner.com   L. M. Sacasas: Notes From the Metaverse. The Convivial Society: Vol. 2, No. 16: Thomas Riedel: Metaverse-Podcast
Katharina Spiegel 321/2022: Sie macht 11.000 Euro im Monat – mit Mode im Metaverse

 

 



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