Singulärer- vs. Massenkonsum

Aldi in der Markthalle Neun

17/09/20 kmjan
In der Markthalle Neun in Berlin – Kreuzberg gibt es das passende Bild: Mittendrin im foodporn der Markthalle steht eine ALDI Filiale, geradezu eingekapselt im Container.  Markthalle Neun ist ein geradezu iconisches Projekt der neuen Esskultur – mit allem was dazugehört: CraftBeer, Vin Naturel, die Metzgerei Kumpel & Keule, Patisserie fine, Pizza & Focaccia, Ethno-Food aus Peru, Marokko, eine Maultaschenmanufaktur – kaum irgendwo passt der Spruch vom Essen als dem Neuen Pop besser als hier. Sicherlich deutlich teurer als beim Discounter, ein 1 1/2  Pfund Brotlaib zu 5 € ist kaum noch Grundnahrungsmittel. Verglichen mit echten Luxusmeilen bleiben die Preise aber moderat.
Wahrscheinlich überschneiden sich beide Kundenkreise viel mehr, als es zunächst erscheint – auch Hipster kaufen beim Discounter ein.
Sichtbar wird die Trennlinie zwischen zwei Konsummustern: Beim Discounter  preisoptimiert bis ins letzte Detail, von den Lieferketten bis zur Ablage im Regal. In die Markthalle geht man – insbesondere an den Streetfood– Abenden – wie in einen Club. Ein Konzept, das Handel und Gastronomie verbindet. Bei allen Lebensmitteln die grösstmögliche Auswahl – in der Saison zehn Sorten Kartoffeln oder Tomaten. Handwerklich produzierter Käse, Wein und Bier, Öl und Essig, Brot und Pasta in allen Varianten.

Singulärer Konsum?

Der Unterschied zwischen singulärem–  und Massenkonsum zeigt sich bei Lebensmitteln besonders deutlich. In der Fläche verschwinden die handwerklichen Bäckereien und Metzgereien, die noch vor ein, zwei Jahrzehnten zur Grundversorgung gehörten. Stattdessen breiten sich Backstationen und Grillfleisch aus Massentierhaltung in der Kühltheke  aus – industriell vorgefertigt bzw. im industriellen Maßstab erzeugt.  Handwerklich erzeugte Lebens- und Genussmittel bedeuten (meist) höhere Qualität. Wissen darüber ist oft Angelpunkt von Kommunikation, nicht zuletzt bildeten sich um Kaffee, Schokolade, Craftbeer frühe online- Communities.

Begrifflichkeiten zu Singularitäten stammen von Andreas Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten –  die Ausführungen im Buch sind anschlussfähig an Themen und Diskussionen, die zu Konsum und Marketing einer  Experience Economy  geführt werden.
Die spätmoderne Ökonomie ist mehr und mehr an singulären Dingen, Diensten und Ereignissen ausgerichtet, und die Güter, die sie produziert, sind zunehmend solche, die nicht mehr rein funktional, sondern auch oder allein kulturell konnotiert sind und affektive Anziehungskraft ausüben. (Reckwitz, 2017, S. 7)

Was für den Lebensmittelmarkt gilt, findet man ebenso in anderen Märkten. Massengüter werden über Baumärkte, Textilketten, Möbelhäuser etc. – online und offline  verkauft – alle diese Märkte sind hochkonzentriert mit nur wenigen Akteuren.  Traditionelle Fachgeschäfte in den Innenstädten und Kaufhäuser verschwinden hingegen immer mehr.
Singularisierter Konsum bedeutet kulturell valorisierten Konsum. Dahinter findet sich der Wunsch nach Authentizität, sicherlich ein Bedarf an Distinktion, im weiteren spielen Kriterien der Nachhaltigkeit eine wachsende Rolle. Das bedeutet u.a. die Nachvollziehbarkeit von Produktions- und Lieferketten, z.B. in der Textilproduktion vom Anbau der Baumwolle über alle Verarbeitungsschritte von Garnen und Stoffen zu Labeling und Verkauf.
Kulturell valorisierter Konsum kann Formen von Vergemeinschaftung bedeuten, flüssige Vergemeinschaftungen = Tribes, die auf gemeinsamer Ästhetik bzw. Überschneidungen im Lebensstil beruhen. Als Fans begehrter bis bewunderter Güter (das gelang Apple lange Zeit),  oder in einer Form, in der Erzeuger, Handel und Konsumenten so sehr miteinander vernetzt sind, dass sie sich als Gemeinschaft bzw. Community verstehen.

Infrastrukturen des Besonderen

Massenproduktion standardisierter Produkte entspricht der Technologie der industriellen Moderne.  Je grösser die Produktion, desto niedriger die Stückkosten. Wachstum und Wohlstand beruhten lange Zeit darauf, die  gesamte Gesellschaft mit diesen Gütern auszustatten.
Die digitalen Technologien der Spätmoderne bringen ganz neue Möglichkeiten der Produktion und der  Bereitstellung von Dienstleistungen mit sich. Reckwitz schreibt von „Infrastrukturen des Besonderen“, gemeint sind die Möglichkeiten Einzigartigkeit sichtbar zu machen und sie automatisiert zu fabrizieren (2017; S. 73).
Datengetriebene Geschäftsmodelle beruhen auf diesen Möglichkeiten automatisierter Personalisierung. Und ganz sicher ist die Möglichkeit, Güter und Dienstleistungen personalisiert in Serien bereitzustellen, eine der entscheidenden Grundlagen digitaler Ökonomie. KI braucht dafür die Daten, möglichst viele.
Zumindest weitgehend, überschneidet sich dies mit dem Ansatz der Experience Economy bzw. Erlebnisökonomie, in der es im Wettbewerb um Aufmerksamkeit vorrangig darum geht, Erfahrungen zu inszenieren, reibungslose Erlebnisse zu vermitteln.  Kunden sollen in den entscheidenden Mikro-Momenten datengesteuert mit relevanten, personalisierten Inhalten angesprochen werden (vgl. WuV 13.05.20).
Experience Economy hat einen Beigeschmack – den eines tendenziell übergriffigen Marketing. So heisst es gleich zu Beginn des Standardwerks  if you get customers to spend more time with your business then they will spend more money on your offerings. Ein Satz wie Work is theatre and every business a stage – mag wohl oft genug zutreffen,  eine solche Haltung widerspricht sich aber mit Erwartungen an Authentizität.
Salopp gesagt eine Trigger- Ökonomie, in der Unternehmen sich als Vermittler von Erlebnissen einrichten. Das kann oft gelingen, etwa bei Sportartikelherstellern, im Tourismus. Allerdings wollen wohl die meisten Menschen ihre Erlebnisse und Erfahrungen selber machen – sie wollen zuverlässige, gute und authentische Produkte, aber nicht in einem Erlebnispark mit begehbaren Marketingkonzepten leben. Wer selber kocht, will gute Lebensmittel und Küchenwerkzeuge – aber wohl keine Vermittlung von Convenience Produkten.

Online und Offline ist keine Trennlinie zwischen den Konsummustern – es werden alle auf beiden Wegen vermarktet. Dass Erlebnisse entscheidend sind, keine Frage. Auch Wochenmärkte mit vielfältigen Angeboten sind urbane Attraktionen. Ursprungsmuster stammen von der sog. Creative Economy:   „Für die Güter der creative economy gilt, dass sich das klassische ökonomische Dreieck von Produzent, Produkt und Konsument nun in jene Trias von Autor, Werk und Rezipient/Publikum verwandelt hat, wie man sie aus dem Feld der Künste kennt” (Reckwitz., 117).

P.S.: Das Bild in der Markthalle entstand im Herbst 2019 – damals stand ein Pächterwechsel zu dm- Markt in der Diskussion  

vgl.: Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Oktober 2017, 480 S. ISBN: 978-3-518-58706-5. Interviews in: Die Zeit, 4.10. 2017 u. FAZ am Sonntag, 22.10.2017  + Rezension —- Experience Economy: Ohne Daten geht es nicht.  WuV 13,.05.20  — Pine, J. & Gilmore, J. The Experience Economy, Competing for Customer Time, Attention, and Money  Neuauflage 12/ 2019



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