Handwerkliches Essen in der digitalen Welt

9/03/16 kmjan

Consocials

Essen und Trinken sind  – zumindest in diesem Teil der Welt –  von der Not satt zu werden befreit. Verfügbar ist alles, was der Markt verlangt – von jeder Herkunft, in allen Qualitätsstufen und Preisklassen.
Die längste Zeit waren Essen und Trinken von den Jahreszeiten und regionalen Traditionen bestimmt. Das Wissen um Eigenschaften, Erzeugung und Verarbeitung der Lebensmittel ist ein kultureller Schatz der von Generation zu Generation weitergegeben wurde. In den letzten Jahrzehnten kam globale Vielfalt hinzu, neue Zubereitungstechniken und die Experimentier- freude mit den neuen Möglichkeiten.
Essen und Trinken wird damit Trends und Moden stärker ausgesetzt, wird zu einem Teil des persönlichen Lebensstils, der genauso nach außen gezeigt wird wie Mode oder Musikgeschmack. Genuß, Gesundheit, Werte wie Nachhaltigkeit, Tierschutz, fairer Handel, und die Bereitschaft angemessene Preise zu zahlen, spielen dabei eine Rolle.
Essen und Trinken sind ein “zentrales Thema der urbanen Alltagskultur“*, weniger auf der HighEnd Ebene der Sterneküche, mehr in den alltäglichen Genüssen: der Qualität von Brot, Gemüse und Fleisch, von Kaffee und Bier, hervorragendem Speiseeis, in der Patisserie und bei der Schokolade –  und dem nun Streetfood genannten Fastfood mit Burgern, Ethno- Food, handgeschnitzten Fritten und einer erneuerten Currywurst.

Vitelottes und Bamberger Hörnchen, handgeschnitzte Fritten

Industrielle Produktion sorgt für stabile Versorgung mit Nahrungsmitteln bei standardisierten Qualitäten zu vergleichsweise niedrigen Preisen. Deutschland ist dabei das Land mit dem härtesten Preiskampf. Ein grundlegendes Muster findet sich immer wieder: Vormals zumeist handwerklich verarbeitete Lebensmittel werden von wenigen industriellen Anbietern dominiert – dazu zählen auch Vorprodukte wie Teiglinge, Backmischungen oder Reinzuchthefen. Sorten- und Geschmacksvielfalt geht dabei verloren. Das gilt für zahllose Produkte – auch die Brot- und die Bierkultur mit Reinheitsgebot, auf die man in Deutschland so stolz ist.
Gegenbewegungen gibt es seit langem. Unter dem Vorzeichen genußorientierter Nachhaltigkeit (z.B. Slowfood), in stark vernetzten Szenen, die sich mit Leidenschaft  einem Produkt widmen – gelegentlich als Foodies oder Genußhipster (diese Begriffe haben sich nicht weiter durchgesetzt) bezeichnet. Auch dort kann man immer wieder ein Muster erkennen: Erzeuger, Betreiber und Gründer von Restaurants und Läden, Blogger, Kunden eignen sich Wissen an, sind online und offline vernetzt und verstehen sich als Gemeinschaft, die die Begeisterung für die Produkte teilt. Das entspricht dem Modell der Vergemeinschaftung der Tribes.

Dry aged beef

Die Fleischindustrie mit Massentierhaltung ist ein eigenes ethisches Thema, das immer wieder in die öffentliche Diskussion drängt. Brathähnchen zu 2,98 oder ein 1,- € Kotelett können weder nach akzeptablen ethischen wie Qualitätsmaßstäben produziert werden. Fleischkultur bedeutet bewussten Genuß mit höherer Qualität. Sie beginnt mit artgerechter und gesunder Aufzucht, verlangt handwerkliches Wissen vom richtigen Schnitt, zu Reifungsmethoden wie Dry Aged Beef und von der weiteren Fleisch- und Wurstverarbeitung. Dazu gehört die vollständige Verarbeitung des Tieres – nose-to-tail-eating – einschließlich der Innereien.

Trend CraftBeer

Kaum ein anderer Trend zeigt sich derzeit so deutlich wie CraftBeer – das handwerklich gebraute Bier. Ein Trend, der Deutschland erst mit einiger Verspätung erreicht hatte, wahrscheinlich wegen der vergleichsweise hohen Qualität deutscher Standardbiere. Craft Beer bedeutet Biere mit eigenem Charakter.  Mit dem Trend kamen neue Bierstile, wie Indian Pale Ale (IPA), säuerliche Vergärungen nach Art der Brüsseler Gueuze, Fruchtbiere nach belgischem Muster u.v.m.  Es sind oft Sorten mit höherer Stammwürze und damit höherem Alkoholgehalt und es wird viel experimentiert: mit verschiedenen Hopfensorten, Reifung in Barriques, manchmal gewagten Zusätzen (z.B. Obstschnaps, Koffein). Mehr und mehr entstehen auch thekenfähige Versionen mit moderatem Alkoholgehalt.

Essen ist der neue Pop – eine in letzter Zeit wiederholt aufgestellte These: Wer vor dreißig Jahren eine Punkband gegründet hätte, macht heute eine Küchencrew auf. Der Koch als der neue DJ? In der Tat erinnern manche Restaurants an Clubs, bedienen sich Gastro- und Weinkritiker an Popmetaphern. Popmusik war jahrzehntelang ein entscheidender Begleiter von Jugendkulturen und vermittelte immer wieder neue Stimmungen und Erfahrungen. Pop ist heute zwar allgegenwärtig und zitierfähig, die Leitfunktion als Treiber und Ausdruck von Lebensgefühl scheint aber vakant – in einer Gesellschaft, in der höchstens die Großeltern nicht mit Popmusik aufgewachsen sind. Geschmack kann genauso wie Klänge Empfindungen auslösen, macht Stimmungen fassbar, man denke nur an den Effekt der Madeleine bei Marcel Proust. Ein guter Koch bespielt die Geschmacksnerven seiner Gäste.

Was hat die Neue Esskultur mit dem digitalen Wandel zu tun? Zum einen zeitliche und örtliche Nähe. Einige Epizentren liegen nicht zufällig nahe den technologischen Hubs an der amerikanischen West- und Ostküste, oft gibt es personelle Überschneidungen und einen ähnliche Experimentierfreude. Die Einflüsse sind global, regionale und lokale Traditionen spielen aber eine große Rolle.  Italienische Kaffeekultur, belgische (manchmal auch deutsche) Bierkultur standen Pate, Frankreich ist Ausgangspunkt des Vin naturel. Erlebbar ist die Neue Esskultur denn auch in den hippen urbanen Bezirken der digitalen Zentren – mit Ausstrahlung in die Sterneküche.
Das Internet erleichtert die Kommunikation und auch die Vermarktung individualisierter Manufakturwaren: so ist es jetzt z.B. einfacher 10 verschiedene Pfeffersorten zu beziehen. Ein Lebens- und Konsumstil genußorientierter Nachhaltigkeit zeigt sich auch bei anderen Themen.
Selbstverständlich reagieren auch die großen Unternehmen auf neue Trends. Die Marktmacht der Großen v.a. bei Kaffee und Bier wird von Microbrauereien und -röstern kaum angestastet, wirkt sich aber auf deren Angebote aus. Man betrachte das Kaffeeangebot in einem Supermarkt und rufe die Erinnerung ca. 15 Jahre zurück. Anderereits werden Konzentrationsprozesse nicht gleich umgekehrt: Handwerkliche Bäckereien, früher in jedem Dorf und jedem Stadtteil zu finden, werden zu etwas besonderem, Tipps zu Sauerteigbrot und krossen Brötchen nun als solches weitergegeben. Trotz der Trends der Microbrauereien schließen immer wieder auch regional gut verankerte kleine Brauereien.
Was bleibt: Wer einmal guten Geschmack entdeckt hat, wird sich nicht mehr mit schlechtem zufrieden geben. Und wir lieben alle die Geschichten, die uns gutes Essen und Trinken erzählen.

*- so Clemens Niedenthal auf tip.de; Dem Text liegen Gespräche  mit Fleischbotschafter Thomas Müller und Alexander Krause, der in Kürze den Online- Shop kostreich.de mit ausschließlich handwerklichen Erzeugnissen deutscher Provenienz eröffnet. Im weiteren aus Ergebnissen der Vegan- Netnographie von Juli 2015, auf anderen Gesprächen und Eindrücken bei Verkostungen etc. 

 




SideMenu