The Metaverse – And How It Will Revolutionize Everything (Rez.)

Im März hatte ich mich zum ersten Male intensiver mit dem Metaverse befasst. Einer der wichtigsten Informationsquellen (neben den weiteren unten genannten) war der Blog von Matthew Ball, eine Art Sammlung von Essays aus denen das jetzt erschienene Buch The Metaverse – And How It Will Revolutionize Everything  entstand. Der Titel setzt einen Anspruch als Standardwerk und schaffte es auf die Titelseite von Time Magazine (8/8/22).  In Kürze (30.9.) ist  eine deutsche Übersetzung angekündigt.

The Next Internet? Eine neue Stufe technischer Evolution nach dem PC,  dem Internet, dem mobilen Netz, der Cloud?  So ist die Vorstellung vom Metaverse – von dem viel gesprochen und geschrieben wird, das es aber noch gar nicht gibt. Eine  best- mögliche,  etwas sperrige Definition hatte Ball bereits vorab (vgl. Metaverse- …) vorgelegt: The Metaverse is a massively scaled and interoperable network of real-time rendered 3D virtual worlds which can be experienced synchronously and persistently by an effectively unlimited number of users with an individual sense of presence, and with continuity of data, such as identity, history, entitlements, objects, communications, and payments (29).
Synchronisierte Online- Erfahrungen/Shared Experiences (48) sind entscheidendes Merkmal, wie ein zukünftiges Metaverse erlebt werden soll. Die Bereitstellung einer ununterbrochenen Verbindung, die jedem Teilnehmer eine grosse Menge an Daten ohne spürbare Latenzen übermittelt, ist dabei die grösste technische Herausforderung. Das (heutige) Internet basiert auf dem Abruf statischer Kopien von Nachrichten und Dateien vom Server. Das funktioniert bis dahin erstaunlich gut, selbst beim  Streaming. Online- Konferenzen vermitteln  in gewissem Maße Shared Experiences, beruhen aber auf Software- Lösungen (vgl. 51).
Es gibt weitere Definitionen und Beschreibungen, mir gefällt etwa die Vision als Collective Virtual Open Space: The Metaverse is a collective virtual open space, created by the convergence of virtually enhanced physical and digital reality. It is physically persistent and provides enhanced immersive experiences¹. Carsten Rossi vom BVDW (Bundesverband Digitale Wirtschaft) nannte in einem Podcast- Interview die Vision von Metaverse als dezentrales, interoperables, beständiges, mit allen Sinnen wahrnehmbares digitales  Ökosystem mit unbegrenzter Nutzerkapazität. Einfacher ist The Sum total of all publicly accessible virtual worlds². Ganz knapp nennt es die Agentur Bandara aus Zürich das begehbare Internet.

Das Buch ist übersichtlich angelegt, gut geschrieben, dicht in Informationen, Beobachtungen und Insights. Drei Teile:  Part I und II What is/ Building the Metaverse – Part III heisst genauso wie der Titel des gesamten Buches- sind in insgesamt 15 Kapitel, diese wiederum in übertitelte Abschnitte von 2-3 Seiten unterteilt. Kapitel und Abschnitte schliessen einander an, lassen sich aber oft  wie  einzelne Essays lesen.

Es geht um so ziemlich alles, was das Metaverse betrifft: Start ins Thema ist eine History of the Future – voran dabei  die namensgebende Dystopie von Neal Stephenson (1992). Die Entwicklungsgeschichte der  digitalen Technologien wird aufgerollt, Vorläufer und Proto- Metaverses beschrieben: das zeitweilig fast vergessene, aber immer noch bestehende Second Life,  von den neueren Plattformen werden immer wieder Roblox und Fortnite herangezogen. Es geht um die Entwicklung von Hardware, die Zugang zum Metaverse ermöglicht und den Wettbewerb der GAFAM- Konzerne dabei  (141ff).  Zur Hardware kommt die Infrastruktur:  Netzwerke die Streaming, Real- Time Rendering (36) leisten können. Die aktuelle Infrastruktur wäre  gar nicht dazu in der Lage, die Anforderungen an Bandbreite und Datenmengen zu erfüllen, die im Metaverse erforderlich wären.
Web3 incl. Blockchain (207ff), NFTs (Non fungible Tokens) DAO(Decentralized Autonomous Organisations) und Smart Contracts wird oft mit dem Metaverse als Einheit gesehen.  Ball nennt beide Successor States (58) des (bestehenden) Internet, sie bedingen einander aber nicht. Web3 erfordert nicht 3D, real-time rendering und synchronisierte Experiences, das Metaverse benötigt keine Blockchain – beim Web3 geht es darum, wer das Internet der Zukunft kontrolliert, beim Metaverse darum, wie es erlebt wird.
Interoperabilität (121-140) und Persistenz (44ff) sind Schlüsselbedingungen.  Letzteres bedeutet die Dauerhaftigkeit bzw. Beständigkeit der Bereithaltung von Daten – etwa, wenn ein virtuelles Gebäude errichtet wurde, soll es auch stehen bleiben und betreten werden können. Interoperabilität meint die durchgängige  plattformübergreifende Zugänglichkeit. Im miteinander verbundenen virtuellen Raum sollen übergreifende Nutzungserfahrungen gemacht werden können. Video- Games z.B. existieren nur für sich, sind nicht miteinander integriert.
Ein Aspekt kommt höchstens am Rande vor: Der Energiehunger des Metaverse. Das Metaverse wird nur dann “das Metaverse” werden, wenn es möglich wird, dass eine grosse Anzahl von Nutzern gleichzeitig ohne grössere Nutzungseinschränkungen dasselbe Event  zur selben Zeit erleben kann (57). Real-time Interaktion, Bereitstellung dauerhafter Echtzeit-Verbindungen, hohe Bandbreite,  bringt einen immensen Energieverbrauch mit sich – dafür müssen akzeptable Lösungen gefunden werden. Bitcoin, die erste weiter verbreitete Blockchain- Anwendung, brachte ein Energieverbrauch in der Grössenordnung ganzer Volkswirtschaften,  in Verruf.

Das Metaverse wird das bestehende Internet nicht ersetzen, es baut darauf auf und wird es nach und nach transformieren. Ein Vergleich dazu, wie sich das heutige Internet zu der Infrastruktur entwickelt hat, die es heute ist, drängt sich auf. Das Metaverse wird ähnlich transformativ sein – man denke nur daran, wie sehr sich z. B. Beschaffenheit von Öffentlichkeit verschieben würde/wird.
Metaverse und Web3 sind heute in einem sehr frühen Stadium und werden wahrscheinlich ganz anders aussehen, als wir es uns heute vorstellen. Die Idee des Metaverse bedeutet für Ball an ever-growing share off our lives, leisure, time, wealth, happiness, and relationships will be spent inside virtual worlds (17). Wird tatsächlich (irgendwann) eine Dichte und Flexibilität der physischen Welt erreicht? Werden wir wirklich mit klobigen Headsets in den virtuellen Teil der Wirklichkeit eintreten? In der Frühzeit des Internet sprach man vom Cyberspace, einem von der realen Welt getrennten virtuellen Raum – heute wird das mobile Internet kaum als parallele Welt wahrgenommen, sondern als Übertragungstechnik, die Zugänge und Verbindungen erleichtert.

How it will affect the world around us and the policies we’ll need to shape its impact (289) heisst es am Ende von Chapter 14. Es liegt im Zusammenwirken von Entwicklern, Investoren, Regulierern/ Governance, aktiven Nutzern, aber auch eher passiven Konsumenten, in welche Richtung sich die Zukunft des Internet/ Metaverse entwickelt. Das Konzept Technogenese – der Prozess der  parallelen Entwicklung, der Co- Evolution  von  Technik und Gesellschaft – bedeutet, dass nicht nur technische Neuerungen gesellschaftlich verändernd wirken, genauso wirken sich gesellschaftliche Kräfte auf die Ausformungen von Technik aus. Technische Möglichkeiten werden ausgetestet, nehmen aber dann die Form an, in der sie akzeptiert werden. Techniken setzen sich nur dann durch, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen (vgl. Nassehi).
Der aktuelle Hype ist corporate driven, gefolgt von Dienstleistern + Metaverse Erklärern. Ein Wettlauf von Investoren, Ball nennt es den Coming Fight to Control the Metaverse,  in dem es  darum geht,  Standards zu schaffen.  World building, digitale Landnahme heisst es anderswo. Neben den Online- Giganten Facebook/Meta, Microsoft, Apple, Google sind Marken wie Nike, BMW, Gucci engagiert. Der Antrieb in erster Linie kommerziell, mit dem Vorreiter der Games- Industrie, gefolgt von virtuellen Flagship- Stores. Im  Kapitel Meta Businesses (250 ff) skizziert Ball  mögliche Geschäftsfelder wie Bildung / Education, Dating und Lifestyle Businesses, wie Fashion & Advertising, Entertainment, zwei Seiten auch zu Sexwork.

The Metaverse – And How … ist  wahrscheinlich ein bestmögliches Buch zum Thema. Ein kompaktes Buch um  sich einen Überblick zu den technischen Voraussetzungen und den Möglichkeiten zu verschaffen, ein Blick in den Wandel digitaler Zivilisation.  Der übersichtliche Aufbau, die ausführlichen Notes und der detaillierte Index machen es leicht, zu jedem Einzelthema nachzuschlagen, quer zu lesen. Ball setzt Marker, wie etwa Shared Experiences und hält die Balance zwischen der Begeisterung für neue Möglichkeiten, einer nüchternen Agenda und gelegentlich auftauchender Skepsis.
Wer Bücher lieber auf deutsch liest, braucht nicht lange warten, die deutsche Ausgabe ist für den 30.9. angekündigt  – und wird wahrscheinlich eine ganze Reihe von Rezensionen nach sich ziehen.
Einen Satz, der in der Diskussion zu Metamodernism fiel, will ich ans Ende stellen: We need a vision of progress and a grand narrative about why it all matters.

Matthew Ball: The Metaverse. And How it Will Revolutionize Everything, 2022, 522 S.
Dirk Songuer: Fieldnotes from the Metaverse; ² Dirk Songuer nach Toni Parisi — ¹von: gartner.com   L. M. Sacasas: Notes From the Metaverse. The Convivial Society: Vol. 2, No. 16: Thomas Riedel: Metaverse-Podcast
Katharina Spiegel 321/2022: Sie macht 11.000 Euro im Monat – mit Mode im Metaverse

 

 



Metamodernism – The Future of Theory (Rez.)

Metamodern zum Zweiten. Bekannt wurde mir der Begriff erst vor einigen Wochen. Ein Begriff unter dem kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen, die nach der Postmoderne auftreten, verhandelt werden.  Ein Terminus für das Denken im 21. Jahrhundert?
Metamodernism. The Future of Theory von Jason A. Storm (7/2021) wurde in etlichen Kommentaren und Reviews (English only)  geradezu enthusiastisch gefeiert:
It’s a long time, since I’ve had such a vigorous – and rigorous – intellectual work- out. Metamodernism is not only an astute diagnosis of the confusions and contradictions of contemporary thought; it also offers compelling alternatives. Ambitious, lucid and erudite, this is a book that demands to be read and argued over.“ Der Kommentar der Autorin Rita Felski (The Limits of Critique, 2015) steht für viele und so geht es weiter. Es wundert dann etwas, dass bislang kaum deutschsprachige Resonanz vorliegt – jedenfalls habe ich keine gefunden – so bin ich wohl einer der ersten. So eingestimmt geht man an den Titel heran.  Ursprünglich hatte der Autor den Titel Absolute Disruption. Theory after Postmodernism vorgesehen, ein  Titel, der ebenso den Anspruch verdeutlicht, eine erneuerte Theorie der sozialen Welt zu formulieren – mit der Ambition  als Leitfaden zukünftiger (Human-) Wissenschaft. Ein –ism(us) sollte es sein,  Post-postmodernism/us wäre ein Verlegenheitsbegriff, das Präfix Meta trifft anscheinend den Zeitgeist: I should own that likely some of the same zeitgeist that made me think Metamodernism sounded cool perhaps contributed to why Zuckerberg might have thought Meta Platforms sounded cool.

Der Denker präsentiert sein Werk: Jason A. Storm

Metamordernism – The Future of Theory ist als Manifest in den Human Sciences/ Humanwissenschaften – bei Storm der Dachbegriff für alle Geistes – und Sozialwissenschaften – zu  verstehen.
Philosophie ist nicht mein Fach, die Begrifflichkeiten weniger vertraut, Epistemologie und Ontologie  muss ich z.B. nachschlagen. Philosophie zeichnet und formuliert aber Grundlagen, die auch in anderen Fächern gelten,  hier ist es ein Big Picture der Human Sciences. Ist nach 40 Jahren der Abschied von der verblassenden Postmoderne, eine Neubestimmung entscheidender Fragestellungen überfällig? In den 1980er Jahren sprach man oft vom Paradigmenwechsel.  Damals ging es um den Abschied vom linearen Fortschrittsdenken und den Zukunftsvorstellungen der Moderne. Die aufkommende Postmoderne formulierte den Verlust von Gewissheit, die Auflösung von Sicherheiten und gewachsenen Identitäten. In der Wahrnehmung stand sie oft in Verbindung mit einem skeptischen Dekonstruktivismus.
Storm schreibt von einer umfassenden philosophischen Methode, die versucht, die Natur der sozialen Welt zu erklären – das Buch trägt den Anspruch Grosser Theorie, incl. einer ethischen und politischen Wirkung und einer eigenen Moralität. Der Autor nennt es selber ein hopeful monster (25) mit Wurzeln  in queer, feminist, and critical race theory, resistent gegenüber vereinfachendem Moralisieren und ausgerichtet auf eine emanzipatorische, nicht-relativistische, kosmopolitische Ökologie des Wissens (25).

Das Buch ist in vier Teile + Opening, Conclusion und Notes (60 S.) und insges. sieben Kapitel gegliedert. Part I Metarealism, Part II  Process Social Ontology, Part III Hylosemiotics, Part IV Knowledge and Value. Kapitel 7 The Revaluation of Values/ Neubewertung von Werten (236 – 275) ist der politischste Teil, es geht um die Rolle von Moral und ethischen Werten in den  Human Sciences und der Gesellschaft insgesamt.
Einige Begriffe und Konzepte fallen ins Auge, so die zunächst generisch scheinenden, in Metamodernism zentralen Social kinds: beschrieben, nicht definiert als 1) socially constructed, 2) dynamic clusters of powers 3) which are demarcated by the casual processes that anchor the relevant clusters  (111).  Social Kinds are made uo of power-clusters and the processes, that anchor them. Powers belong to a system of relations, not a specific entity of its own (140). Solche Sätze und auch die Thematisierung von Interdependenzen lassen zumindest an Konzepte von Machtbalancen in der Soziologie denken.
Storm nennt diverse Features von Process Social Kinds (94-96), wie high- entropic, cross- cutting, normative. Social Kinds dienen ihm dazu, die soziale Welt als dynamisch, prozessual zu rekonzeptualisieren. Unsere Moral sollte ähnlich verstanden sein und danach streben, die Vielfalt des empfindungsfähigen Lebens und der Gesellschaften, die es hervorbringt, zu kultivieren.

Das Buch wirklich durchzuarbeiten ist eine längere Aufgabe, der Text ist komplex, schwierig zusammenzufassen und in einer kurzen Besprechung auch nur annähernd kaum wieder zu geben. Gibt es nicht in den Sozialwissenschaften überzeugendere Modelle Prozesse, die soziale Konstruktion von Machtverhältnissen etc. zu beschreiben als die etwas dünnen Social Kinds?  Auch wenn man daran gewöhnt ist, Texte auf Englisch zu lesen, braucht es mehr Zeit, die Texteinschläge wirken zu lassen – Nietzsche philosophierte mit dem Hammer– Storm sagt von sich to philosophize with lightning (5). Blitze sind geballte Energie – zerstörend wie erhellend.  Oft erinnert sein Gestus an den eines Rockstars.
Metamodern passt in den Zeitgeist. Ein Begriff, der endlich die Postmoderne ablösen soll, deren Dekonstruktionen berechtigt waren, es  aber  keinen Sinn macht, länger darin zu verharren. Die Moderne war die These, der sich die Antithese der Postmoderne entgegenstellte und in diesem Konflikt bildet sich mit der Metamoderne eine neue Synthese heraus – wenn man es mit einem gängigen Modell erklären will.
Metamodern ist allerdings kein einheitliches Label: Lene Andersens Metamodernity (2019) wird bei Storm (2021) gar nicht, die Werke des Autoren- Duos Hanzi Freinacht nur kurz erwähnt. Was überzeugt: Die Erfahrungen des 21. Jahrhunderts werden nicht ein weiteres mal neu erklärt, sie werden als bekannt vorausgesetzt. Um die Welt zu verändern, müssen wir sie verstehen und darüber hinaus ein Bild davon haben, was sie sein könnte: It’s not postmodern, it’s not modernist. It isn’t really new materialist.  Instead of describing a paradigm shift, I was actually trying to produce a paradigm shift.

Einige einfache, jeder/m verständliche Sätze bringen die Moralität von Metamodernism auf den Punkt: Most of us want to be happy — Most of us want to be psychical and physical well- being — most of us do not want to suffer unnecessarily –.most of us want to live a life worth having lived, a meaningful life (257) – das sind die Grundlagen eines Sets ethischer Normen und daraus abgeleiteten politischen Handelns: We need a vision of progress and a grand narrative about why it all matters (Thomas Harper).

Schliesslich: Gibt es denn einen Bezug zum Metaverse – was die Namensgebung nahelegt? Im Buch nicht, aber in seinem Blog Absolute Disruption (11/21) nimmt Storm darauf bezug – zu Facebooks Rebranding Meta bemerkt er spöttisch, das Unternehmensziel des Zuckerverse sei die Monetarisierung von Eskapismus. Er empfiehlt (ein von wenigen Unternehmen  dominiertes) Metaverse zu hacken, zu unterwandern, umzufunktionieren und umzugestalten, um sein emanzipatorisches Potenzial freizusetzen und die Macht zurückzuerobern.

vgl.: Jason Ananda Josephson Storm:  Metamodernism. The Future of Theory. Chicago 9/2021. 360S. Blog: Absolute Disruption Podcasts: Metamodernism – The Future of Theory: an interview with Prof. Jason Ā. Josephson Storm. Sunday in the parc with theory: Podcast with Jason Ā. Josephson Storm (18 April 2022)

 



Metamoderne – erster Überblick

In der Diskussion auf der letzten FuturesLounge im Mai kam die Sprache auf Metamodernity/ Metamodernism – international und v.a. auch in Nachbarländern wie den Niederlanden und Dänemark ein bereits seit längerem verbreiteter Begriff, im deutschen Sprachraum allerdings nur sporadisch gebraucht.
Metamoderne ist Reaktion und Abkehr von der verblassenden  Epochenbezeichnung Postmoderne, ein Branding  für das, was danach kommt, was manchmal auch aus Verlegenheit Post- Postmoderne genannt wurde. Unter dem Label metamodern (in mehreren Verbegrifflichungen) kristallisiert sich ein neuer Blick auf die gegenwärtige und in die zukünftige Welt heraus. Die Periodisierung ist eher zweitrangig.

Der Begriff selber ist gar nicht mehr so neu. Den Durchbruch hatte er mit dem Essay (2010) und dem darauf folgenden Webzine (2009 – 2016, archiviert) Notes on Metamodernism der Rotterdamer Kulturwissenschaftler Timotheus Vermeulen und Robin van den Akker. Themen des Webzine waren Trends und Tendenzen in  Current Affairs, in der Netzkultur und aus fast allen Kultursparten von Architektur über Tanz und Performance bis Film und Literatur. Als prominente Beispiele für eine Ästhetik, die nicht länger mit den Begriffen der Postmoderne erklärt werden kann, wurden u.a. die Hamburger Elbphilharmonie – 2010 im Rohbau -, die Filme von David Lynch  und die Literatur von Jonathan Franzen genannt. Man muss sich schon länger damit befassen, um diese Werke miteinander in Verbindung zu bringen –  sie sind dazu noch mit dem Merkmal  neoromantisch versehen.
Metamoderne ist demnach eine in den 2000er Jahren gewachsene Grundstruktur, die seitdem zu einer dominanten kulturellen Logik vorrangig in den westlichen kapitalistischen Gesellschaften geworden ist. Vermeulen & Van den Akker  verwenden den Begriff Metamoderne als heuristisches Etikett, um ästhetische und kulturelle Entwicklungen zu erklären, und gleichzeitig auch zu periodisieren.

Die History- Matrix von Lene Andersen (42/43) – erscheint nach Klick in voller Auflösung in neuem Fenster

Die dänische Philosophin und Bildungsaktivistin Lene Andersen unterscheidet (82) in  dem Einführungsband Metamodernity – Meaning and Hope in a Complex World  (6/2019) zwischen Metamodernity und Metamodernism. Während letzterer in etwa den Ausführungen von Vermeulen und van den Akker folgt, verbindet  ihr Begriff von Metamodernity sämtliche vorhergehenden kulturellen Codes: die indigenen, prämodernen, modernen und postmodernen. Indigene Codes können etwa auf eine Verbindung  mit der  Natur verweisen, die wir brauchen, um Kreisläufe wiederherzustellen, so u.a. zur Lösung der Klimakrise. Metamodernity integriert solche kulturellen Codes und bietet so einen Rahmen, uns selbst und unsere Gesellschaften auf komplexe Art zu verstehen, soziale Normen und ein moralisches Gefüge für Intimität, Spiritualität, Religion, Wissenschaft und Selbsterkundung.
In einer History– Matrix (s. Abb.) setzt Andersen universelle Grössen, wie Wissen, Machtstruktur und vorherrschende Narrative in bezug zu Epochen, die nach den jeweils höchst entwickelten Technologien abgegrenzt sind. Derzeit haben wir die Transition von der industriellen Epoche zum ICT Age (Information and Communication Technologies) hinter uns, bald folgt das BINC Age (Bio-, Information-, Nano & Cogno- Technologies.  Vom Aufbau erinnert die Matrix an die von Dirk Baecker (2018), der die zivilisatorische  Entwicklung in vier Medienepochen gliedert und der modernen die nächste Gesellschaft folgen lässt.
Lene Andersen gehört dem Think Tank Nordic Bildung – Better Bildung,  Better Future, an –  sehr deutlich mit dem auf einer breiten Volksbildung basierenden skandinavischen Gesellschaftsmodell verbunden. Ebenso damit  verbunden ist Hanzi Freinacht, Autor von Nordic Ideology: A Metamodern Guide to Politics (2019).   Sicherlich sind die kulturell homogenen skandinavischen Gesellschaften in der Entwicklung einer Collective Imaginary -in etwa eine kollektive Zukunftsvision – a Shared Vision of the good society, begünstigt und Vorreiter. Der Anspruch eines von den nordischen Ländern ausgehenden Weges in eine metamoderne Gesellschaft, die die Welt vor einem System- Kollaps bewahrt, zeugt aber auch von Sendungsbewusstsein (vgl. Freinacht). 

Jason Storm – Autor “Metamodernism”

Metamodernism. The Future of Theory von Jason Storm(Chicago) erschien 7/2021 und wurde in Kommentaren teilweise enthusiastisch gefeiert: als Öffnung zu neuen Denkweilten, der Autor schöpfe mühelos  aus scheinbar unendlichen Ressourcen, um die Aufgabe zu bewältigen, die er sich selbst gestellt hat.
Jason Storm  ist Universitätsprofessor, bezeichnet sich selber als Philosopher of the Human Science und ist zugleich Rockmusiker, bis dato eine eher ungewöhnliche Kombination – beim Autorenbild dachte ich tatsächlich an Wild at Heart von David Lynch – Humanwissenschaftler in Rockstar- Pose.  Storm versteht sein Werk selber als ein  First- Order Philosophy mit dem Anspruch für sich allein zu stehen. Kein programmatisches metamodernes Paradigma soll beschrieben werden, sondern das Werk soll einen Paradigmenwechsel auslösen.  Mehr zu diesem ambitionierten Titel in Kürze: ist bestellt und Rezension vorgesehen.

Postmoderne war als Epochenkonzept seit ca. 40 Jahren in Verwendung – langsam verblassend. Ausgangspunkt war 1979 der Essay Das postmoderne Wissen/ La condition postmoderne von Jean- François Lyotard. Sie machte es möglich,  uns selbst, unsere Kultur und unsere Zivilisation von außen zu betrachten, sie zu dekonstruieren, um ihre Teile und ihre inneren Strukturen zu untersuchen. Poststukturalismus, Kontextualität, das Führen von Diskursen sind zugehörige Schlagwörter, ironische Distanz eine verbreitete Attitüde. Der Begriff wurde damals schnell populär, besonders in Philosophie, Kunst und Architektur.  Später wurde der Begriff oft bis zum Überdruss und darüber hinaus verwendet, und weckte so auch immer wieder Gegenreaktionen.
Die Moderne gab uns gleiche Rechte und Chancen, Demokratie, Wissenschaft incl. wissenschaftlicher Medizin, und die Verpflichtung, zu zweifeln und zu denken, ihr verdanken wir den – linearen – Fortschritt als solchen, sie ist untrennbar mit der wissenschaftlichen Revolution verbunden.  Klischeehaft war der Weisse Mann ihr Träger.
Metamoderne Philosophie tritt auf in einer Zeit, in der Internet und Social Media für einen Grossteil der Menschen eine selbstverständliche Umgebung sind. Ausdruck der Zukunftsfragen postindustrieller Gesellschaften, in der immer weniger Menschen an den industriellen Prozesse und der Distribution ihrer Produkte beteiligt sind.  Metamodernism doesn’t just generate mixed feelings – it’s about mixed feelings (Jonathan Rawson).
Zum Metaverse hat Metamoderne übrigens keine direkte Verbindung – wenn nicht eine aktuelle Vorliebe für weit überwölbende Begriffe, die mit Meta gekennzeichnet sind, für beides zutrifft. Parallelen werden zu entdecken sein.

Lene Rachel Andersen: Metamodernity. Meaning and Hope in a Complex World . Nordic Bildung, 2019, 137 S.  Jason Ananda Joseph Storm: Metamodernism. The Future of Theory. Chicago 2021. Jonathan Rowson, Layman Pascal: Dispatches from a Time Between Worlds. Crisis and emergence in metamodernity. 376 S. 6/2021 Hanzi Freinacht (ein Pseudonym für ein Autoren- Duo) Nordic Ideology: A Metamodern Guide to Politics, Book Two (Metamodern Guides, Band 2), 2019  Robin van den Akker, Alison Gibbons, and Timotheus Vermeulen (Eds) Metamodernism: Historicity, Affect, and Depth after Postmodernism (2017) Robin van den Akker, Timotheus Vermeulen: Notes on metamodernism. Journal of Aesthetics & Culture. Vol. 2, 2010  , S. 3- 14. auf youtube: Metamodernity Versus Metamodernism w/ Lene Rachel Andersen  — Metamodernism: The Future of Theory w/ Jason Josephson Storm



König von Deutschland – Blaupausen für Zukünfte

 König von Deutschland war ein Popsong  des späten Rio Reiser (✝1996) und wahrscheinlich sein einziger, der zum Gassenhauer wurde.
#KönigvonDeutschland- ist hier titelgebendes Motto bzw. Rahmenerzählung einer Sammlung von insges. 18 Gesprächen, geführt zwischen 2017 und 2020, die zuerst als Podcast, dann als Buch erschienen ist.  Drei Fragen waren jedem Gespräch vorangestellt: Was bewegt Dich? Welche Zukunft siehst Du? und Was würdest Du tun, wenn Du König von Deutschland wärst? Die gesprochene Sprache des Podcast wurde transkribiert,  die Gespräche lesen sich ganz anders als mehrfach redigierte Texte, Momente sind weit stärker eingefangen. Vor einigen Wochen gab es dazu bereits einen Online- Themenabend incl. Exkursen zur Science- Fiction. Die Herausgeber Gunnar Sohn, Live- Streamer, und Lutz Becker, HS Fresenius, beide Ökonomen, haben  mir ein Exemplar zur Rezension zugeschickt, hier ist sie nun.

Einige der Gesprächspartner sind mir persönlich bekannt, andere dem Namen nach,  und es sind einige prominente Politiker, wie Marina Weisband und Uwe  Schneidewind dabei, dazu auch der Science- Fiction Spezialist Hans Esselborn. Utopien sind hier nicht freischwebende Weltentwürfe, sie bleiben pragmatisch auf einem Boden und dienen als Blaupause eines positiven Zustands in der Zukunft (14). Themen, die im Rahmen der Transformationsdiskurse diskutiert werden, kommen mehrfach zur Sprache,  so Mobilitätswende, Ressourcenbewirtschaftung, ökologische Erneuerung; insgesamt  geht es aber vorrangig um die Rolle der Ökonomie als einer Gestaltungswissenschaft für einen demokratischen Kapitalismus.
Immer wieder wird die Perspektive von Ökonomen, die mit der in der Mainstream- Ökonomie vorherrschenden Kennzahlen- Orientierung hadern, deutlich. Gleich im ersten Gespräch mit Reinhard Pfriem (vgl. Rez.) “Neue Ökonomie mit mehr demokratischer Beteiligung” geht es um die Öffnung der Ökonomie zu einer Möglichkeitswissenschaft, die Wege  dahin öffnet, wie denn eine Gesellschaft und eine Wirtschaft der Zukunft aussehen könnten (27). In Es fehlen die Utopien mit dem Ökonomen Frank Witt fliessen Thomas Pikettys  Kapital und Ideologie, an anderen Stellen immer wieder Joseph Schumpeter in die Diskussion ein, auch die Freiburger Thesen der FDP von 1971.  Weltverbesserungskompetenz und Demokratie 4.0 (199) sind autretende Schlagwörter.  Science Fiction wird nach Zukunftserzählungen abgeklopft.
Gegenpole, das was man nicht, bzw nicht mehr will, sind  Überwachungskapitalismus und Big Nudging, das chinesische Scoring- Modell, das heute dominierende Finanzwirtschaftssystem, die Durchsetzung des sog. Neoliberalismus,  die Stories vom anarchischen Silicon Valley (239), die oft als  freche Hacker- Kultur inszeniert werden, die monokausalen Erklärungsmodelle und Fallstudien der BWL (241).  Sind Utopien die Brücke zu Innovationen? Wahrscheinlich, als vorausgedachte Entwicklung und Veränderung. Ich mag selber das Wort Innovationen nicht mehr, zu oft ist damit reines Effizienzstreben verbunden.

Dem Klappentext der Rückseite nach richtet sich das Buch an Leser, die sich für Utopische Weltentwürfe  interessieren. Man kann es so sagen …  viel mehr aber geben die Gespräche einen Einstieg in Diskussionen, hin zu  – durchaus realistischen – Zukunftsvisionen eines demokratischen Kapitalismus (188). Ganz sicher auch für die Lehre – oder besser gesagt, in die Bildungsanteile, die einer Normierung des Denkens entgegenwirken, ob in Schule, Universität und Business Schools oder Weiterbildung. Die Gesprächsform macht die Themen zugänglicher, über 500- 1000 Seiten Piketty oder Schumpeter können immer noch folgen.  Ein wenig regionallastig sind die Beiträge: Wuppertal und das Bergische Land sind mehrfach der geographische Ausgangspunkt – liegt es nur an Herkunft und Verbundenheiten eines der Autoren (Lutz Becker)- oder doch an der längsten Industriegeschichte Deutschlands? Soweit – nicht jeder Beitrag eines Sammelbandes kann erwähnt werden, aber alle bieten sie einen Einstieg in eine spezifische Sicht.

Schliesst man dann den Bogen zurück zu Rio Reiser und den Scherben, war der #König von Deutschland der Song, der ihm von Fans als kommerziell vorgeworfen wurde – von den Scherben erwartete man Solidaritätsauftritte. Sie waren der Soundtrack zu Demos, Hausbesetzungen, von erkämpften Utopien und Freiräumen, gerne illegal. Ein Soundtrack mit einer Radikalität des Herzens und dem Stinkefinger gegenüber Staatsgewalt und Kapital – in der Zeit, als man noch nicht von Zivilgesellschaft sprach.  Heute gehören sie zum kulturellen Erbe.

Lutz Becker & Gunnar Sohn : Was würdest Du machen, wenn de “König von Deutschland” wärst? – Utopische Gespräche. Klingen Verlag, Solingen, 2021. 391 S.



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