#Consociality – eine #Hashtag Soziologie

drei #Hashtags sollen es sein

Auf Barcamps und anderen nicht ganz so formellen Veranstaltungen ist es ein Ritual: Die Teilnehmer stellen sich mit drei #Hashtags vor, davon oft eines mit beruflichem Bezug, eines persönlicher gesetzt und schließlich eines das Zugehörigkeit ausdrückt, oft eine Form von Fantum. Das soll die Atmosphäre lockern und den Gesprächseinstieg erleichtern.
Das Tagging ist aus SocialMedia vertraut. Twitter hat dem vormals unbestimmten #-Zeichen eine neue Bedeutung verliehen,   die über die Verschlagwortung hinausgeht. Mit dem #Hashtag werden Tweets zu Veranstaltungen, zu Themen, auch assoziativ gebündelt – eine Formatierung öffentlicher Kommunikation. Listen von Trending Topics werden regelmäßig veröffentlicht – und sind ein Gradmesser des öffentlichen Interesses. Manche #Hashtags wurden Zeitgeschichte, #aufschrei, #jesuischarlie oder #EinBuchfuerKai standen für öffentliche Debatten und Solidaritätsbekundungen.
Die meisten Social Media Plattformen kennen die #-Verschlagwortung, so Youtube, instagram, Google+, Facebook. instagram funktioniert in etwa wie Twitter mit Bildern, die Vergabe von Kommentaren ist aber nicht limitiert, was oft zum inflationärem Gebrauch verleitet. Dennoch erschliessen sich darüber Bilderwelten jeglicher Herkunft. Facebook tut sich damit schwerer, #Hashtags entsprechen mehr dem follower- als dem friends-  Prinzip, auf dem Facebook beruht.
Was html-links für das statische Web sind #Hashtags (+ @persönlicher Adressierung) für Social Media – erst sie verbinden die Postings zu einem Ganzen, machen social sozial.

Consocials
Consocials

Das Beispiel oben zeigt die Selbstverständ-lichkeit und Akzeptanz der Übertragung des #hashtag auf das sog. Real Life: Soziale Verortung mit selbstgewählten Attributen. Menschen mit gleichen oder kompatiblen Interessen werden so zusammengeführt. Das bedeutet noch keine Gemeinschaft – es wird aber dann interessant, wenn Plattformen genutzt werden. Übereinstimmungen bzw. Kompatibilitäten werden dann relevant und bieten Möglichkeiten der Kooperation.

Eine begriffliche Entsprechung dazu ist Consociality (oder eingedeutscht Konsozialität) – Übereinstimmung in Merkmalen, Interessen, Ansichten, Leidenschaften – eine Vorstufe von Sozialität. Der Begriff stammt von den schottisch/kanadischen Anthropologen Vered Amit und Nigel Rapport (2002),  Es geht um “what we share“, nicht um Gemeinschaften in denen es Insider und Outsider gibt: ‘first and foremost by reference to what is held in common by members rather than in oppositional categories between insiders and outsiders’ (Amit and Rapport, 2002: S. 59)

Die Vorstellung von Gemeinschaft/Community war immer ein zentraler Gegenstand der Sozialwissenschaften und orientierte sich an Gemeinschaften in denen jeweils eigene kulturelle und soziale Normen wirksam sind bzw. waren. In der angloamerikan. Literatur orientierte man sich oft an Modellen der Ethnicity – nicht nur ethnisch, auch auf andere Gruppen angewandt, bis hin zu gay– oder deaf– Ethnicity. In der Folge wurde der Community Begriff auch zur Beschreibung von Online-Vergemeinschaftungen häufig verwendet, ohne dass dort eine vergleichbare Geschlossenheit gegeben wäre.
Entitäten wie Gemeinschaft und Kultur sind oft instabiler als von der Theorie her gedacht. Kulturelle Kategorien ändern sich in ihrer Bedeutung. Organisationen werden fluider.

Consocials 2
Consocials 2

Consociality lenkt den Blick auf die Möglichkeiten der digitalen Moderne. Personalisierte Vergemeinschaftungen sind dabei die Regel. Anschlußmöglichkeiten haben sich erweitert. Man kann einwenden, dass auch die “fluiden” Vergemeinschaftungen des vernetzten Individualismus auf gemeinsamen kulturellen Normen beruhen und sich immer wieder aus denselben Milieus rekrutieren – Richtig! Aber es sind Standards bzw. Werte, die als gesellschaftlich verbindlich gelten und nicht Eigenschaften einer partikularen Identität.
Eine wichtige Rolle spielt das Konzept Consociality in der Aktualisierung von Netnographie (2015)  von  R. Kozinets.

Kozinets, Robert V.: Netnography:Redefined. Sage Publications Ltd; Second Edition edition (July 24, 2015), 320 S., Chapter 2: Networked Sociality (S. 23-52). Vered Amit, Nigel Rapport: The trouble with community: anthropological reflections on movement, identity and collectivity ISBN: 9780 7453 17465;  Pluto Press, London 2002 192 S., 24,- €;

Netnographie 2015

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Debatten zu Online-Themen verlaufen oft in Hype-Zyklen. Auch wenn es um längerfristige Forschungsansätze geht, haben die Begriffe ihre Konjunktur. Netnographie stand gegen Ende des letzten Jahrzehnts als qualitativer Forschungsansatz, der v.a. Consumer Insights ermöglichte, in der Diskussion. In den folgenden Jahren rückte der Begriff mit dem Hype von Social Media und später Big Data – zumindest im deutschsprachigen Raum – ein wenig in den Hintergrund.
Anf. 2010 war mit Netnography. Doing Ethnographic Research Online die erste methodisch-programmatische Einführung zu Netnographie erschienen. Jetzt hat Robert Kozinets, der Urheber von Netnographie mit Netnography:Redifined nachgelegt. Das Netz und seine Möglichkeiten haben sich in den letzten fünf Jahren weiterentwickelt und verändert. Zwar hatte der Social Media Boom und die Verbreitung des mobilen Netzes 2009/10 bereits eingesetzt. Facebook, Twitter und youtube kamen aber eher am Rande vorinstagram und manch andere Dienste gab es noch nicht. Online-Kommunikation ist vom experimentellen  Rand in den Alltag des Mainstream gelangt, und wurde seitdem visueller, bewegter und weniger anonym. 
Das Netz ist Wissensspeicher, elektronischer Marktplatz und Medienverteiler. Kommunikation wird darüber übertragen und sie findet dort statt – in verschiedensten Umgebungen. Es ist eine digitale Welt die neue Erfahrungen und Zugänge zu neuen sozialen Milieus vermittelt. Die Technik ist einfach zu handhaben und ermöglicht vielfältige Kommunikationsformen bis zur Telepräsenz (sich in einer entfernten Umgebung anwesend fühlen). Eine Infrastruktur, die zudem ohne allzu große Kosten genutzt werden kann.

Networked Sociality
Networked Sociality

“Netnography is about obtaining cultural understandings of human experiences from online social interaction and/or content, and representing them as a form of research” (S. 54) – so lässt sich Netnographie 2015 grob zusammenfassen. Networked Sociality (entspricht in etwa dem vernetzten Individualismus bei Manuel Castells, 2005) ist der Begriff für ein neues Konzept von Gemeinschaft und Kultur und das ist auch der Name des zweiten, auf die Einführung folgenden Kapitels (vgl.S.38). Networked Sociality folgt u.a. den Thesen zu Networked Individualism von Rainie & Wellman (2014). Social diversity  ist ein grösserer Raum gegeben – Menschen nutzen Technologien zu neuen sozialen  Formen genauso wie für neue ökonomische Möglichkeiten bzw. Geschäftsmodelle.
Ein weiterer Schlüsselbegriff ist Consociality. Damit sind die grundsätzlich eher schwachen Verbindungen zwischen Menschen gemeint, die ganz unterschiedliche Berührungspunkte zueinander haben, ohne dass daraus ein mehr als punktueller sozialer Kontakt entsteht. In der Sprache des Social Web wäre es ein gemeinsamer #hashtag. Führt man den Begriff weiter, sind es Menschen, die Erlebnisse, Interessen, Neigungen bzw. allg. Merkmale miteinander teilen. Die Möglichkeit, sich darüber zu verbinden oder auch verbunden zu werden (etwa zu einer Zielgruppe), ergibt neue Perspektiven.
Gegenstand netnographischer Forschung können Sites, Topics & People sein. Sites können dabei als Standorte verstanden werden, ähnlich geographischen Orten. Sie sind auch das Feld teilnehmender Beobachtung. Themen/Topics sind Konzepte des Forschers, der von Beginn an den Rahmen festlegt. People – einzelne bzw. meist Gruppen von Menschen können ebenso Objekte der Forschung sein, man denke etwa an das Phänomen Micro-Celebrities (vgl. S. 120/21).  Guidelines zur Formulierung von Forschungsfragen werden ausführlich hervorgehoben, ebenso die ethischen Grundlagen (Kap. 6).
Die Anwendung von Software thematisiert Kozinets am Rande: zum einen zur Qualitativen  Datenanalyse (QDA wie NVivo, MaxQDA, AtlasTi), die die induktive/bottom up Auswertung qualitativer Daten (Text, Bild, Video, Ton) unterstützt, zum anderen die als Monitoring-Software bekannten Tools, bei ihm ist das v.a. Netbase, im deutschsprachigen Raum die hier vertretenen Anbieter. Aus meiner eigenen Erfahrung ist Monitoring-Software ein sehr nützliches Werkzeug, insbesondere bei der Recherche zu Themen/Topics, damit sind Quellen leicht zu lokalisieren. Software bleibt aber Werkzeug und Hilfsmittel: das Dashboard bietet noch keine Ergebnisse, die Analyse ist nichts ohne Kontext. Es geht nicht um Kennziffern, sondern um das kulturelle Verständnis.

Netnography:Redifined stellt den kultur- und sozialwissenschaftlichen bzw. anthropologischen Charakter von Netnographie in den Vordergrund. Das Buch ist übersichtlich gegliedert, die 11 Kapitel sind am Ende jeweils in einer Summary zusammengefasst, dazu werden Key Readings aufgeführt. Auf 320 Seiten geht es um theoretische Grundlagen, Forschungsfragen, Datensammlung, Beispiele  und mehr – man kann es auch als Lehrbuch bzw. Forschungsanleitung verstehen. Das letzte Kapitel schließt geradezu idealistisch mit dem Titel Humanist Netnography ab.
Daneben enthält Netnography:Redifined zahlreiche Ausführungen, die nicht direkt mit dem Forschungsprozeß zu tun haben. So etwa die naheliegende Beobachtung, dass Menschen, die länger im Social Web aktiv sind, bestrebt sind Soziales Kapital zu sammeln (Online- Reputation ist z.B. eine Form sozialen Kapitals).  Akteure im Social Web sind ihrer Wirkung und Stellung bewußt und verhalten sich danach. Der zunächst nebensächlich erscheinende Begriff Consociality hat weitreichende Auswirkungen: Menschen, die bestimmte Interessen, Neigungen, Merkmale teilen, können sich nicht nur vernetzen, sondern auch gemeinsam agieren.
Schließlich das Konzept Technogenese. Das bedeutet eine parallele Entwicklung/Co-Evolution von Technik und Gesellschaft: Technologische Entwicklung verändert unsere Umgebung, Menschen und Gesellschaften, die sie zu nutzen wissen, haben Vorteile. Der Begriff erinnert an das Konzept der Sozio- und Psychogenese bei Norbert Elias (Urheber der Zivilisationstheorie). Das treibt Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die wir heute als digitalen Wandel diskutieren,  an.

Kozinets,Robert V.: Netnography:Redefined. SAGE Publications Ltd; Second Edition edition (July 24, 2015), 320 S.
s.auch: Kozinets, Robert V.: Netnography. Doing Ethnographic Research Online. [Sage] 2010;  kozinets r. v.: Netnography: The Marketer’s Secret Weapon. How Social Media Understanding Drives Innovation. March 2010; Rainie, Lee & Barry Wellman (2012) Networked: The New Social Operating System. Cambridge, MA and London: MIT Press.; Janowitz, Klaus: Netnografie. In: Handbuch Online-Forschung. Sozialwissenschaftliche Datengewinnung und -auswertung in digitalen Netzen. Köln 2014 S. 452 – 468

Vegan – eine (kleine) Netnographie

Die Sorge um richtige Ernährung treibt viele Menschen um. Es geht nicht nur um Genuß und Gesundheit + finanzieller Erwägungen, Werthaltungen spielen eine Rolle. Zwei davon lassen sich hervorheben: Prinzipien der Nachhaltigkeit und vegane Lebensweise. In weiten Teilen überschneiden sie sich, bei beiden spielt das Unbehagen an industrieller Landwirtschaft und insbes. Massentierhaltung eine Rolle. In entscheidenden Punkten stehen sie sich aber entgegen. Steht bei den Werten der Nachhaltigkeit, wie sie etwa von Slow Food vertreten werden, die Frage “Unter welchen ökologischen und sozialen Bedingungen und in welcher handwerklichen Qualität wird produziert und welche Auswirkungen hat das lokal und global?“¹ im Vordergrund, geht es bei der veganen Lebensweise um die vollständige Vermeidung von Produkten tierischer Herkunft, bis hin zu Wolle, Daunen und Honig. Es geht um moralische Gründe, Tierleid zu vermeiden und es ist jeweils eine persönliche Entscheidung, seine Lebensweise daran anzupassen. Die Tierrechtsorganisation PETA beansprucht eine Meinungsführerschaft. Wie weitgehend deren “antispeziezistische ²” Positionen geteilt werden, kann aber nicht gesagt werden.

Online-Kommunikation zu “Vegan" im Juni 2015
Online-Kommunikation zu “Vegan” im Juni 2015

Wir haben über einen Monat (Juni 2015) die Online-Kommunikation zum Thema Vegan  beobachtet, dabei stand die aktuelle Version der Monitoringsoftware Radarly von linkfluence zur Verfügung. Wie erwartet ist das Thema Vegan im SocialWeb überaus präsent. Das beginnt mit den zahllosen mit #vegan versehenen Bildern auf instagram (insges. sind es 14 Mill.- weltweit und seitdem instagram besteht). Facebook dient der Gruppenkommunikation und wird genau wie Twitter häufig für Linkverweise oder als Container für Bilder oder Videos genutzt. Youtube bietet den einzelnen Online- Akteuren die wohl besten Möglichkeiten und steht für Videoblogs mit Produkttests, Koch-  und Backrezepten, aber auch Meinungsbeiträgen, Video-Tagebüchern und einigen handwerklich gutgemachten Dokumentationen. Kernstück des veganen Netzes bilden einige Websites, Blogs und Foren. In den entsprechenden Foren geht es um alle Fragen veganer Lebensführung bzw. den Weg dorthin, die Kommunikation bleibt unter Gleichgesinnten. Es sind v.a. Fragen zur Ernährung und der Ernährungsumstellung, aber auch des Umgangs mit der omnivoren (alles essenden)  Umgebung. Auffallend ist u.a. die grössere Zahl von Beiträgen zu Kosmetik als zur Bekleidung.
Eine steigende Zahl von Verbrauchern sieht keine andere Möglichkeit mehr, Tiere zu schützen, als auf tierische Produkte zu verzichten und sich vegan zu ernähren”³. Die Entscheidung dazu bedeutet eine klare Kante mit eindeutigen Regeln. In den letzten Jahren hat sie sich verbreitet und damit steigt das öffentliche Interesse. So taucht auch mehrfach die Formulierung “im Mainstream angekommen” auf. Man kann zwar noch von einer veganen Szene sprechen, sie zeigt sich aber in unterschiedlichen Umgebungen und erstreckt sich über mehrere Milieus. Vegan steht im Umfeld klassisch grüner Themen von Klimaschutz bis Urban Gardening, von Lifestyle & Fashion, es gibt Sparversionen (wie kann ich günstig vegan leben?) und den graswurzelanarchistischen Slogan “Kein Gott- kein Staat – kein Fleischsalat”. Vegan ist aber vor allem weiblich: in den meisten Studien wird ein Frauenanteil von 75 – 80% genannt.

Veganes Warenangebot: Ersatzprodukte
Veganes Warenangebot: Sojaprodukte

Kritik und Auseinandersetzungen zur veganen Lebensweise finden sowohl auf sachlicher wie  auf polemischer und manchmal auch aggressiver Ebene statt. Massentierhaltung ist dabei kaum ein Thema, deren Ablehnung ist hier Konsens – in der Diskussion gibt es niemanden der sie befürwortet. Angriffspunkte sind eher Landwirtschaftsbereiche mit höherer Akzeptanz, wie Milchwirtschaft und zertifizierte Bio- Fleischproduktion. Auf der anderen Seite gibt es Argumente für eine nachhaltigere Landwirtschaft, in der Weidewirtschaft bestimmte Ressourcen besser nutzt. Zudem ist die Produktion pflanzlicher Nahrungsmittel nicht per se nachhaltig.
Kritik gibt es am radikalen Tierschutz und Aktionismus, wie er von PETA praktiziert wird. Derzeit führt PETA den Contest “Germany’s Sexiest Vegan 2015″ durch. In der Sprache fällt oft eine ausgeprägte Vermenschlichung von Tieren (so ist beim Fleisch von Mord und Leichenteilen auf dem Teller die Rede), im weiteren ein oft belehrender Ton auf. Darauf beziehen sich antivegane Affekte, wie sie in einigen anti-vegan Blogs zum Ausdruck kommen. Zusammenfassen kann man sie mit dem – erkennbar an Gentrifizierung angelehnten – etwas hämischen Begriff   Bambifizierung. “Man könnte wohl leichter mit dem Veganismus umgehen, wenn die Leute die so leben wollen ihre missionarische Seite ablegen würden”.

Veganes Warenangebot: Convenience Food
Veganes Warenangebot: Convenience Food

Nachfrage erzeugt Angebote: In der Beobachtungszeit war z.B. die (meist als gelungen bewertete) vegane Wurstvariante von Rügenwalder Mühle ThemaDas Angebot veganer Produkte hat sich grundsätzlich verbreitert, nicht nur bei Ersatzprodukten, und es wird auch von Nicht- Veganern angenommen. Vegane Nachfrage ist aber auch Innovationstreiber: so bei der Entwicklung neuer Produkte aus Recyclingmaterialien.

Das Themenfeld Vegan im Netz berührt eine ganze Reihe von Aspekten: es geht um Ethik, Ernährung, Konsum und Marktangebot, Vergemeinschaftung und Lebensstile, um die Zukunft der Landwirtschaft. 
Das Essen ist Teil des persönlichen Lebensstils geworden, der öffentlich kommuniziert wird, wie Kleidung, Reisen oder Musikgeschmack. Veganes Essen reiht sich hier ein in eine Vielfalt von Stilen und steht neben den diversen Genuß- Szenen (Foodies), die es zu Kaffee und Schokolade, zu Craft Beer, aber auch im ambitionierten Fleischgenuß (z.B. Dry Aged Beef) gibt. Essens Stile und Genußkulturen werden im Netz und bei Events (man denke an Street Food Festivals) inszeniert. So ist etwa instagram ein gigantisches öffentliches Fotoalbum der zeitgenössischen Esskultur. Der althergebrachte Gegensatz Mainstream vs Subkulturen hat sich überholt.
Netnographie ist eine Methode, die qualitative Forschung auf die öffentliche Online- Kommunikation anwendet. Im Gegensatz zu Big Data, das sich auf die statistische Auswertung großer Datenmengen stützt, werden hier ausgewählte (entsprechend einer Fragestellung) Inhalte auf die ihnen innewohnenden Bezüge mit Hilfe qualitativer Datenanalyse untersucht: Small Data. Radarly ist ein sehr geeignetes Werkzeug, die geeigneten Quellen zu erschließen. Die Software ermöglicht die Auswahl von Quellen in festgelegten Zeitabständen nach Stichwörtern und selbst definierten Queries (Abfragen).

¹: http://www.slowfood.de/w/files/magazin/sf_0413_gesellschaft.pdf   ²Antispeziezismus: wendet sich gegen Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Art.  ³: s. http://www.topagrar.com/news/Home-top-News-Image-der-Landwirtschaft-traegt-zu-steigender-Zahl-an-Veganern-bei-1799704.html   

Tribes im Social Web

Social Web – das Netz ist sozial. Wir kennen Social Networks als Online-Dienste mit zahlreichen Funktionen, wir kennen die Netzwerke, die man selber pflegt, und wir kennen gesellschaftliche Milieus, die sich auch bei der Nutzung des Internet unterscheiden. Dann gibt es die mehr oder weniger diffusen Verbindungen, die durch gemeinsame Interessen und Aktivitäten entstehen, online und offline. Solche Formen informeller Vergemeinschaftungen bzw. Communities werden oft Tribes genannt. Der anthropologische Begriff wird ins Netz (und auch ins Marketing) übertragen.

Fankulturen sind ein Prototyp von Tribes
Fankulturen sind ein Prototyp von Tribes

Die Verwendung des Begriffs in dieser Form hat durchaus wissenschaftliche Wurzeln: Sie stammt aus “Le temps des tribus” (1988) des französischen Soziologen Michel Maffesoli. Maffesoli bezeichnete vorwiegend subkulturelle Vergemeinschaftungen mit eigenen Normen und Ritualen, Lebensstilen und Loyalitäten als Urban Tribes bzw. tribus urbaines. Punks galten ihm als Musterbeispiel. In den Cultural Studies wurden seine Thesen zum Neotribalismus breit rezipiert. Forschungsfeld der Cultural Studies ist v.a. Popularkultur: the whole way of life of a group of people.  Oft geht es um Fankulturen zu Popmusik, Filmen und TV- Serien. Ein Musterbeispiel ist etwa die StarTrek Fankultur. Star Trek gilt als ein Phänomen der Medien- und Konsumkultur und wurde als the most successful and lucrative cult phenomenon in television history bezeichnet.

Den Weg ins Marketing fand der Begriff zunächst durch Bernard Cova (Professor für Marketing in Marseille), später durch Seth Godin (“Tribes“, 2008). Cova (gemeinsam mit den Co- Herausgebern R.Kozinets und A. Shankar) erweiterte Tribes um das  linking value von Produkten und Dienstleistungen zu  Consumer Tribes Consumer Tribes denkt moderne Konsumgesellschaften – Consumer Culture – in den Begriffen des Tribalen. Grundannahme ist, dass postmoderne Konsumenten Entscheidungen nicht nur nach individuellen Nutzkriterien treffen, sondern Produkte und Dienstleistungen bevorzugen, die sie mit anderen Gleichgesinnten verbinden – verlinken.
Godin verbreitert den Begriff. Er argumentiert, das Internet habe das Massenmarketing beendet und eine menschliche soziale Einheit aus der fernen Vergangenheit zurückgeholt: Tribes/Stämme. Grundidee ist, dass sich Menschen schon immer nach gemeinsamen Ideen und Werten zusammengeschlossen haben. Das Netz gibt Menschen die Möglichkeit, sich mit Gleichgesinnten, weitgehend ohne geographische Barrieren zusammen zu schliessen, sich auszutauschen, Ideen zu entwickeln und  Veränderungen zu erreichen.

Tribes - nicht nur im Social Web
Tribes – nicht nur im Social Web. Quelle: doubleju / photocase.de

So werden als Tribes Gruppen von Menschen bezeichnet, die durch eine gemeinsame Idee, eine gemeinsame Leidenschaft, oder die Bindung an eine gemeinsame Führungspersönlichkeit miteinander verbunden sind. Beispiele gibt es zahlreich, und sie zeichnen sich oft durch eine umfangreiche öffentliche Kommunikation aus: etwa in der Gaming Szene, Food Tribes, wie zu Schokolade oder Craft Beer, zu Überzeugungen und Identität, zu sportlichen und kulturellen Interessen. Konsum spielt eine Rolle, selten aber in der Folge zu einer Marke. Es sind kleine soziale Einheiten, auf denen vieles im sozialen Geschehen beruht. Und sie sind es, die die “Trampelpfade” im Social Web austreten. Entscheidend ist die gefühlte Gemeinschaft.
Man kann die Stammesmetapher für überzogen halten, die deutsche Entsprechung “Stämme” klingt z.B. diffus unpassend; dennoch ist das Konzept der Tribes sehr brauchbar, um Vergemeinschaftungen in modernen Gesellschaften online wie offline zu erkennen – und dazu ist Netnographie die geeignete Forschungsmethode.

Lit.: Maffesoli, M.: Le Temps des tribus. Le déclin de l’individualisme dans les sociétés de masse. Paris 1988 – engl.: The Time of the Tribes. Sage Publications, London, 1996; Cova, Bernard, Kozinets, Robert V., Shankar, Avi(Hrsg.): „Consumer Tribes“, Butterworth Heinemann, Oxford und Burlington MA 2007; Godin, Seth: Tribes: We Need You to Lead Us, 2008; Heun, Thomas: Marken im Social Web: Zur Bedeutung von Marken in Online-Diskursen. Wiesbaden, 2012



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