Digitaler Habitus?

Digitaler Habitus? Bild: @jamesponddotco /unsplash.com

Gibt es einen Digitalen Habitus? Spontan denkt man an Nerds, Gründer in Turnschuhen, Influencerinnen, Blogger und YouTuber  – und tatsächlich begegnet man immer wieder einem entsprechenden Habitus. Es geht aber weniger um  Klischees, als um die Ausrichtung an den Bedingungen und Möglichkeiten einer technisch vermittelten sozialen Welt – und was davon erkennbar bleibt.
Sozialkapital und das Werben darum spielt in der digitalen sozialen Welt eine oft übergrosse Rolle:  In einem Netz schwach institutionalisierter Beziehungen werden im Austausch von Aufmerksamkeit und Anerkennung Ressourcen ausgehandelt. Grundsätzlich ist das Feld  global und 24/7 erreichbar – im Detail aber auf Ausschnitte davon ausgerichtet.

Habitus ist ein zentrales Konzept in der Soziologie von Norbert Elias (1897- 1990) und von Pierre Bourdieu (1930 – 2002), in dem sich die  Gesamtheit sozial vermittelter Persönlichkeit, erworben durch Herkunft,  Bildung und gesellschaftliche Rolle, spiegelt. Nach Elias bildete sich in den von ihm untersuchten Schichten im Laufe des Zivilisationsprozesses ein jeweils spezifischer Habitus heraus (vgl.  Machtbalance und Figuration). Sozialer Wandel und der von Persönlichkeitsstrukturen sind dabei parallele Prozesse, die sich im  Habitus, in der Affektkontrolle niederschlagen. Spezifiziert und zusammengefasst hat Elias das Konzept erst ist in seinem Spätwerk (Gesellschaft der Individuen, posthum, 1991).

Klassiker zum Habitus: Bourdieu 1979, dt. 1984

Bourdieus Konzept des Habitus ist Teil einer Theorie der gesellschaftlichen Unterschiede, die über ökonomische Ungleichheit hinaus differenziert.  Keine Pyramide von oben nach unten, sondern ein Feld mit verschiedenen Einflussfaktoren. Soziales und kulturelles Kapital bestimmen die Position ebenso wie das ökonomische Kapital – nur an anderer Stelle.
In der kulturellen Praxis  formt sich ein bestimmter Habitus heraus, der sich im Lebensstil ausdrückt – der Habitus beinhaltet die Gesamtheit sozial vermittelter Persönlichkeit. Oft verfestigt er die Dominanz einer Schicht.  Bei Bourdieu war es das französische Bildungs- und Besitzbürgertum mit seiner langen Tradition kultureller Distinktion.
Soziale Ungleichheit ist seit dem Erscheinen (1979, bzw. 1984) der feinen Unterschiede nicht verschwunden, geschwunden sind aber die Bindungen an klassische Milieus und die Verbindlichkeit ihrer Kultur,  die lange Zeit den Habitus prägten. Vieles wurde von Popularkulturen und Lifestyle- Marketing umgedeutet, letztlich verflüssigt. Kulturelles Kapital bedeutet nicht unbedingt sozialen Aufstieg, aber doch Zugang zu den Diskursen. Herkunft bzw. kulturelle Prägung bleiben im Habitus erkennbar, selbst bei massivem sozialem Auf- bzw. Abstieg.  Simpel gesagt, werden Menschen, die gleiche prägende Erfahrungen verbinden, einander erkennen, genauso wie am Stallgeruch prägender Organisationen oder Subkulturen.

Digitaler Habitus? Bild: Marley.Clovelly_ Pexels

Digitaler Habitus wurde bereits mehrfach aufgegriffen, so im kürzlich erschienenen Materialienband Netnography Unlimited im Beitrag Netnography. Digital Habitus,  and Technocultural Capital von Rossella Gambetti (Mailand).  Die ausführliche Definition* (s.u.), passt sich in Bourdieus Konzept ein: … a set of learned preferences, dispositions and behavioral schemes whereby individuals craft their selves using information and communications tools and devices within an elaborate technologically mediates social space that includes the social media ecosystem. (Gambetti, Netnography Unlimited, S. 295).
Kommunikation in digitalen sozialen Räumen war in den frühen Jahren eher experimentell, sehr eingeschränkt, aber oft mit der Erfahrung verbunden, ohne die gängigen Bewertungsmaßstäbe weitgehend vorurteilsfrei zu kommunizieren.  Mit technischem  Fortschritt erweiterten sich die Möglichkeiten und bieten immer mehr Raum zur Selbstdarstellung und auch zum Selbstmarketing – mit Text/ Sprache, Bild, Video.  Selbstdarstellung ist ein performative act of identity construction (295). Im weiteren zitiert Gambetti Bollmer  – Theorizing Digital Cultures: “Identity work is based less on physical context and more on individuals intentional self-presentation”.
Man muss dem nicht unbedingt vollständig zustimmen, Habitus ist personengebunden und nicht beliebig konstruierbar, es ist sozialisierte Subjektivität, aber nicht die Konstruktion von Wunschidentität.  Nebenbei, Selbstdarstellung bedarf auch immer der Kontrollarbeit. Und meist ist es der Habitus, für den wir bevorzugt und ebenso auch benachteiligt werden.

Kommunikationsform im Netz war und ist immer noch v.a. verschriftlichte Umgangssprache, als Abruf Text mit Graphik und Bild, mehr und mehr auch Bild- und Tonübertragung. Neuere Social Media Formate wie Live Streaming und Social Audio –  unterscheiden sich  als öffentliche Auftritte mit Stimme und/oder Gesicht immer weniger von  anderen öffentlichen Auftritten. Teilnehmer daran sind sich bewusst in (teil-) öffentlicher Aufmerksamkeit  zu stehen, und sind meist bestrebt ihren Auftritt unter Kontrolle zu halten. Das Wissen um Wirkung und Resonanz wird wichtiger. Auftritt und Habitus sollen möglichst authentisch wirken, v.a. nicht in einem Bruch zum physischen Kontext.
Anderswo im Netz herrscht immer noch ein rauherer Umgangston, der leicht in latente bis direkte Agressivität abdriftet, bis hin zur Vulgarisierung.

An der Universität Giessen fand mittlerweile zum zweiten male (2020 online) eine Tagung bzw. Aktionswoche Digitaler Habitus statt – mit Beiträgen v.a.  aus  medienpädagogischer Perspektive, etwa der Bedeutung  des grundlegenden Wandels literaler (=verschriftlichter Kommunikation) Praktiken und Bildungsprozesse.
Bemerkenswert war u.a. eines der Themen von 11/2020 –  Incels ( “involuntary celibates”/unfreiwillig Zölibatäre, die Selbstbezeichnung einer in den USA entstandenen Szene, die nach Eigenaussage unfreiwillig keinen Geschlechtsverkehr haben und der Ideologie einer hegemonialen Männlichkeit anhängen. Online-Lesung.   

Soweit eine erste Bestandsaufnahme zum Thema Digitaler Habitus in der Technokultur.

Gambetti, Rossella: Netnography, Digital Habitus, and Technocultural Capital, In: Netnography Unlimited. Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research 2021. Michael Reitz: Noch feinere Unterschiede? Das Denken Pierre Bourdieus im 21. Jahrhundert. DLF- Radio 26.11.2017  Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede Orig: La distinction. Critique sociale du jugement; 1979; dt. 1984.  Veronika Kracher: Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults. Online-Lesung –   Turner, Graeme.: The Mass Production of Celebrity: Celetoids, Reality TV and the “Demotic Turn”. International Journal of Cultural Studies. 153 – 165;  Grant Bollmer, G.D.: Theorizing digital cultures. 2018



Netnography Unlimited – Understanding Technoculture (Rez.)

Nach nur etwas mehr als einem Jahr ein weiteres Update zu Netnographie? Erst im Herbst 2019 war mit Netnography. The Essential Guide to Qualitative Social Media Research die dritte aktualisierte Ausgabe zur Methodik von Netnographie erschienen.
Der jetzt vorliegende Band Netnography Unlimited. Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research ist das Materialien- zum Methodenbuch. So  geht es um Anwendungsbeispiele von Netnographie, ein Sammelband mit 19 Beiträgen von 34 Autoren. Nicht nur aus den angelsächsischen Ländern, u. a. auch aus Asien, Lateinamerika, Spanien und Schweden.  Im Untertitel taucht bereits ein neuer zentraler Begriff auf – Technoculture-, der das Forschungsfeld von Netnographie absteckt. Technocultural Studies (9 ff.) klingt an Cultural Studies an,  „the whole way of life of a group of people“.

Herausgeber Kozinets sieht Netnographie als den methodischen Arm für dieses Forschungsfeld, das auch mal als Social Media Studies projektiert wird.
Ein Forschungs- und Wissensfeld, das sich durch Kommunikations- und Medienwissenschaft,  Marketing- und Konsumforschung, Computerwissenschaft, Kulturanthropologie und Soziologie zieht.  Das sich zudem oft durch rapide Wechsel und abrupte Brüche der Umgebungen auszeichnet.
Das Buch  ist nach fünf Anwendungsbereichen gegliedert, übertitelt jeweils mit Netnographymobilized/ territorialized/ industrialized/ humanized und /theorized.
Thematisch am weitesten gestreut sind die Beiträge unter Netnography territorialized: PR, Healthcare und Pflegebranche, Tourismus, politischer und sogar ein militärischer Kontext (zur Beruhigung: es geht nicht um militärischen Einsatz, sondern um Bedürfnisse von Militärangehörigen). Sie zeigen Möglichkeiten von Netnographie in ganz unterschiedlichen Kontexten auf. Healthcare und Pflegewesen, hier in einer Studie aus Schweden, sind ebenso von den Möglichkeiten von Information und Zusammenarbeit erfasst.
Tourismus zählt zu den Branchen, die über Jahre hinweg besonders von der Entwicklung des Web beeinflusst wurden. Reisen und das Erzählen davon haben von Beginn an das Social Web begleitet. Dazu die einfache Planbarkeit über unkomplizierte Buchungssysteme bis in weit entfernte Destinationen und einer Fülle von Tourismus- relevanten Apps und Websites.
Netnography in Tourism Beyond Web 2.0 handelt von der Evolution des Web vom statischen Web 1.0, über das social (2.0), mobile und semantic web (3.0) und weitere Zwischenstufen bis zu einem Web 5.0 – Web of Thought – und der parallelen Entwicklung der Interaktion im Tourismus.  Beachtenswert  ist die zweiseitige Übersicht (143/144) dazu, in der Möglichkeiten von Netnographie mit den Entwicklungsstufen des Web abgeglichen werden. Jede höhere Versionsnummer bedeutet mehr an Interaktionsmöglichkeiten. Ein Modell, das in Grundzügen ebenso für andere Felder gelten kann.  Die eher zukünftigen Projektionen wie ein Emotions- sensitives Web 5.0, das auf Gesichtsausdrücke reagiert, kann man skeptisch sehen. Ist ein Eintauchen in virtuelle Welten mehr als ein Gimmick?

Netnography Industrialized umfasst den Einsatz im kommerziellen Umfeld. Darunter fällt der einzige Beitrag aus dem deutschsprachigen Raum: Die Münchner Firma Hyve arbeitet seit 16 Jahren mit Netnography (immer in der engl. Schreibweise). Geschäftsfeld ist Produktentwicklung, Netnography wird dabei von einer möglichst frühen Stufe an  zur  Ableitung unverfälschter Consumer Insights  eingesetzt. Quellen waren und sind oft Bewertungsportale und thread- basierte Foren, wie sie seit dem frühen Internet bestehen. Basketballschuhe, der Thermomix, Pasta- Packungen, Produkte mit Zitrus- Aromen und Kreditkartennutzung – all das gehört zum Portfolio. Die Vorgehensweise ist über die Jahre in etwa gleich geblieben und ist in einem Sechs- Schritte Schema (154) übersichtlich dargestellt.

Der letzte Beitrag im Buch weckt mein besonderes Interesse: Netnography, Digital Habitus, and Technocultural Capital (Rossella Gambetti, Mailand) bringt Stränge zusammen, die mich seit langem interessieren: vernetzte Sozialität,  die Entwicklung eines Habitus nach Bourdieu und Elias und Netnographie als methodisches Werkzeug. Technokulturelles Kapital erweitert den Kapitalbegriff Bourdieus (kulturelles/soziales/symbolisches/ökonomisches Kapital) um eine neue Dimension. Kulturelles Kapital beruht nach Bourdieu v.a. auf Bildung + dem inkorporierten Wissen um ein soziales Beziehungsgeflecht. Technokulturelles Kapital meint einen “Set of embodied knowledges, skills competencies and dispositions”(295). Spontan fällt mir auch eine Art Netwise ein, parallel zum Begriff Streetwise, Wesentlich ist ein inkorporiertes Wissen um Wirkungsweisen in einem technologisch vermittelten sozialen Raum.
Digitaler Habitus zeigt sich in der Selbstdarstellung als Akt reflexiver Konstruktion eines vernetzten Selbst (von S. 295 übersetzt) in Verhalten, und Geschmack;  Bezugsrahmen ist eine zeitgenössische soziale Welt.
Mit der Verbreitung von Formaten wie Live- Streaming und Social Audio, in denen die Teilnehmer mit Gesicht und/bzw. Stimme vor Publikum auftreten, unterscheidet sich ein Digitaler Habitus allerdings immer weniger von anderen Auftritten in Öffentlichkeiten – entscheidend ist das Wissen um Wirkung bzw. Resonanz.

Netnography Unlimited – zurecht trägt das Buch diesen Titel. Die Beiträge decken methodisch und thematisch eine kaum eingeschränkte Bandbreite ab. Ein sehr materialreiches Buch, dass die vielfältigen Möglichkeiten von Netnographie aufzeigt – als eine Art qualitatives Gegenstück zu quantitativen BigData Analysen.
Das Netz wurde mittlerweile zu einem technokulturellen Ecosystem: global, gewichtig, dauerhaft zugänglich. Es schafft technisch vermittelte soziale Räume, deren Bedeutung als Öffentlichkeit spätestens mit der Corona- Krise unübersehbar ist.  Nutzer orientieren ihr Verhalten und ihre Kommunikation daran. Wie auch anders? Das Netz ist Vermittler und Schauplatz von Popularkulturen wie von Geschäftsleben und Marketingaktivitäten, Teil der Lebenswelt. Das rückt Netnographie in die Perspektive von Ansätzen, wie sie bereits länger bestehen: Consumer Culture, Cultural Studies, eine Soziologie der Öffentlichkeit, die Entwicklung des Habitus, die langfristige Entwicklung von Haltungen und Mentalitäten. Sicherlich kommt produktspezifische Kommunikation, wie sie Marktforscher suchen, oft genug vor – sie bleibt aber eine Nebenerscheinung.

 

Kozinets, Robert V. & Gambetti, Rossella: Netnography Unlimited.  Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research..  2021, Routledge, New York   ISBN: 978-0-367-42565-4, 325 S., £ 42,99

vgl.: Netnography 3.Ed. (Rezension)
Netnographie 2015 – Rezension zu Netnography: Redifined
Netnography. Doing Ethnographic Research Online Standards zur Online- Feldforschung (Rezension)



Influencer und Personenmarken

Influencer am Werk? Bild: unsplash.com/YouXVentures

Influencers are individuals who have the power to affect decisions of others because of their (real or perceived) authority, knowledge, position, or relationship*.
Influencer Marketing lässt sich als strategische Weiterentwicklung des word-of-mouth verstehen. Word-of-mouth war in den frühen Jahren der Social Media Buzzword, gemeint war die informelle, wertende Kommunikation von Kunden bzw. Konsumenten über Marken**. Die gab es zwar schon immer, war jetzt aber in den Foren und auf den Plattformen live zu verfolgen – und eben auch zu beeinflussen.

Mit dem Social Web sind die öffentlichen Kommunikationsräume dezentralisiert. Marken bzw. Unternehmen suchen Zugang zu den Teilöffentlichkeiten – da, wo sich tatsächliche und potentielle Kunden tummeln – und sie wollen das dort verbreitete Bild von sich zumindest mitgestalten. Aufmerksamkeit ist im Social Web die zunächst entscheidende Währung und ihre Vermittlung hat kommerziellen Wert. Werbung soll sich nicht so anfühlen wie Werbung, Marketing nicht wie Marketing, sondern sich möglichst bruchlos in die Kommunikationsabläufe einfügen. Influencer setzen ihr soziales und kulturelles, auf Bildern auch ein optisches Kapital in sozialen Medien ein.  Die Reputation baut auf Authentizität und Glaubwürdigkeit – zumindest in der Zielgruppe.

Was ist neu am Phänomen Influencer? Neu ist zunächst der Aufbau von Personenmarken mit hohen Reichweiten in Teilöffentlichkeiten. Personenmarken bauen auf die Angebote, das Image und zumeist auf den Stil einer Person, die damit eine interessierte Teilöffentlichkeit erreicht. Das reicht vom Model, das Mode präsentiert, über spezialisierte Reiseblogger zum Journalisten, der moderierte Livestreams zu Wirtschaftsthemen sendet – um einige Beispiele zu nennen. Es gilt der auf Paul Lazarsfeld zurückgehende Satz vom Menschen, der von anderen geschätzt wird und dessen Meinung daher maßgeblich ist – was bedeutet das sie diese Meinung zielgerecht in (Teil-) Öffentlichkeiten verbreiten und auf Einschätzungen und Entscheidungen Dritter Einfluss nehmen.

Personenmarken sind dabei in ganz unterschiedlichem Ausmass werbe- und marketingorientiert. Redaktionell bearbeitete Angebote sind es weniger, zumindest weniger direkt.  Ganz sicher abhängig von der Branche: Mode, Kosmetik sind per se werbeaffin, geht es doch um die Präsentation von Produkten. Und sie werden oft so vorgestellt, wie man es auch aus Modezeitschriften kannte – bekannte Influencerinnen (z. B. Caro Daur) präsentieren sich und die Mode wie Models der 90er Jahre. Andere Modeblogs nehmen hingegen bezug auf popkulturelle Diskurse.
Tourismus findet derzeit zwar nur eingeschränkt statt, bleibt aber ein sehr ausdifferenziertes Feld mit vielen Spezialgebieten: Reiseziele, Sport- und Kulturinteressen, Kulinarisches, Sprachen u.v.m. Tourismusmarketing ist zumeist in die Erzählungen von Erlebnissen eingebunden.  Eng mit Tourismus verbunden sind die Werbemärkte zu Sport- und Freizeitaktivitäten wie Segeln, Tauchen, Klettern, bedingt Radfahren etc. – Tribes, die eine Begeisterung teilen; überall haben sich Influencer etabliert, die ihre oft gut geführte Personenmarke monetarisieren.
Nicht jede Branche, nicht alle Marken erhalten dieselbe Aufmerksamkeit. Es sind diejenigen, über die schon immer gerne und ausführlich gesprochen wurde. Etwa Wein mit seinen vielfältigen kulturellen Bezügen und einer gesprächsfreudigen Klientel. In einigen Branchen sind Produzenten, Handel und Konsumenten Teil einer gemeinsamen Öffentlichkeit, in der ausgiebig diskutiert wird, manchmal durch gemeinsame Werte zusammengehalten, so Nachhaltigkeit bei fairer Mode und anderswo. Und manche Unternehmen haben es gar nicht nötig Influencer und Sponsored Content zu bezahlen – über Apple- Produkte spricht man sowieso. Allesamt spannende Felder für eine Netnographie.

P.O.S.E. Modell von 2014 – (wird nach Klick in neuem Fenster in voller Größe angezeigt)

Nach dem P.O.S.E Modell ist Sponsored Content bezahlte Werbung – Paid Media – die im Umlauf der geteilten Inhalte – Shared Media – verbreitet wird.  Generell ist der Raum der Shared Media zum Verteilungszentrum von Medieninhalten(Content) geworden, und genauso zum  Konkurrenzraum um Aufmerksamkeit.

Influencer- Marketing ist zu einem eigenen Geschäftszweig geworden. Wieviel Werbung verträgt eine Online- Präsenz, eine Community, eine Plattform – ohne das Klientel zu verprellen?Instagram etwa wuchs als Foto- Sharing Plattform, macht mittlerweile oft den Eindruck einer Impuls- Shopping Plattform – im Stream der Bilder von Freunden und Prominenten tauchen immer öfter gesponserte Inhalte mit Link zum Online- Shop auf.

Werbung und Marketing gehen dahin, wo (potentielle) Kunden sind. Ein paar Jahrzehnte stand das TV im Vordergrund – mit oft aufwändigen Spots für ein Massenpublikum, dazu eine eingespielte Balance zwischen Presse und bezahlter Werbung. Öffentlichkeit ist kleinteiliger geworden – singualisierte Märkte und Teilöffentlichkeiten.  Es geht auch um eine neue Balance.

 

Gretzel, U. (2017). Social Media Activism in Tourism. Journal of Hospitality and Tourism, 15(2), 1-14. Mariah L. Wellman, Ryan Stoldt, Melissa Tully & Brian Ekdale (2020) Ethics of Authenticity: Social Media Influencers and the Production of Sponsored Content, Journal of Media Ethics, 35:2, 68-82 * MarketingProfs.com (2016). Build Social Relationships with Influencer Marketing. Accessed online (August 26, 2016). ** Wirtschaftslexikon Gabler  Stefan Schicker: Corporate Influencer Strategien brauchen ein rechtliches Fundament, 9/20 vgl. auch Blogparade zu Personenmarken.



Corona, PhysicalDistancing und die Digitale Öffentlichkeit

Steht im Mittelpunkt: Das Corona- Virus; Bild: unsplash.com

Fast noch mehr als das Virus selber hat #Corona als Medienthema innerhalb weniger Wochen  die Öffentlichkeit überrollt. Zuerst die Bilder aus dem fernen China, dann aus dem nahen Italien. Bilder von der Abriegelung ganzer Regionen, dann die von überlasteter  medizinischer Versorgung. Schliesslich wurde #Corona/ #Covid-19 zu dem Thema, neben dem alles andere in der öffentlichen Kommunikation verschwindet.
Ansteckende Krankheiten zählten immer zu den Geisseln der Menschheit, waren einer der Apokalyptischen Reiter – und sie leiteten immer wieder gesellschaftliche Veränderungen und Umwälzungen ein. Aber jetzt ist es weniger die Furcht vor der Krankheit selber, sondern die vor den Grenzen der Beherrschbarkeit, konkret der Überlastung der medizinischen Versorgung. Das Risikomanagement ist darauf angelegt, die Verbreitungsgeschwindigkeit, den Anstieg der Kurve, zu verringern,  #flattenthecurve.  Die möglichen Übertragungswege, also die physischen Kontakte, sollen so massiv reduziert werden, dass das Virus durch deren Stillegung eingedämmt wird. Solange kein Impfstoff oder wirksame Medikamente entwickelt sind, kann aber diese Kurve immer wieder anwachsen.
Es begann mit Empfehlungen zur Handhygiene, Absagen von Grossveranstaltungen, von  immer mehr Schliessungen der Gastronomie, von Schulen, Sportstätten – allen Orten, an denen Menschen zusammentreffen,  bis schliesslich zu nie dagewesenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens und Grundrechten auf Bewegungsfreiheit, dem Lockdown einer ganzen Gesellschaft und Volkswirtschaft unter dem harschen Regime eines #SocialDistancing.  Der politisch durchgesetzte Begriff ist eigentlich falsch – es geht um die  rein physische, nicht die soziale Distanz – #PhysicalDistancing. Gäbe es keine Digitale Öffentlichkeit, wäre es tatsächlich Social Distancing.

#Corona wird zum Top- Thema: Twitter (D) Febr/März 2020

Scenarios und Einschätzungen zum weiteren Verlauf, für die Zeit danach und die Auswirkungen auf gesellschaftliche Entwicklungen gibt es mittlerweile zuhauf und aus ganz unterschiedlichen Perspektiven  – und sicher geht es auch darum, auf dem Markt der Deutungen Präsenz zu zeigen. Man stellt sich auf für Forschungsprojekte und Beratungsangebote.
Welche gesellschaftlichen Verwerfungen Covid-19 und der Lockdown mit sich bringt, ist längst nicht abzusehen. Da ist die Pandemie selber, dann die Folgen und die Reaktionen auf den Lockout. Die wirtschaftliche Perspektive einer tiefen Rezession, dazu die Bedrohung zahlloser einzelner Existenzen. Was bedeutet es für eine Öffentlichkeit, wenn ihre physischen Schauplätze, Bildungseinrichtungen, Kulturbetriebe, Gastronomie, Läden, oft selbst der Park und Ausflugsziele  auf unbestimmte Zeit geschlossen sind? Wie kann das öffentliche Leben nach einem solchen “Winterschlaf” wieder Fahrt aufnehmen?
Einen Einschnitt bedeutet Corona und der Lockdown wohl überall. Die grosse unbekannte Variable ist ein medizinischer Grosser Wurf, der dem ganzen ein Ende macht.

Home Office wird zur Selbstverständlichkeit; Bild: Gunnar Sohn

Kann es überhaupt eine Situation geben, in der sich digitale Medien mehr bewähren können als unter den Bedingungen einer physischen Kontaktsperre? Nur mit digitalen Medien bleibt eine öffentliche Sphäre erhalten. Der Lockdown, beschleunigt zudem die Durchsetzung digitaler Kommunikation und Organisation in der Arbeitswelt  – Home office/Remote Work ist zunächst die einzige Möglichkeit, einen Workflow aufrecht zu erhalten. Was bis jetzt v.a. bei Soloselbständigen üblich war, wird jetzt vermehrt in Unternehmen und Behörden, sogar Ministerien akzeptiert – weil es die einzige praktikable Lösung ist. Videokonferenzen anstelle von Meetings. Ein gut ausgestattetes Home Office wird zum Standard und dem Fenster zur Welt. Ein Icon des Lockdown ist die Webcam, Zoom die Software der Stunde.

Gerade jetzt kann man drei Stufen digitaler Medien unterscheiden, die zumeist über dieselben Bildschirme übertragen werden: die grossen redaktionellen Sender- zu- Empfänger- Medien, öffentlich- rechtliche Sender und die überregionale Presse, von  ihnen wird gesicherte Berichterstattung und die Darstellung unterschiedlicher Positionen erwartet. Onlineauftritte sind längst nicht mehr ein begleitendes Zusatzangebot, mit den Zugriffen zu Mediatheken, auch Bezahl- Abos, sind sie zumindest gleichwertig zu Sende- und Printausgaben.
Dann die Ebene der Community- Medien, die eine neue Blüte erleben: Live- Schaltungen improvisierter Konzerte und anderer Kulturveranstaltungen, Diskussionen, improvisierte Radio- Programme, Bildungsangebote,  etc. – ein Exil für den vakanten öffentlichen Raum. Dieser Raum organisiert sich stärker nach dem Muster der Tribes – Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen verbinden sich darüber.
Schliesslich  die abgeschlossenere, mehr private Nutzung digitaler Medien wie sie mittlerweile flächendeckend verbreitet ist. Eine Nutzung, die aus der Telephonie herausgewachsen ist: Skype, Whats App und andere Messenger. Auch hier gibt es  Gruppenkommunikation von Menschen gleicher Interessen, – es besteht aber weder Anspruch noch Wille, Öffentlichkeit zu sein.
Von der Macht der Plattformen, die lange im Zentrum der Diskussion stand,  ist derzeit kaum die Rede – sie werden zur Adressierung genutzt.  Live- Streamings, Chats haben dort ihre Andockstellen, gewählt werden die, die beim jeweiligen Publikum am populärsten sind.

Bis jetzt (29.3.) kann man den Lockdown als gesellschaftlichen Konsens betrachten.  Reizthemen und Bruchstellen sind aber erkennbar, spürbar an Begriffen wie Ausgangssperre und der Rigidität der Einschränkungen. Wenn Polizeiwagen durch Wohnviertel patrouil­lie­ren und Bürger dazu aufrufen zu Hause zu bleiben, dann applaudieren manche dem starken Staat, andere beobachten es erstaunt, und für viele ist es einfach provokant und übergriffig. Gerade am Wochenende vor der Verschärfung der Massnahmen waren Social Media, v.a. Twitter, voller Postings mit lautstarken Forderungen zu Ausgangssperren,  geradezu einer Einheitsmeinung – manchmal hatte man den Eindruck konzertierter Propaganda. Gab es denn tatsächlich so viele sog. Corona- Parties (und was für welche), wie sie zur Begründung der Einschränkungen herangezogen wurden?
Eine andere Konfliktlinie wird im Falle Adidas deutlich – wenn von der ganzen Bevölkerung maximale Einschränkungen aus Solidarität eingefordert werden, ein milliardenschwerer Konzern sein Gewinninteresse durchsetzt – weckt es nachhaltige Ressentiments. Grundsätzliche Haltungen zur Gesellschaft  werden deutlich.

Die Verbreitungswege, die Spur der Pandemie, folgt oft den Spuren des  internationalen Tourismus, globalen Geschäftsverbindungen und Events wie Fussballmatches, die Reflexe von Rückholung und Risikomanagement sind dagegen national. Europa kommt kaum vor – Appelle richten sich an nationale Gemeinschaften der Solidarität und des Portemonnaies. Eh man sich umsah, waren Grenzen geschlossen. Was helfen dem auch offene Grenzen, der das Haus nicht verlassen  kann? Vorerst beendet ist die beschleunigte Welt der tausend Optionen, der Blick ist auf engere Fenster gerichtet.

Was auffällt:  Die eigene Gefährdung durch das Virus wird selten thematisiert, die Bedrohung eher statistisch erlebt, sie scheint mehr den Alten und ohnehin schon Kranken zu gelten. Anscheinend sieht sich kaum jemand in der digitalen Öffentlichkeit als Teil der Risikogruppe – und wenn, verlässt man sich auf die >80% mit mildem Verlauf und hofft insgeheim auf die Herdenimmunität.

Vgl. u.a.: Andreas Häckermann: Soziologisches zur Pandemie. Eine Sammlung aktueller Wortmeldungen- Soziopolis – gedankenstrich.org: Coronia- Krise und Soziologie. Blog von Jan- Felix Schrape. Yuval Harari: „Wir werden in einer anderen Welt leben, wenn die Krise vorbei ist“, Handelsblatt, 28.3.; Was die Corona Virus-Krise für Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet, Zukunftsinstitut.de.  Sondergutachten 2020: Die Gesamtwirtschaftliche Lage angesichts der Corona- Pandemie . auf Youtube: Wer #RemoteWork sagt, muss auch #NewWork sagen



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