Platform Socialism (Rez.)

Whoever controls the platforms controls the future. The simple proposal of this book is that should  be us (10). Us/Wir – ist gemeint als kollektive Selbstbestimmung. James Muldoon (Exeter, GB) entwirft Wege zu einer Demokratisierung der digitalen Infrastruktur, jenseits von  Big Tech oder Big State von der  lokalen bis hin  zur globalen Ebene.
Die ersten Kapitel sind eher eine Bestandsaufnahme des Status Quo und wie es dazu kam, in der zweiten Hälfte geht es um  die Ausformung von  Alternativen und die Vorstellung einer wünschenswerten digitalen Zukunft.

Der Titel Platform Socialism knüpft an Nick Srniceks Essayband Platform Capitalism (2016) an, der den Aufstieg der Plattformökonomie in  einen breiteren wirtschaftsgeschichtlichen Kontext gestellt hatte und das in kompakter Form vermittelte.  Die Transformationen zur Plattformökonomie sind Folge langfristiger Trends, Ergebnis eines intensiven Wettbewerbs von Unternehmen, die nach neuen Einnahmequellen suchen. Online-Aktivitäten konnten verfolgt und monetarisiert werden – ein Geschäftsmodell, das eingeführt wurde, bevor es als solches verstanden wurde (40). Weiterer Effekt ist die zunehmende Ökonomisierung gesellschaftlicher Beziehungen und Lebensbereiche.
Muldoon und Srnicek sind beide im selben Autonomy Think Tank  aktiv. Selbstbezeichnung: We develop projects, programs and proposals that support new forms of work and leisure, designing radical and pragmatic visions for the future –  an anderer Stelle: Our aim is to develop a policy agenda for this new era that moves beyond nostalgia and an outdated playbook of economic and social categories.

Auch zu Shoshana  ZuboffÜberwachungskapitalismus (2018) nimmt Muldoon Bezug, setzt sich aber deutlich von ihr ab. Zuboffs umfangreiche Kritik richtete sich v.a. gegen Google und Facebook und deren Geschäftsmodelle – freie digitale Dienste gegen die Sammlung und Verwertung von Nutzerdaten – die Abschöpfung des Verhaltensüberschusses. Gegenüber diesem Surveillance/ Überwachungs- Kapitalismus steht bei Zuboff ein advocacy- oriented Kapitalismus mit gegenseitigen Rechten und Pflichten als Gegenbild. Apple kommt dem am nächsten.
Letztlich richte sich Zuboffs Kritik allein auf werbefinanzierte Plattformen, was nach Muldoon zu der Illusion führe, es gäbe einen wünschenswerten Zustand, zu dem man zurückkehren könne.

Plattformunternehmen streben danach, Ecosysteme miteinander verbundener Dienste und Produkte zu errichten, die im Verbund Gewinn erwirtschaften:  The global platform wants to own the club, the stadium, the league and the franchise rights for advertisers (12).
Facebook (Monetising Community, 26ff) und  Airbnb (Community washing Big Tech, 43ff) – ist jeweils ein ganzes Kapitel gewidmet. Beide  werden als Meister des Community- Washing (analog zu Greenwashing) bezeichnet: sie pflegen Narrative des  Community- Building, vom Connecting the entire world zur Konstruktion von Zugehörigkeit – Belonging:  ‘It’s not enough to simply connect the world, we must also work to bring the world closer together (27). Airbnb präsentierte sich anfangs als eine Art Graswurzelbewegung von Micro- Entrepreneuren, längerfristig wirkt es invasiv in urbanen Umgebungen.
Der Text ist aktuell genug, dass Facebooks Metaverse Engagement zumindest Eingang findet. World Building (12) bekommt hier eine noch pointiertere Bedeutung für den Griff nach einem Raum ausgedehnter immersiver Erfahrungen. Physische und virtuelle Welten sollen mit einer voll funktionsfähigen Wirtschaft und der Möglichkeit der nahtlosen Übertragung von Inhalten zwischen verschiedenen Erfahrungen verschmelzen.: the Metaverse will be a place in which proper empires are invested in and built, and where these richly capitalized businesses can fully own a customer, control APIs/data, unit economics, etc.  (13)**

Take Back Control (über digitale Dienste und öffentliche Räume) – der britische Slogan zum Brexit – wäre ein anderer möglicher Titel des Buches.  Am Begriff Plattformsozialismus mögen sich manche stören, genau wie an Planwirtschaft, – zu sehr wurde Sozialismus immer wieder für weit auseinanderliegende Gesellschaftsentwürfe benutzt. In Platform Socialism geht es um ethischere, fairere Formen von Plattformen, um eine Idee und einen Prozess, generell ein Langzeit- Gegen- Hegemonielles ProjektEs geht um Alternativen jenseits privatwirtschaftlicher Oligarchien – BigTech –  und ausufernder staatlicher Bürokratien – BigState, generell jenseits von top-down. Muldoon greift einige fast vergessene Autoren der Zwischenkriegszeit, G.D.H Cole (Guild Socialism) und Otto Neurath auf (80ff), und überträgt ihre politischen und ökonomischen Modelle auf die Welt der digitalen Plattformen. Demokratische Plattformen sollen nach dem Subsidiaritätsprinzip funktionieren. Ein pluralistischer Ansatz auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene.
Sechs bedeutende Ziele werden genannt und beschrieben, es geht u.a. darum aktive Selbstverwaltung zu ermöglichen, um gleichere Verteilung des sozialen und ökonomischen Nutzens digitaler Technologien, Möglichkeiten und Vorteile der Technologien sollen weltweit zugänglich sein und emanzipatorische Prozesse gestützt werden. Die Ziele sind verwurzelt in Formen kommunaler Selbstverwaltung, wie in der Praxis von Bewegungen marginalisierter Bevölkerungsgruppen, in  Dekolonisationsprozessen. Dahinter steht die Überzeugung, dass gesellschaftlicher Wohlstand auch gesellschaftlich produziert wird. Im Kapitel Building Civic Platforms (101-118) geht Muldoon weiter ins Detail.

Geht es um Demokratisierung der Plattformen, taucht eine Frage mit Sicherheit auf:  Developing a Public Search Engine (124 ff). Eine solche ist unabdingbar für eines der zentralen Elemente aller mit dem Internet verbundenen Utopien – dem freien Zugang zum kollektiven Wissen der Menschheit. Wie soll eine öffentlich Suchmaschine geschaffen werden? Eine Software in öffentlichem Auftrag würde sich einreihen in den Marktanteil der Sonstigen, neben Ecosia oder DuckDuckGo. Googles hegemoniale Stellung steht weiterhin auf festem Boden, der  Marktanteil bei 94%. Diskutiert wird die Umwandlung in ein gemeinnütziges Unternehmen. Mehr im Kapitel Global Digital Services, 119-136.

Bisher ging es in Debatten zur Plattformökonomie oft um die Freiheit von etwas – davon, nicht überwacht zu werden (vgl. Zuboff), bei Muldoon geht es um das Recoding our Digital Future – die Gestaltung von Zukunft, in der digitale Plattformen weiterhin eine massgebliche Rolle spielen werden. Ein nachhaltiger Wandel  der Plattformökonomie ist nur mit einer fundamentalen Verschiebung der Machtbalance zwischen Eignern und Nutzern möglich.
Gefragt ist die Weiterentwicklung konkreter Utopien. Irgendwo bin ich auf den schönen Begriff des Ökonomischen Science Fiction  gestossen – der Aufbau von Digitaler Demokratie mit neuen Formen sozialen Eigentums. Es geht auch um Gegenpole zu mächtigen Kapitalinteressen und zu einem Begriff von libertär, der zu einer Vorstellung schrankenlosen Freiheit von Investoren verkommen ist. Platform Socialism – wie ich es verstanden habe – bedeutet hingegen eine kollektive Anstrengung zur Selbstbestimmung – dazu gehört die Vorstellung möglicher Zukünfte – to  imagine possible futures– die nicht von hegemonialen Strukturen bestimmt ist.
Das Buch ist übersichtlich und kompakt geschrieben (156 S.) Es ergänzt sich mit  Die Macht der Plattformen von Michael Seemann, in dem die Landnahme (bzw. Graphname) der Plattformen detailreich erklärt wird. Das Stichwort DAO – Decentralized autonomous organization –  kommt zwar nicht vor, Platform Socialism liefert aber das in diesem Feld grundlegende politische und gesellschaftliche Verständnis.
Apropos Brexit: Buchbestellungen aus Grossbritannien sind umständlich geworden – Dauer etwa 4 – 6 Wochen, Zollabgaben sind harmlos,  ärgerlich aber die vom Auslieferer erhobene Auslagenpauschale.


James Muldoon: Platform Socialism. How to Reclaim our Digital Future from Big Tech. Pluto press, London 2022.  Nick Srnicek: Platform Capitalism, Polity Press, Malden Mass. 2017, 171 S.  . Jan Gross:  Podcast Future Histories – James Muldoon on Platform Socalism. 9.01. 2022  – FAANGM = Facebook, Amazon, Apple, Netflix, Google, Microsoft. **  Matthew Ball, ‘The Metaverse: What It Is, Where to Find It, Who Will Build It, and Fortnite’  2020.

 



Was treibt die Zukunft an?

Treibt technischer Fortschritt oder gesellschaftlicher Wandel die Zukunft an? Vorstellungen von Zukunft sind genauso dem Wandel unterworfen wie andere gesellschaftliche Strömungen auch. In der längsten Zeit über die Jahrtausendwende hinaus bis in die 2010er Jahre stand die Dynamik der Digitalisierung im Vordergrund. Immer wieder sah es so aus, als treibe die technische Entwicklung Wirtschaft und Gesellschaft vor sich her. Technik schuf neue soziale, mediale, v.a. ökonomisch nutzbare Möglichkeiten. SmartPhones bündeln mittlerweile derart viele Funktionen, dass ein Leben ohne sie erhebliche Einschränkungen (bis hin zum Covid- Zertifikat) bedeutet. Kommunikations- und Kulturtechniken, die man noch vor gar nicht so langer Zeit als Zukunftsfiktion verstanden hätte,  sind längst Alltag geworden – und das weltweit. Die Welt von heute ist nicht vorstellbar ohne die Verbreitung der digitalen Techniken.
Wissenschaft ist die Grundlage von technologischem Fortschritt (Godin, 2020), zumindest in der modernen Welt. Ebenso eine Gesellschaft, die ihn in ihre materielle Zivilisation einbindet. Letztlich setzen sich Techniken nur dann durch, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen (vgl. Nassehi, 2019).

Manuel Castells(2001): Die Revolution der Informations-technologie und die Erneuerung des Kapitalismus begründeten die Netzwerkgesellschaft

Der digitale Aufbruch um die Jahrtausendwende war mit vielen Erwartungen und Vorstellungen von Zukunft verbunden.  Der Cyberspace war zunächst sphera incognita, ein Freiraum für Neues; Web 2.0 stand etwa für eine partizipatorische Netzkultur mit der konkreten Utopie  Wissen und Information für alle frei zugänglich zu machen. Zukunftsentwürfe einer fluiden  Demokratie, die in einer politischen Kultur der Offenheit und Partizipation wurzelt, wurden diskutiert – sie verschwanden aber wieder mit dem Ende der Piratenpartei.

Manuel Castells nannte in seinem drei-Bände-Werk Das Informationszeitalter (1996-98/dt. 2001) die technische Revolution der Informationstechnologie und die Erneuerung des Kapitalismus als Grundlagen der Netzwerkgesellschaft. Im damaligen Kontext bedeutete erneuerter Kapitalismus eine weitgehende Deregulierung der Märkte, v.a. der Finanzmärkte, die zum Rückgrat der Globalisierung wurden. Flexibilisierung auf vielen Ebenen, aber oft nur im Sinne von Kapitaleignern.  Ein Gegengewicht zur Globalisierung liegt in der Macht der Identität, die sich zum einen als offensive Bewegungen mit dem  Anspruch gesellschaftlicher und kultureller Umgestaltung, der Inanspruchnahme von Selbstbestimmung, wie etwa Feminismus und Umweltbewegung,  aber auch in reaktiver Form  im Namen von Nation, Religion, Familie oder Ethnizität zeigt.
Eine weitere Erneuerung bedeutete die Neubewertung von Eigenschaften wie Kreativität, Spontaneität, der Fähigkeit, Netzwerke zu bilden, wie sie in Der Neue Geist des Kapitalismus (Boltanski & Chiapello, 1999/2003),  beschrieben wurde. Sich neu konstituierende Cluster einer Creative Class, die Bedeutung eines kulturellen Umfeldes, die Anziehungskraft von Umgebungen der Vielfalt, die   Einbeziehung des Concept of Cool in die Wertschöpfungsketten sind damit verbunden.

Von der Kalifornischen Ideologie ist öfters die Rede, auch wenn sie nicht eindeutig erscheint. Gemeint ist der Glaube an das emanzipatorische  Potential der Informationsgesellschaft, wie er in der Bay Area aus der  Verschmelzung der kulturellen Boheme aus San Francisco mit den High-Tech-Industrien des Silicon Valley seit den 80er Jahren entstand. Sicher waren San Francisco und die Bay Area immer wieder Ausgangspunkte  und Nährboden von Bewegungen mit globaler Ausstrahlung: Beatniks, Hippies, Gay Liberation, Ökotopia, dazu allerlei synkretistische Lebensstile. Die moderne Supermacht des Storytellings, Hollywood, sitzt ganz in der Nähe. Allen diesen Bewegungen ist durchaus ein libertärer Geist zu eigen  – im ursprünglichen Sinne der Befreiung von Fremdbestimmung und Freisetzung menschlicher Energien.  Das Burning Man Festival in der Wüste von Nevada gilt als ein Icon der kalifornischen Ideologie, der v.a. von Apple vermarktete Digital Lifestyle wurzelt darin, die Versionsbezeichnungen aus kalifornischer Topographie (Yosemite, Big Sur, Monterey) erinnern daran.
Aktuell bezeichnet libertär eine von jeglicher Einschränkung befreite Selbstverwirklichung von oligarchischen Investoren und Milliardären, wie sie etwa von Peter Thiel verkörpert wird.

Eine entscheidende Entwicklung  im weiteren Verlauf war etwa dann, als aus dem Web 2.0 Social Media wurde: der Durchmarsch der grossen Plattformen, manchmal als Landnahme bezeichnet. Michael Seemann hat in seinem Buch Die Macht der Plattformen  diese Einnahme als Graphname beschrieben, d.h. entlang sozialer Graphen, die man  sich wie Territorien vorstellen kann: Der Social Graph stellt Beziehungen zwischen einzelnen Entitäten dar – “the global mapping of everybody and how they’re related**. Die neue Infrastruktur der  Social Media Plattformen ist seitdem weitgehend in Corporate Hands.

Utopien siedeln sich zunehmend im realen Raum an

Das Thema Zukunft boomt seit einigen Jahren.  Zukunft wurde zu einer Art Überthema, in dem sich Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitsdebatten bündeln. Aktuelle Leitbegriffe sind Zukunftsfähigkeit und Resilienz. Gemeint ist die Krisenfestigkeit von Menschen, Organisationen und ganzen Gesellschaften, und die Fähigkeit dauerhaft ohne weitere ökologische Belastung zu wirtschaften. Gegenüber früheren Zukunftsdiskussionen fällt auf, dass die aktuellen Debatten kaum von  diffusen, in die weite Zukunft gerichteten Utopien bestimmt sind. Sie sind meist sehr konkret: Es geht um neue Arbeitsformen, ob  unter dem  Label  New Work oder nicht,  um die Neugestaltung von Mobilität,  um nachhaltigen Konsum, Energieversorgung und  Ernährung.  Wohl nicht ganz zufällig hat die deutsche Ausgabe eines populären Buches zum Thema den Titel Utopien für Realisten (2016/2017). Man kann auch sagen, es geht um den sozialen Benefit der Digitalisierung.

Soweit eine Zusammenstellung, ein  Parcours durch die letzten beiden Jahrzehnte – der sich ganz sicher in der Fülle wie in den Details ausweiten und ausarbeiten lässt. Muster und Entwicklungen, eine Linie der Wechselwirkung von technischem Fortschritt und gesellschaftlichem Wandel sind erkennbar. In der langfristigeren Entwicklung werden Gegenströmungen und Ausgleichsprozesse deutlich. Unsere Zivilisation entwickelt sich in diesen Ausgleichsprozessen.  Technogenese bedeutet eine Co- Evolution von Technik und Gesellschaft. Evolution ist generell keine beabsichtigte Entwicklung. Der Begriff stammt von dem französischen Medientheoretiker  Bernard Stiegler (✝2020) in Anlehnung an Anthropogenese.
Genauso offensichtlich klingt Technogenese  an die Konzepte Sozio– und Psychogenese bei Norbert Elias an. Geht es dort um langfristige Wandlungen von Gesellschafts – und Persönlichkeitsstrukturen,  um die Herausbildung eines Habitus, kann man Technogenese als Herausformung  der jeweils spezifischen technisch/ materiellen Zivilisation verstehen.
Erwähnt sei schliesslich noch das Konzept der Sprunginnovationen. Sprunginnovationen sind solche Innovationen, die eine radikale technologische Neuerung beinhalten. Sie haben das Potenzial, bislang bekannte Techniken und Dienstleistungen bahnbrechend zu verändern und zu ersetzen.

Soweit einige Gedanken, die ich als Impulsbeitrag zur  zweiten  Staffel der Futures Lounge unter dem Motto “Was treibt die Zukunft an –  technischer Fortschritt oder Sozialer Wandel” zusammengetragen habe.

vgl.: Manuel Castells: Das Informationszeitalter, 3 Bände, dt. Ausgabe 2001 – 2003 (Orig.The Information Age: Economy, Society, and Culture 1996 – 1998); Robert V. Kozinets & Gambetti, Rossella (Eds.): Netnography Unlimited.  Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research..  2021, Routledge, New York.  Niklas Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaften, Kap. IX. Technik, S. 235 ff Michael Seemann: Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten, Berlin 2021  Werner Rammert. Technik, Handeln und Sozialstruktur: Eine Einführung in die Soziologie der Technik. 2006. Armin Nassehi: Muster \\\Theorie/// der Digitalen Gesellschaft., 9/ 2019.  Benoît Godin: The Invention of Technological Innovation: Languages, Discourses and Ideology in Historical Perspective (2020).  Rafael Laguna del Vera & Thomas Ramge: Sprunginnovation. Wie wir mit Wissenschaft und Technik die Welt wieder in Balance bekommen. Econ- Verlag, 2021; vgl auch Innovation und Gesellschaft, Über den Prozess der Digitalisierung, Rutger Bregman: Utopien für Realisten, 2016, Orig. 2014; Luc Boltanski & Ève Chiapello: Der Neue Geist des Kapitalismus  **A. Iskold, “Social Graph: Concepts and Issues,” ReadWriteWeb, September 12, 2007



Das Verschwinden der Bürgerlichen Mitte

Die neuen Sinus- Milieus,   jetzt ohne Bürgerliche Mitte – nach Klick in voller Auflösung . Sinus- Institut, Heidelberg / Berlin, 01.10.2021

Bürgerliche Mitte meint  zumeist eine Schicht, die sich auch selber als Mitte der Gesellschaft versteht:  man entspricht den Standards,  orientiert sich an  Imperativen  die soziale Anerkennung  versprechen, aber setzt man auch die Standards?
In der kürzlich (10/21) vorgestellten neuen Auflage der Sinus- Milieus kommt sie nicht mehr vor: Das Ende der Bürgerlichen Mitte wie wir sie kannten. Erodiert in auseinander strebende Bestandteile: aufstrebend ins konservativ- etablierte Milieu, absteigend in einen nostalgisch-bewahrenden Mindset, so wird es beschrieben. Die freiwerdende Lücke in der Mitte der Gesellschaft füllt ein moderner Mainstream mit dem Bindestrich- Namen Adaptiv- Pragmatisch aus – flexible Pragmatiker, die sich an einem sich wandelnden Status-Quo orientieren – wenn man damit eine Vorstellung verbindet.
Sicherlich lässt sich  eine Bürgerliche Mitte auch anders verstehen, als ein Milieu, das sich v.a. als normal verstanden hatte, von dem kaum Impulse ausgingen und dessen Lebenswelt langfristig aufgerieben wird.  Der Wegfall markiert aber einen Einschnitt, der sich auch anderswo beobachten lässt. Nachhaltigkeit, Resilienz und Diversity etablieren sich als neue  Leitwerte. Der Wandel von Werten, eine kulturelle Öffnung der Lebensformen erfasst nicht alle Milieus, als Reaktion breiten sich in manchen Kreisen Ressentiments aus. Ein vormals normativ- dominanter Habitus verschwindet.

Sinus- Milieus 2010 – noch mit Bürgerlicher Mitte

Sinus- Milieus wurden seit Beginn der 80er Jahre vom gleichnamigen Institut ausgearbeitet und bislang zu Beginn jeder Dekade neu aufgelegt. Selber bezeichnet man sich selbstbewusst als  Goldstandard der  Zielgruppensegmentation – im weiteren Umfeld sind sie als Kartoffelgraphik bekannt.
Ihre Attraktivität beziehen die Sinus-Milieus aus ihrer Anschaulichkeit. Beobachtungen aus dem Alltag lassen sich oft nachvollziehen, sie sind nah an den Lebenswelten bis hin zu den Foto- Präsentationen originaler Wohnzimmereinrichtungen. Zugrunde liegen umfangreiche qualitative und quantitative Befragungen, ethnographische Beobachtungen von Alltagsmilieus u.v.m   Es gibt wenige andere Studien, für die  ein solcher Umfang an Datenerhebung betrieben werden kann. Grundlegende Wertorientierungen gehen dabei ebenso in die Analyse ein wie Alltagseinstellungen zu Arbeit, Familie, Freizeit, Geld und Konsum (vgl. Pressemitteilung).
Verbreitung und Bedeutung der Sinus- Milieus lassen sich kaum überschätzen. Grundsätzlich ein Modell zur Visualisierung von Zielgruppen für die Marktforschung, werden sie darüber hinaus von zahllosen Organisationen,  Unternehmen, Kirchen und Parteien, auch von Poltik und Verwaltung  zur Kommunikationsplanung mit ihrer jeweiligen Klientel genutzt. Sinus- Milieus wurden für Migranten, als Digitale Milieus und auf Stadtebene (Berlin) erstellt. In Verbindung mit Geo- Daten (s. MBM- Micromarketing) werden sie  heruntergebochen bis auf Gebäudekomplexe (vgl. Düsseldorf, Berlin), verbinden Wohnadressen mit Sinus-Milieu-Wahrscheinlichkeiten. Sie lassen sich geradezu im Stadtbild besichtigen incl. der zugehörigen Geschäfte und Gastronomie. Bilder, die die Gesellschaft von sich selber hat, stimmen oft damit überein.

Sinus- Milieus als Grundlage der Gesellschaftsanalyse

Bemerkenswert ist die Entwicklung von einem Modell zur Visualisierung von Zielgruppen für die Marktforschung zu einer Kartographie der Gesellschaft.  Andreas Reckwitz Analysen zur postindustriellen Gesellschaft, insbes. einer Neuen Mittelklasse basieren auf den Kategorien der Sinus- Milieus. Reckwitz’ Neue Mittelschicht sind die  von Sinus definierten Leitmilieus – noch nicht an die Neuversion angepasst (vgl. Ende der Illusionen).  Daran ist vieles plausibel, die Herkunft der Einteilung zeigt sich aber an Kriterien wie dem valorisierten Konsum, der Ästhetisierung des Alltags, dem sich im Konsumverhalten zeigenden  „expressiven Individualismus“. Sinus-Milieus wurden letztlich zur Markt- und Konsumforschung entwickelt, sie bilden Lebensstile und davon bestimmte Konsummuster ab. Diese Neue Mittelklasse- immerhin ca. ein Drittel der Bevölkerung – gilt als kulturell, ökonomisch und politisch einflussreichste Gruppe der spätmodernen Gesellschaft. In den folgenden Diskussionen wurden sie öfters mit Neuen Eliten gleichgesetzt, mit manchen kuriosen Schlussfolgerungen.
Soziale Ungleichheit wird in den Sinus Milieus nur am Rande gestreift. Zwar fassen sie Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu „Gruppen Gleichgesinnter“ zusammen, die Zugehörigkeit  bedeutet längst nicht die Abwesenheit  sozialer Ungleichheiten.  So stellt sich die Frage, bis wohin Modelle zur Zielgruppenanalyse geeignet sind, eine gesamte Gesellschaft abzubilden, oder ob sich damit doch eher einige Klischees verfestigen.

Zwei weitere Details stechen hervor: Zum einen das Verschwinden der  Subkulturen bzw. einer sich selbst so verstehenden Gegenkultur/ Counter culture. Subkulturen hatten sich in Ablehnung einer als repressiv verstandenen Mehrheitskultur abgespalten und immer wieder neu konstituiert – hatten oft eine entscheidende Wirkung in der Erneuerung der Mehrheitsgesellschaft.
Nicht alle Milieus der neuen Mittelschicht sehen sich Werten der Nachhaltigkeit  verpflichtet, so verstehen sich  Konsumhedonisten als Teil der Neuen Mitte und als Bollwerk gegen einen übertriebenen Nachhaltigkeits-Hype.

„Deutschland im Umbruch . SINUS -Institut stellt aktuelles Gesellschaftsmodell vor: Die Sinus -Milieus® 2021“ (01.10.2021) Heidelberg / Berlin
Nils C. Kumkar & Uwe Schimank: Drei-Klassen-Gesellschaft? Bruch? Konfrontation? Eine Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz’ Diagnose der »Spätmoderne« Leviathan, 49. Jg., S. 7-32, 2021. Bertram Barth, Berthold Bodo Flaig, Norbert Schäuble, Manfred Tautscher: Praxis der Sinus-Milieus®: Gegenwart und Zukunft eines modernen Gesellschafts- und Zielgruppenmodells. 2018



Krisen und der Zukunftsdiskurs – #Corona #Klima

Ist Corona ausgestanden? Bild: Guido Hoffmann. unsplash.com

Ob Corona im Herbst 2021  ausgestanden ist, lässt sich noch nicht abschliessend sagen. Manches spricht dafür und mit der Impfkampagne  sind die spürbarsten Einschränkungen aus dem Alltag verschwunden.
Gesellschaftliche Folgen bzw. Auswirkungen lassen sich aber resumieren, zumindest  einschätzen – nach gut anderthalb Jahren ist die Zeit dazu, Schlüsse zu ziehen. Übrigens auch auf der subjektiven Ebene der Empfindungen, wie ein Blick in die literarischen Neuerscheinungen in den Auslagen der Buchhandlungen zeigt.

Corona- Erfahrungen – nach Klick in voller Auflösung auf neuer Seie

Gleich zweimal wurden die Zukunftsannahmen aus den 2017 vorgestellten Szenarien von D 2030 auf ihre Gültigkeit überprüft.  Zu Beginn der Pandemie und im Sommer 2021. Die letzten Auswertungen waren im September abgeschlossen. Grundlegende Fragestellung war Wie weit hat die Pandemie unsere Zukunftserwartungen beeinflusst?
Bei den Befragten zeigt sich ein deutlicher Wunsch nach einer Nachhaltigen Transformation (25) – bzw. der positiven Zukunftserwartung der Neue Horizonte – Szenarien. Im Vergleich zur frühen Phase der Pandemie fielen die Einschätzungen im Sommer 2021 dazu pessimistischer aus. Erlebt wurde oft eine schnelle Rückkehr zu alten Routinen, einer (manchmal) hohen staatlichen Lösungskompetenz steht ein Mangel an Teilhabe gegenüber. Deutlich werden Wertekonflikte zwischen  konträren Positionen, wie etwa Digitalisierungsschub vs. Mangelhafte Digitalisierung; Corona hat Veränderungsfähigkeit gezeigt vs. Corona hat Beharrungstendenzen aufgezeigt (4).
Zu den zentralen Erfahrungen der Pandemie zählt, dass Ereignisse, die  gesellschaftliche Änderungen in großem Maßstab zu Folge haben jederzeit möglich sind. Wer hätte etwa 2019 einen Lockdown für möglich gehalten? Erlebt wurden die Chancen, manchmal auch die Grenzen der Digitalisierung: flexibles, mobiles Arbeiten, Online- Konferenzen, die Mobilität einsparen, der Boom des Online- Handels. Andere Auswirkungen treffen unterschiedlich hart: ein Lockdown im Haus mit Garten wird anders erlebt als in beengten Verhältnissen. Das soziale Leben wurde erschüttert, incl. der damit verbundenen Branchen: Kunst und Kultur in ihren Live- Events, Gastronomie, Tourismus.
Übereinstimmung herrscht in zwei Punkten: 1. Die Klimakrise war zwar zwischenzeitlich in den Hintergrund gedrängt, wird aber das beherrschende Thema der PostCoronaZeit sein. 2. Die Veränderung der Arbeitswelt ist durch Corona beschleunigt worden. Hier wird sich eine Neue Normalität einstellen. — Bildung, Klima und Nachhaltigkeit, Soziale Gerechtigkeit, Partizipation, aber auch Deutschlands geopolitische Rolle werden als vordringliche Themen eines öffentlichen Zukunftsdiskurses genannt.  Soweit ein zusammenfassender Einblick, mehr im Ergebnisdokument CoronaStresstest 2 .

Armin Nassehi war als Mitglied der Leopoldina-Expertengruppe während der Pandemie der wohl medienpräsenteste Soziologe und  äusserte sich in verschiedenen Phasen der Krise dazu, wie Corona unsere Gesellschaft verändert. Seine Positonen standen immer wieder im Gegensatz zu den  Haltungen, die in der Krise die Chance zur Veränderung sehen: «Gesellschaften sind träge, sie ändern sich in und nach Katastrophen nicht grundlegend. Die Routinen werden sehr schnell wiederkommen, wenn diese Krise vorbei oder zumindest leichter beherrschbar ist» meinte er im April 20 in der NZZ – und das trifft seine Haltung ziemlich gut.
In seinem neuen Buch Unbehagen- Theorie der überforderten Gesellschaft (9/21) ist die Pandemie nicht direkt das Thema, sondern neben der Klimakrise – aufs allgemeingültige herausgehoben – Referenzkrise.  Nassehis Blick darauf ist theoriegeleitet, das heisst bei ihm systemtheoretisch.  Der Gegensatz Sachdimension vs Sozialdimension  (vgl. 106-109) zieht sich durch die Argumentationen. Die Sozialdimension erzeugt eine Art Überzeitigkeit des Gemeinsamen,  die Sachdimension eine Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem (123). Sozialdimension beschreibt Gesellschaft als integrierte oder integrierbare Einheit von Kollektiven, ihre Öffentlichkeit als Arena aufeinandertreffender Strömungen. Ordnungsaufbau findet über die Sachdimension statt, dem System unterschiedlicher sachlicher Bedürfnisse und Interessen, der Eigendynamik  der Funktionssysteme Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Recht  und zahlreichen anderen Teilbereichen der Gesellschaft. Funktionssysteme reagieren entsprechend ihrer eigenen Logik.
Nassehis grundlegendes Thema ist die Frage, warum Gesellschaften darin scheitern, wenn sie sich kollektiv verändern wollen. Die Eigendynamiken von technisch aufgerüstetem Wirtschaftssystem, auf Gleichheitsversprechen und Inklusion ausgerichtetem Rechtssystem, flächendeckendem Bildungssystem, das sowohl ungleiche Positionen zuweist als auch Aufstiegschancen moderieren kann, Mediensystem etc. entzieht sich zentraler Koordination (312). In der Gesellschaft bilden sich Handlungsmöglichkeiten daraus.
Krisen unterbrechen den Ablauf des Gewohnten, es gibt für sie keine Routinen. Krisen sind disruptiv, gesellschaftliche Veränderung verläuft aber evolutionär.  Zu erreichen ist sie über die Veränderung von Organisationsroutinen.
Nassehis Buch enthält zahllose Beobachtungen, Beschreibungen und Detailanalysen, und auch einige abschliessende Erfahrungen, die Erkenntnisse in der (Post-) Corona- Diskussion vermitteln, aber es ist sicher nicht lösungsorientiert im Sinne eines Transformativen Zukunftsdiskurses. Das war aber auch von vornherein klar.

In der ersten Phase der Pandemie beeindruckte v.a. die Akzeptanz und das Tempo der Durchsetzung von Home-Office und digitaler Kommunikation. Home Office setzte den Pendlercircuit zumindest temporär aus – damit einen bedeutenden Teil des Mobilitätsaufkommens. Die Graphik links zeigt eindrucksvoll den steilen Rückgang im  Frühjahr 2020.  Ein Ereignis gesellschaftlicher (incl. staatlicher) Einhelligkeit. Die späteren Lockdowns im Winterhalbjahr 20/21 bilden sich deutlich schwächer ab – sie pendelten sich     spätestens in der zweiten Hälfte des  Sommers 2021 wieder auf das Niveau der Zeit vor Corona ein. Etwas anders entwickelte sich die Mobilität auf kürzeren Distanzen (<5km) die bis dahin  weniger zurückgegangen war.
Noch deutlicher lässt sich dieselbe Entwicklung  an der nebenstehenden Übersicht zum Verkehr auf Autobahnen sehen: Der markante (disruptive?) Knick im April 20, die leichte Abschwächung zum Jahresende und die Annäherung an die Prä- Covid Ära  bis zum Sommer 2021.
V.a. am Rückgang der Pendlermobilität und den Möglichkeiten der dezentralen Arbeit/Remote Office hatten sich Erwartungen eines mit der Krise beschleunigenden Wandels festgemacht. Entsprechend enttäuschend wird diese Entwicklung wahrgenommen, gesellschaftliche Lernschleifen werden nicht gesehen. Reaktionen auf die Pandemie allein machen keine Transformation, das Modell des örtlich (und zeitlich) gebundenen Arbeitsplatzes mit Pendelverkehr bleibt bestehen. Ein wesentlicher Schlüssel zu einer Verkehrswende liegt in der Arbeitsorganisation.

Corona- Krise und Klimakrise werden zwar oft nebeneinander gestellt, unterscheiden sich aber grundlegend. Corona brach plötzlich in eine globalisierte, funktionsteilig organisierte Welt ein und man wusste wenig davon.  Die Sachzusammenhänge der Klimakrise (+ Folgen der Zerstörung von Lebensräumen, wie das Artensterben) sind seit langem bekannt. Die Klimakrise ist menschengemachte Folge gesellschaftlichen bzw. wirtschaftlich- industriellen Handelns und sie hat dystopisches Potential. Wenn man es so ausdrücken will: Entfesselte Funktionssysteme. Von einem Krisenmanagement ist zu erwarten, sie einzuschränken. Wie, ist die Aufgabe eines Transformativen Zukunftsdiskurses. Demokratische Gesellschaften  sind nicht zu führen wie Organisationen.

Deutschland 2030+: Corona Stresstest 2 – Ergebnisse.  – Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. 9/ 2021 384 S. –Interview mit Armin Nassehi: Wie verändert Corona unsere Gesellschaft?  12.07.21.  Untere Graphiken aus:  Statistisches Bundesamt: Mobilitätsindikatoren auf Basis von Mobilfunkdaten.  und Bundesanstalt für Strassenwesen: Verkehrsbarometer: Monatliche Entwicklungen des Strassenverkehrs 2020/2021.  Ifo- Institut: Home Office im Verlauf der Corona- Pandemie.   Juli 2021—
Zu den Graphiken: (obere): Veränderung der Mobilität 1/20 bis 9/21 nach Distanz- nach Klick in voller Grösse auf neuer Seite. Quelle: Statistisches Bundesamt; (untere: Monatliche Entwicklungen des Straßenverkehrs auf Bundesfernstraßen und Auswirkungen der Corona-Pandemie. Verkehrsbarometer).



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