2023 – Was geht voran?

»Zeitenwende«  wurde zum Wort des Jahres 2022 – das Kanzlerwort bezog sich auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, den Bruch der bestehenden Friedensordnung. Im weiteren auf dessen Folgen und Konsequenzen: Energiekrise und Inflation, aber auch eine Neuausrichtung der deutschen Wirtschafts- und Energiepolitik.
In den Vorjahren hatte Corona fast alles andere überschattet. Corona ist  zwar nicht  vorbei, aber in Folge der Impfkampagnen entschärft.  Dennoch bleiben die Spuren und Erfahrungen. Klima- und andere Umweltkrisen waren nicht unterbrochen, sind aber 2022 wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gestossen.
So stehen zum Jahreswechsel 2022/23 Krisen im Vordergrund. Krisen, die nicht abstrakt im Hintergrund stehen, sondern auf individueller wie kollektiver Ebene erfahren werden – man spricht von multiplen Krisen, auch eine neue Wortschöpfung tritt auf: Stapelkrise.

Die Krisen trafen auf eine vielfach durchgetaktete und optimierte digitale Consumer Culture. So durchgetaktet, dass sich selbst kleinere Störungen in Lieferketten schnell bemerkbar machen. Jedenfalls ist die Welt eine andere, als sie es vor etwa drei Jahren war. Krise bedeutet die Abwesenheit stabiler Zustände, die kommenden Jahre scheinen wenig klar – eine Gelegenheit für einen  Blick zurück und nach vorn: Welche Zeit geht zuende und was treibt eine neue an?

Plattform nach dem Social Graph Bild: mburpee/flickr.com

Im Blick zurück war das vorhergehende Jahrzehnt, nicht ganz exakt die 10er Jahre,  geprägt von der rasanten Verbreitung des mobilen Internet, von Social Media, der Landnahme der GAFAM-Konzerne und der Verbreitung einer digitalen Consumer Culture.
Landnahme bedeutet die Einnahme von oft  bereits bestehenden Beziehungsnetzwerken bzw. Interaktionszusammenhängen entlang sozialer Graphen durch  Plattformunternehmen. Zusammenhänge, die bereits bestanden, denen bis dahin aber wenig Bedeutung zukam (mehr dazu, vgl. Seemann:  Die Macht der Plattformen). Der wesentlichste Kritikpunkt ist die umfangreiche Sammlung persönlicher Daten durch Plattformunternehmen.
SmartPhone und mobiles Netz verbreiteten sich so schnell und in solcher Breite, wie selten eine Technologie zuvor – und das weltweit.   Sie bündelten Funktionen, die bereits vorhanden waren: Telephonie, Internet, Fotografie & Video, Tracking etc. Social Media gaben den Raum für performative Selbstentfaltung – ein Merkmal der Spätmoderne.
Mittlerweile gibt es Social Media schon mehr als ein Jahrzehnt – Facebook hat sich umbenannt, Twitter gerät ins Trudeln. Geht ihre Zeit  und mit ihnen auch die der Mega – CEOs, den Superstars aus der digitalen Wirtschaft, vorüber? Instagram und LinkedIn stehen allerdings in ihrer Blüte, will man unsere Gegenwart beschreiben, kann man gleich dort  anfangen.
Machen nun neue Technologien den Trend – oder wird Digitalisierung von der  treibenden zur dienenden Technik? Jede technologische Entscheidung hat entsprechende, oft weitreichende Veränderungen zu Folge.

Metaverse und Web3  werden oft in einem Zug als Zukunftstechnologien, als neue Stufen der digitalen  Evolution genannt, so waren sie auch gemeinsam Gegenstand einer Anhörung im Bundestag am 14.12. Ansonsten sind es zwei völlig voneinander unabhängige Entwürfe. Beide sind zudem mit wirkmächtigen Erzählungen/ Narrativen verknüpft, die ihre Popularität stützen. Der Hype ums Metaverse (mehrfach Thema im Blog) währt nun etwas mehr als ein Jahr – ausgelöst mit der Umbenennung von Facebook zu Meta.
Matthew Ball, Protagonist und Investor, hat vor einigen Monaten ein Standardwerk vorgelegt, das sich als Guide zum Thema nutzen lässt,  incl. allgemein akzeptierter Definitionen. Finale Vorstellung bleibt ein zusammenwachsender Raum aus virtueller und physischer Realität – im besten Falle ein Collective Virtual Open Space – ein solcher Raum würde tatsächlich Revoluzionize Everything (Ball). Es könnte vieles sein, von einem gigantischen Disneyland zum Common Meeting Ground einer Weltgesellschaft.
Für jeden, der sich neu mit dem Thema befasst, ist es zunächst verwirrend, dass so intensiv über etwas diskutiert wird, was es (noch) nicht gibt. In der Diskussion wird Metaverse oft mit XR/Extended Reality zusammengeworfen. Nicht ganz falsch, immerhin ist es die Technologie, die ein Metaverse erst ermöglicht. Immersive Techniken (Oberbegriff zu AR/VR/Mixed Reality) sind eine aufstrebende Branche, die immer mehr Anwendungsfelder findet. 

Web3 – nicht zu verwechseln mit Web 3.0, dem semantischen Web,  basiert auf der Blockchain- Technologie, einem gemeinsam geführten Register für die Aufzeichnung von Transaktionen. Web3 ist verbunden mit  Kryptowährungen, Smart Contracts und NFTs (non-fungible tokens/ virtuelle Originale).  Wesentliches Pro- Argument war immer die dezentrale Orgnisation, im Gegensatz zu dem von grossen Konzernen beherrschten Web2.
Kritik richtete sich v.a. auf den überdimensionalen Energieverbrauch. In der Anhörung fiel die Kritik noch stärker – harsch bis vernichtend – aus: Als unregulierte Finanzprodukte  seien Kryptowährungen v.a.  zur Steuerhinterziehung und den Handel mit illegalen Waren geeignet.  Protagonisten von Web3 argumentieren, dass Web3 das Internet demokratischer, freier, dezentraler, zensurresistenter mache. Mit Zensur seien v.a. Regulierungsauflagen gemeint. Geschäfts- und Governance-Prozesse könnten keinesfalls auf eine Plattform ausgelagert werden, die dafür gebaut ist, Regulierung zu unterlaufen. **
Web3 rückt  demnach in die Nähe libertärer Ideologien + Begünstigung krimineller Geschäfte – hinter einer Rhetorik von Dezentralität und Freiheitlichkeit. Libertär bedeutete einst einen radikal- heroischen Bruch mit gesellschaftlichen Zwängen, heute wird damit (u.a.) die schrankenlose, anarcho- kapitalistische  Selbstentfaltung  von Oligarchen verbunden.

Einschränkungsflanke jeden technischen Fortschritts ist die Versorgung mit möglichst emissionsfreier Energie –  darüber hinaus ist der Erhalt der natürlichen Ressourcen, von Klima, Artenvielhalt u.v.m. die grosse Einschränkungsflanke aller Zukunftsvisionen und der gesamten menschlichen Zivilisation. Etliche frühere Zivilisationen sind am Verlust naürlicher Ressourcen zu Grunde gegangen – unsere heutige Zivilisation ist aber global, Bewahrung der Ressourcen die grosse gesellschaftliche Herausforderung.
Für Strategien, die diese Voraussetzungen berücksichtigen, sei der Report  Digital Reset. Für eine grundlegende Neuausrichtung von Technologien für die sozial-ökologische Transformation  genannt – der von einem Europäischen Expertenpanel ausgearbeitet wurde. Es geht um die Ausrichtung von Digitalisierung auf Nachhaltigkeit, die dann in zehn Leitsternen als Empfehlungen für einen digitalen Reset vorgestellt wird. Politik wird als Primat  digitalen Innovationen vorangestellt. Letztere stehen somit in einer dienenden Funktion.
Philipp Staab, einer der Beteiligiten, hatte kürzlich in Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft Anpassung als neue gesellschaftliche Strategie beschrieben – ich stimme nicht ganz damit überein (s. Rezension). Man kann jetzt noch die Arbeiten von Bruno Latour heranstellen – später mal …

**vgl.: Jürgen Geuter (tante@tante.cc) : Antworten zur Öffentlichen Anhörung “Web 3.0 und Metaverse” am Mittwoch, 14.12.2022 –  S02E34 – zu Crypto-Imaginaries und alternativen technologischen Infrastrukturen  in: Jan Groos: Future HistoriesDer Podcast zur Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft. Digital Reset. Redirecting Technology for the deep Sustainability Transformation. Technische Universität Berlin, Fachgebiet Sozial-ökologische Transformation: (10/2022)

 



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